„Lassen wir ihnen den lieben Gott hinter den Wolken“

09.10.2017
Von Michael Wengraf
Ein Plädoyer für die Verteidigung der Gewissensfreiheit durch die radikale Linke

Die hierorts so beharrlich betriebene Verknüpfung von Islam und Terrorismus ist ein funktionelles Konstrukt. Sie dient vor allem dazu, die momentan einzig erwähnenswerte – wenn auch untaugliche – Gegenwelt zur globalen kapitalistischen „One World“ zu punzieren. Im Narrativ über den Kampf von „Gut gegen Böse“ soll die rechte Gewichtung geschaffen und der „Feind aller Menschlichkeit“ plakativ und für alle erkenntlich zur Schau gestellt werden. Propagandistisch geschickt mit in den Fokus gerückt wird dabei immer wieder die sogenannte „Rückständigkeit“ des Islam, die als Gegenpol zu einem „fortschrittlich-liberalen und säkularen Abendland fungiert.

Bequemerweise für die Eliten geht das einher mit der Einschränkung von bürgerlicher Freiheit; konkret sind das jene des Gewissens und jene der Meinung. Das erfordert Widerstand. Weil die radikalen Linken die konsequentesten Demokraten sind, müssen gerade sie – quasi als letzte Bastion der „Citoyens“ – die bürgerlichen Werte kompromisslos verteidigen. Was heißt das für die gegenwärtige Auseinandersetzung? Es bedeutet vor allem ein kompromissloses Eintreten für Religionsfreiheit. Und zwar ebenso hartnäckig wie Lenin damals, zu Zeiten der Oktoberrevolution, vehement für das nationale Selbstbestimmungsrecht plädierte
Karl Marx formulierte diesbezüglich eindeutig: „Jeder muß seine religiöse wie seine leibliche Notdurft verrichten können, ohne daß die Polizei ihre Nase hineinsteckt.“1 Das gilt nun selbst unter der Voraussetzung, dass die Religion nur “eine Art geistigen Fusels“, ist, „in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen“2 wie Lenin es einmal ausdrückte. Und: Im Kampf gegen den Fusel nutzt, wie alle Erfahrung lehrt, die Prohibition nicht viel.

Freilich war Marx, trotz dieses obigen Bekenntnisses, die Beschränktheit der bürgerlichen Gewissensfreiheit bewusst; ebenso wie die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Er meinte: „Aber die Arbeiterpartei mußte doch bei dieser Gelegenheit ihr Bewußtsein darüber aussprechen, daß die bürgerliche ‚Gewissensfreiheit‘ nichts ist außer der Duldung aller möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit, und daß sie vielmehr die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien strebt.“3

Der Standpunkt von Marx lässt sich also wie folgt zusammenfassen: Ja, jedwede prinzipielle Freiheit für die religiöse Notdurft der solcherart Bedürftigen, aber eben plus einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem diesbezüglichen Spuk. Außerdem meint er: Verteidigung der Gewissensfreiheit bei gleichzeitigem Wissen über deren enge bürgerlichen Grenzen.

Davon kann heute in der Linken allerdings kaum noch die Rede sein. Die Verteidigung der demokratischen Werte liegt der korrekten Zivilgesellschaft ebenso wenig am Herzen wie wirklich weltanschaulich fundierte Kritik. Allen derzeit üblichen ideologische Verbrämungen gleich, geschieht auch die gegen den Islam gerichtete mit einem oberflächlichen „linken“ Anstrich. Säkularisierung und Atheismus, beides enorm wichtige Momente in der Geschichte fortschrittlicher Bewegungen, bilden ebenso wie die Frauenrechte angeblich wesentliche Bestandteile der diesbezüglich verbreiteten Hintergrunderzählung. Aber kann es nun wirklich darum gehen, religiöse Manifestationen – Stichwort Ganzkörperverschleierung – im Namen des Fortschritts und Feminismus per Dekret zu verbieten?

