„Deutsche Staatsraison gegen Demokratie“

25.05.2013
2. Stuttgarter Palästinakonferenz gibt Startschuss für deutsche Bewegung für einen gemeinsamen demokratischen Staat in Palästina
von Wilhelm Langthaler
Mehr als 300 Menschen fanden sich vom 10.-12. Mai im süddeutschen Stuttgart zu einer Konferenz ein, die im Untertitel eine sehr ambitionierte Zielsetzung proklamierte: „Für einen säkularen, demokratischen Staat für alle seine Bürger“. In ihrer Eröffnungsrede brachte die streitbare Tochter des verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Evelyn Hecht-Galinski, die moralische Empörung auf den Punkt, die eine so außergewöhnlich große Zahl an Menschen zu mobilisieren vermochte: es muss endlich anerkannt werden, dass auch die Palästinenser Opfer der deutschen Geschichte sind!

Entgegen der praktisch zu 100% gleichgeschalteten veröffentlichten Meinung, will die Mehrheit der Deutschen sich nicht des Missbrauchs des Holocaust schuldig machen, der in ihrem Namen betrieben wird. Kanzlerin Merkel hat die unverbrüchliche Unterstützung Israels durch die BRD zur Staatsraison erhoben – ohne Rücksicht auf Gesetz, Moral und Demokratie, denn etwas anderes kann dieser amtliche Verweis nicht bedeuten, wie Ian Portman vom organisierenden Stuttgarter Palästinakomitee (Pako) ausführte. Würde man sich im Gegensatz dazu auf die so viel beschworenen antifaschistischen Werte, auf die in den universalen Menschenrechten kondensierten Lehren aus den Verbrechen der Nazis beziehen, müsste man den zionistischen Kolonialismus bekämpfen, der den Palästinensern diese Rechte systematisch verweigert. Als Ilan Pappe, der bekannte israelische Historiker, schließlich ausrief: „Wiedergutmachung heißt heute den Palästinensern helfen!“, wollte der Applaus nicht enden. Von einem Juden wurde das gesagt, was die deutsche Mehrheit denkt, was aber der Staatsraison wegen nicht ausgesprochen werden darf.

Das erklärt warum eine oppositionelle Veranstaltung (unter weitgehender Abwesenheit der Medien) mehr Menschen anzuziehen vermag, als Volontäre der diversen deutschen Regimekräfte zuwege bringen würden (selbst mit der geballten Macht ihrer Medien). Daran ist der große Erfolg der 2. Stuttgarter Konferenz zu bemessen.

Joseph Massad, ein US-Professor mit palästinensischen Wurzeln, ging in seiner viel beachteten Rede noch weiter und schockierte das Publikum. (Al Jazeera, für dessen Website Massad regelmäßig schreibt, nahm die Abschrift unter Druck vom Netz, um ihn später aufgrund der Proteste wieder online zu stellen – samt Entschuldigung.) 1 Für ihn ist der Zionismus ein Ausdruck weißen Rassismus und durch die systematische Kooperation mit dem Antisemitismus selbst hochgradig antisemitisch. Massad untermauert das mit zahlreichen historischen Belegen, unter anderen ein erhellendes Detail: Der Holocaust konnte als Legitimation für Israel erst wirksam werden, nachdem die amerikanische Kulturindustrie die Opfer von dunklen Ostjuden zu weißen Mittelstandseuropäern erhoben hatte.

Denn die Auslöschung der Anderen, der Eingeborenen, seien es nun Indianer, Aborigines, Ostjuden oder Palästinenser, reicht zu nicht mehr als einer bedauernden Randnotiz am Weg des Fortschritts, die Vernichtung von weißen Europäern aber ist Inbegriff des Bösen, das mit nichts verglichen werden darf. Schafft man es sich als Abwehrkämpfer gegen dieses überhistorisch absolut Negative darzustellen, dann ist jedes Mittel recht.

Zwei Staaten als Behübschung des Zionismus

Mittlerweise kann niemand mehr leugnen, dass Israel keinen palästinensischen Staat, der diesen Namen wert wäre, zulassen will und niemals wollte. Der Hinweis auf die systematisch fortgesetzte zionistische Landnahme reicht dazu aus. (Auf der Konferenz besorgte das in eindrucksvoller Weise die junge Rechtsanwältin Haneen Naamnih aus Jerusalem am Beispiel der Beduinen des Naqab/Negev.) 2Das einzige, was Israel will, sind Bantustans, Eingeborenen-Reservate, die möglichst den Namen Palästinenser-Staat tragen sollen. Damit kann eine Scheinparität hergestellt werden, die die fortgesetzte zionistische Herrschaft zu verschleiern sucht – ganz nach dem Vorbild der südafrikanischen Apartheid.