Schon Marx und Engels hatten für diesbezügliche administrative Handwerkelei nur Spott über: „Und diese Forderung die Leute per ordre du Mufti in Atheisten zu verwandeln, ist unterzeichnet von zwei Mitgliedern der Kommune, die doch wahrlich Gelegenheit genug hatten, zu erfahren, dass erstens man ungeheuer viel auf dem Papier befehlen kann, ohne dass es darum ausgeführt zu werden braucht, und zweitens, dass Verfolgungen das beste Mittel sind, missliebige Überzeugungen zu befördern! Soviel ist sicher: Der einzige Dienst, den man Gott heutzutage noch tun kann, ist der, den Atheismus zum zwangsmäßigen Glaubensartikel zu erklären und die Bismarckschen Kirchenkulturkampfgesetze durch ein Verbot der Religion überhaupt zu übertrumpfen.“ 4

Missliebige Überzeugungen eben nicht noch zu befördern, war auch die Maxime der leninschen Religionspolitik. Er übte nach der Oktoberrevolution daher strikte Toleranz; insbesondere gegenüber dem Islam. Die Sowjets schufen sogar ein paralleles Rechtssystem, in dem die islamischen Gerichte in Übereinstimmung mit der Scharia neben den staatlichen Institutionen Recht sprachen.5

Das bedeutete die Anerkennung der Tatsache, dass der islamische Konservativismus allein mittels eines Bruchs mit der großrussischen chauvinistischen Politik zurückgedrängt werden konnte. Nur dann gelang es den religiösen Eliten nicht mehr so leicht, Menschen klassenübergreifend um die Moschee zu scharen und die Klassenspaltungen in der muslimischen Gesellschaft dadurch zu verdecken. 6 Lenin war also weit entfernt davon, Gott einen Dienst zu erweisen, indem er den Atheismus zum zwangsmäßigen Glaubensartikel erklärte. Dies inkludierte auch die Enthaltsamkeit dabei, eine von westlichen Stimmen immer wieder beschworene Rückschrittlichkeit des Islam offensiv zu thematisieren.

Knapp und präzise hat Lenin die Haltung der Sozialisten zur Religion in seinem Aufsatz „Sozialismus und Religion“ wie folgt zusammengefasst: „Wir fordern, dass die Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei, können sie aber keinesfalls unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten. [...] Jedem muss es vollkommen freistehen, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen oder gar keine Religion anzuerkennen, d.h. Atheist zu sein, was ja auch jeder Sozialist in der Regel ist. Alle rechtlichen Unterschiede zwischen den Staatsbürgern je nach ihrem religiösen Bekenntnis sind absolut unzulässig. […] Die russische Revolution muss diese Forderung als unerlässlichen Bestandteil der politischen Freiheit verwirklichen.“7 Das ist eine ganz ähnliche Haltung wie sie Lenin in der nationalen Frage entwickelte. Sie mündet in einen konsequenten Demokratismus in Verbindung mit einer eigenen, sehr grundsätzlichen Haltung zur Religion. In diese Richtung gehend könnte wohl auch die Minimalposition definiert werden, die eine marxistische Linke heute einzunehmen hätte.

Unter dem Strich, so etwa die Meinung von Friedrich Engels, kann es den Marxisten bzw. den Arbeitern egal sein, ob andere an Gott glauben oder nicht. In einem warmherzigen und wohlwollenden Bericht von 1843 über die areligiöse und atheistische Stimmung der englischen Sozialisten, in dem er deren Argumentation zustimmend wiedergibt, heißt es: „Will man aber ein anderes Terrain nehmen, so verlachen sie einen ins Gesicht; ich sage z.B.: Die Existenz Gottes ist nicht vom Beweise aus Tatsachen für den Menschen abhängig, da entgegnen sie: ‚Wie lächerlich ist Ihr Satz: Wenn er nicht durch Tatsachen sich manifestiert, was wollen wir uns auch um ihn bekümmern; aus Ihrem Satze folgt gerade, daß die Existenz Gottes oder die Nichtexistenz den Menschen gleichgültig sein kann. Da wir nun für so tausend andere Dinge zu sorgen haben, so lassen wir Ihnen den lieben Gott hinter den Wolken, wo er vielleicht existiert, vielleicht auch nicht‘.“ 8

Was ist daraus zu folgern? Vor allem, dass Engels einer wesentlichen Überzeugung dieser Sozialisten beistimmt: Nämlich jener, dass eine prinzipielle Auseinandersetzung über die Existenz Gottes vordergründig gar nicht so wichtig sei: Die wirkliche Welt bietet genügend Konfliktfelder, man muss sie nicht erst in einer fiktiven suchen.