Genau dieses „Paradigma der Parität“ attackierte Ilan Pappe, denn es verstellt die Sicht auf die strukturelle Ungleichheit, auf die Tatsache des Gegensatzes von Kolonisten und Kolonisierten, von Unterdrückern und Unterdrückten. Pappe wies darauf hin, dass die Zweistaatenlösung eine rein zionistische Erfindung sei, um das koloniale Prinzip des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert an eine Welt zu verkaufen, die nach Demokratie verlangt und im 20. Jahrhundert bittere Erfahrungen mit dem Nationalismus gemacht hat. Er rief dazu auf, diese Ungleichheit in der Realität auch in der Sprache wiederzugeben.

Einig war man sich, dass einzig die Palästinenser über ihr Schicksal zu entscheiden haben. Doch dieses Argument kann nicht gegen den demokratischen Staat in Stellung gebracht werden, wie das oft versucht wird. Denn dieser garantiert alle elementaren Menschenrechte einschließlich demokratischer Selbstbestimmung und Rückkehr. Es ist die einzige Lösung, die mit dem Kolonialismus aufräumt. Zwei Staaten indes zwängten den Palästinensern die Anerkennung der zionistischen Landnahme und Apartheid, sowie den Verzicht auf das Recht auf Rückkehr auf.

So sehr die Zweistaatenlösung an öffentlicher Legitimität verliert und sich ein gemeinsamer demokratischer Staat aufdrängt sowie zunehmend und allenthalben Anhänger findet, so darf nicht übersehen werden, dass der globale Herrschaftsapparat geführt von Washington weiterhin geschlossen hinter dieser Fiktion und damit hinter Israel steht. Oftmals wird der Vergleich mit der südafrikanischen Apartheid verwendet, die durch den Boykott gefallen ist. So richtig das ist und so sehr die Solidaritätsbewegung als Vorbild dienen soll, so wenig darf darauf vergessen werden, dass es ein äußeres Ereignis gab, dass es den USA erlaubte, die weißen Rassisten als Verbündete fallen zu lassen, nämlich der Zerfall der Sowjetunion. Pappe meinte, dass man die zionistische Apartheid wohl ohne ein solch großes historisches Ereignis auch nicht los werden würde – doch welches das sein werde, müsse man der Spontaneität der Geschichte überlassen.

Kräfteverhältnisse

Bei den Debatten schwingt das oft zu vernehmende Argument mit, nach dem ein gemeinsamer demokratischer Staat zwar vernünftig sein mag, aber nicht realistisch wäre. Die unmittelbare und plausible Antwort, dass zwei Staaten sich als unrealistisch erwiesen haben, lässt indes wenig Hoffnung aufkommen.

Yoav Bar, einer der Initiatoren der Haifa-Konferenzen für einen gemeinsamen demokratischen Staat und global einer der zentralen Koordinatoren der Bewegung, deutete auf die Veränderung der globalen Kräfteverhältnisse. Die USA haben wichtige Kriege verloren und die globale Peripherie, insbesondere Asien, hat stark an Bedeutung gewonnen. Nicht zuletzt trägt die kapitalistische Krise zur Schwächung des westlichen Zentrums, der Hauptstütze Israels, bei.

In praktischen allen Teilen der Welt von Lateinamerika, über Afrika bis Asien weichte die USA nach dem Niedergang der UdSSR ihre Diktaturen auf und ließ mehr Demokratie zu, nicht immer zu ihrem Nachteil. Eine hartnäckige Ausnahme zu diesem Trend gab es allerdings: den Nahen Osten. Dort bestärkte man die härtesten Tyrannen – zum Schutze Israels und des Erdöls. Doch die Region kann dauerhaft von den Veränderungen nicht abgeschottet werden. Die Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten stehen nach Bar im Zentrum der arabischen Bewegungen oder – wie es Pappe ausdrückte –, sie entsprächen dem globalen Zeitgeist. 3 Das erhöht den Druck auf Israel und verschafft der Forderung nach Selbstbestimmung auch für die Palästinenser in Form des gemeinsamen Staates immer mehr Konsens – selbst unter Juden und sogar in Israel. Der Aufruf Hecht-Galinskis an die Juden in aller Welt stößt also nicht auf völlig taube Ohren: „Wenn wir Israel nicht kritisieren, machen wir uns der israelischen Verbrechen mitschuldig.“