Ganz ähnlich dachte in dieser Hinsicht auch Lenin: „Die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, [...] das bedeutet aber durchaus nicht, dass man die religiöse Frage an die erste Stelle rücken soll, die ihr keineswegs zukommt, dass man eine Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um drittrangiger Meinungen oder Hirngespinste willen zulassen soll, die rasch Jede politische Bedeutung verlieren und durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung bald in die Rumpelkammer geworfen werden.“9

Diese Laissez-Faire-Haltung von Engels und Lenin hängt selbstverständlich damit zusammen, dass die Religion im Bewusstsein gerade der englischen Arbeiter damals keine wirklich bedeutende Rolle mehr spielte, also keine reale Gefahr darstellte. Voraussetzung dafür war die Tatsache, dass in den entwickelten europäischen Zentren eine tiefgehende theoretische bzw. philosophische Aufarbeitung der Phänomene Glauben und Kirche schon stattgefunden hatte. Stellvertretend für viele andere seien hier die französischen Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts erwähnt. In Deutschland ist am Ende einer kontinuierlichen Entwicklung vor allem Ludwig Feuerbach zu nennen, der Marx und Engels stark beeinflusste. Dieses „Abarbeiten“ von Religion – und an der Religion – wirkte tief in die gesellschaftliche Praxis hinein: Ein Gebiet, auf dem das einfache Volk ohnehin genug Erfahrungen machte, die Antiklerikalismus und Atheismus stark beförderten.

In islamischen Gesellschaften fand dieser theoretische Prozess, zumindest in vergleichbarer Weise, nicht statt. Dort blieb die Entwicklung hin zu einer Rationalisierung und Säkularisierung des Denkens – kurz ein Ablösen der Philosophie von der Theologie – sozusagen in den Kinderschuhen stecken. Sie entfaltete sich seit dem 12. bzw. 13. Jahrhundert, als Sufismus und Mystik die Oberhand behielten, nicht mehr in adäquater Weise weiter. Hinzu kommt, dass dem Islam als Religion eine wirklich ernstzunehmende klerikale Struktur – also ein eigener autonomer Machtapparat – fehlte. Darüber hinaus blieb sein institutionelles Gebilde, so man von einem solchen überhaupt sprechen kann, stets mit der weltlichen Herrschaft eng verbunden.

Das erzeugte wiederum eine noch größere Verwobenheit von Diesseits und Jenseits als im sogenannten „Abendland“: Der Islam geriet so zum kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Identifikationsrahmen, der bei realer oder angeblicher Bedrohung (von außen) differente Elemente vereinigte und quasi eine klassenübergreifende Einheit herstellte. Die im 19. und 20. Jahrhundert erfolgte koloniale und neokoloniale Bevormundung durch den Westen verstärkte diese Funktion dann. Entfernt vergleichbar ist solch ein Verhalten mit dem politisierten Katholizismus in Polen. Der richtete sich als wichtiges, das Volk einigendes Fanal gegen ein orthodoxes Russland und ein protestantisches Deutschland als fremde Besatzungsmächte. Das heißt: Zur unterdrückten Nation gesellte sich die – mehr oder weniger – unterdrückte Religion. Prokatholisch hieß für die damaligen Polen ganz einfach nur antikolonial. Das ist eine Haltung, die bis hin zu Johannes Paul II. und Lech Walesa Wirkmacht entfaltet hat und in der Sozialismus später stark mit dem „russischen Eindringling“ identifiziert wurde.

Die oben beschriebene besondere Stellung bewirkte, dass der Islam – im Gegensatz zu den christlichen Kirchen – nicht unmittelbar als autonomes Unterdrückungsinstrument wahrgenommen wurde. Er hatte sich auch nicht in ähnlicher Manier diskreditiert. Die daraus resultierende integrative Kraft führt nun dazu, dass der Kampf um die Köpfe – und um deren Befreiung von religiösen Flausen – unter der muslimischen Bevölkerung um einiges schwerer anmutet, als auf christlichem Boden. Er muss daher mit großer Sorgfalt und viel Einfühlungsvermögen betrieben werden und darf keinesfalls die Form von offener Zwangsgewalt annehmen. Schon gar nicht einer von außen gesteuerten.

Ein direkter Angriff auf den Islam als Religion wird von den Menschen vielfach als Attacke gegen die eigene kulturelle Identität, ja als überhebliche neokoloniale Bevormundung gesehen. Er ist daher kontraproduktiv. Ein Überwinden des religiösen Spuks kann nur aus der islamischen Welt selbst erfolgen, die dazu aber die notwendigen Voraussetzungen auf sozialem, ökonomischem und gesamtgesellschaftlichem Gebiet braucht.

Ebenso wie die Christen müssen also auch die Muslime aus eigener Kraft den religiösen Druck beseitigen, sonst bleibt er weiter wirkmächtig. Lenin streicht dabei hervor, dass der Kampf gegen die Religion nicht isoliert auf deren Boden geführt werden darf, sondern dass er Bestandteil einer gesellschaftlichen Totalität ist. Was er dazu in Bezug auf die russische bzw. europäische Arbeiterschaft sagt, gilt analog auch für die islamischen Massen: „Doch wir dürfen uns dabei auf keinen Fall dazu verleiten lassen, die religiöse Frage abstrakt, idealistisch, „von Vernunft wegen“, außerhalb des Klassenkampfes zu stellen, wie das radikale Demokraten aus der Bourgeoisie häufig tun. Es wäre unsinnig, zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, dass der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird.“10

Die Leute können eben nicht „per ordre du Mufti“ in Atheisten verwandelt werden, wie es Engels ausdrückt. Ebenso wenig durch allzu aufdringliche Propaganda. Ein solches Vorgehen würde deren religiöse Überzeugungen nur stärken. Analog zu einem leninschen Denken ist es vielmehr so, dass der islamische Konservativismus wohl nur mittels eines Bruchs mit der kapitalistisch-westlichen Überheblichkeit und Kommandomentalität zurückgedrängt werden kann. Das gilt jedenfalls für den Bereich des Überbaus, also für Politik und Ideologie.

Auf materiell-ökonomischem Gebiet bedarf ein Ausgleich mit der muslimischen Welt die Beendigung der global organisierten neokolonialen Ausbeutung und der Herstellung von egalitären Lebensbedingungen. Dann wären wohl die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Muslime in einem „eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt“ werden. In Bezug auf den seitens der Herrschenden inszenierten „Kampf der Kulturen“ gilt wiederum: Unbedingte Solidarität mit jenen einfachen Menschen, die als die „Anderen“ konstruiert werden. Nur die absolute Anerkennung ihrer kulturellen Eigenständigkeit kann eine Basis dafür schaffen, die über viele Jahrhunderte kunstvoll errichteten Schranken niederzureißen und einen gemeinsamen Kampf für soziale Emanzipation zu führen.

  • 1. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms in: MEW Bd. 19, Berlin, 1962, 13-32, hier: 31.
  • 2. Wladimir Iljitsch Lenin, Sozialismus und Religion, in: Werke Bd. 10, Berlin, 1958, 70-75, hier: 71.
  • 3. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms in: MEW Bd. 19, Berlin, 1962, 13-32, hier: 31.
  • 4. Friedrich Engels, Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge, in: MEW Bd. 18, Berlin, 1962, 519-567, hier: 532.
  • 5. Vgl.: Michael Wengraf, Die EU, die nationale Frage und Lenin, auf: www.antiimperialista.org/de/content/die-eu-die-nationale-frage-und-lenin... (3. 10. 2017)
  • 6. Vgl.: http://www.marxists.de/religion/crouch/bolsch_islam.html#n26 (1. 9, 2017).
  • 7. Wladimir Iljitsch Lenin, Sozialismus und Religion, in: Werke Bd. 10, Berlin, 1958, 70-75, hier: 71-72.
  • 8. Friedrich Engels, Briefe aus London III, in: MEW Bd 1, Berlin, 1962, 468-479, hier: 474.
  • 9. Wladimir Iljitsch Lenin, Sozialismus und Religion, in: Werke Bd. 10, Berlin, 1958, 70-75, hier: 74.
  • 10. Wladimir Iljitsch Lenin, Sozialismus und Religion, in: Werke Bd. 10, Berlin, 1958, 70-75, hier: 73-74.