Ilan Pappe dachte sogar laut über eine Plattform für einen gemeinsamen demokratischen Staat, die bei Wahlen antreten könnte, nach. Er rief auch dazu auf, die Apartheid durch den Aufbau eines gemeinsamen Alltagslebens von Juden und Arabern auszuweichen. Ghada Karmi, eine bekannte britisch-palästinensische Akademikerin und Autoren rief die Palästinenser sogar dazu auf, massenhaft die israelische Staatsbürgerschaft einzufordern. Gegen diese Aufweichungen der Anti-Normalisierungshaltung gab es teils lautstarke Proteste, insbesondere vom Hauptorganisator der Konferenz, Attia Rajab.

Leerstelle politischer Islam

Professor Asaad Abu Khalil, der Betreiber des querdenkerischen Blogs Angry Arab, sollte laut Programm über den politischen Islam in Bezug auf den palästinensischen Befreiungskampf sprechen. Allein, er beschränkte sich auf eiskalte Andeutungen wie jene vom „arabischen Winter“, der vom Autor widersprochen wurde: Die Volksrevolten sind der Beginn eines langen und widersprüchlichen Prozesses, der die Dominanz des Westens einschränkt.

Dabei war es bei allen bisherigen Initiativen für einen demokratischen Staat immer wieder zu Diskussionen gekommen, wie an den politischen Islam heranzugehen sei. Dabei war der Autor selbst, gemeinsam mit Yoav Bar und vielen anderen wie Karmi, vehement dafür eingetreten, einen Schritt auf die islamische Bewegung zuzugehen, sie offensiv einzuladen und auf das ausschließende Epithet „säkular“ zu verzichten. Denn wie die arabische Volksrevolte gezeigt hat, ist die überwiegende Mehrheit der Muslime bis hinein in den islamistischen Bereich für Demokratie, während Säkularismus für sie ein Feindbild bleibt. Da mag ein Widerspruch eingeschlossen sein, denn Demokratie enthält organisch ein gewisses Maß an Säkularität, auch wenn nicht notwendigerweise in der französisch-antiklerikalen Form. Doch das wäre ein wichtiges Diskussionsthema mit der islamischen Bewegung, bei der die Demokraten die denkbar besten Karten hätten. Ohne zumindest mit einem Teil der islamisch geprägten Volksmassen im Bündnis zu stehen, wird es weder möglich sein in der arabischen Welt demokratischere Verhältnisse zu erkämpfen, noch einen demokratischen Staat in Palästina zu errichten.

„Der Widerstand gegen den Kolonialismus wird in der Region nicht von Che Guevara, sondern von Muslimen geführt.“ Das müsste die europäische Palästina-Solidaritätsbewegung verstehen, meinte Pappe.

Nächster Schritt

Die 1. Stuttgarter Konferenz 2010 hatte das massive Eis gegen die Idee des gemeinsamen demokratischen Staates gebrochen. Doch noch war das Pflänzchen zu zart, um Wurzeln schlagen zu können. Außer den Organisatoren und der mutigen Galionsfigur Hecht-Galinski getraute sich bisher niemand öffentlich dafür aufzutreten, denn der Rufmord war sicher.

Als Hermann Dierkes, auch ein Redner, von der Linken Duisburg 2011 öffentlich für den Boykott Israels auftrat, wurde er von der gesamten Republik einschließlich seiner eigenen Partei gesteinigt. Ihm wurde sogar die Ehre zuteil, vom amerikanischen Wiesenthal-Center in die Top10 der gefährlichsten Antisemiten aufgenommen zu werden. Doch er widerrief nicht und verteidigte seine antifaschistische Haltung. Je mehr mit der antisemitischen Keule geschlagen und sie sogar zur Staatsraison erhoben wird, desto mehr nutzt sie sich ab und verliert an Glaubwürdigkeit.

Die Zeit ist nun reif auch für Deutschland und den ganzen deutschsprachigen Raum ein Personenkomitee für einen gemeinsamen demokratischen Staat zu gründen. Ihm kommt die schwere Aufgabe zu die antifaschistische Fahne, die nicht von den Neonazis niedergerissen, sondern vom liberal-kapitalistischen deutschen Staat für das neoimperiale Projekt an der Seite der USA pervertiert wurde, neu aufzurichten. Attia Rajab vom Pako rief am Ende der erfolgreichen Konferenz zu einem diesbezüglichen Treffen im kommenden Herbst auf.

Wien, Ende Mai 2013

Verweise