In Verteidigung des Netzwerks Muslimische Zivilgesellschaft (NMZ)

18.03.2018
Nicht Feindbildproduktion, sondern demokratische Integration brauchen wir
von Wilhelm Langthaler
Im Vorfeld der Antirassismusdemo vom 17.3. kam es von einem Teil der Organisatoren zu einer Attacke auf das NMZ. Ihm wurde vorgeworfen, verlängerter Arm Erdogans zu sein. Es sollte so aus der Demo gedrängt werden. Nicht nur, dass auf einmal die Kronenzeitung ihre Liebe zu Asylhelfer Genner entdeckte, der den Angriff ritt, sollte zu denken geben. Sondern auch die Tatsache, dass Schwarzblau den Neoliberalismus mittels eines antiislamischen Chauvinismus abstützen – zu diesem sehr spezifischen Mechanismus schweigt die Plattform.
Forderungen des NMZ an die IGGiÖ

1) Der Kontext: die antiislamische identitäre Mobilisierung
2) Das NMZ als demokratische Initiative des Dialogs
3) „Bomb Iran“ und alle anderen „Islamofaschisten“
4) Warum Afrin als zentrales Kriterium – und nicht Gaza?
5) Schlussfolgerungen

Anti-Islam-Regierung

Die Auseinandersetzung findet nicht im luftlehren Raum statt, sondern vor dem Hintergrund der schwarzblauen Regierung. Die Demo will das Kabinett Kurz-Strache wegen „Rassismus und Faschismus“ anklagen. Das ist reichlich abstrakt und teilweise irreführend, weil es vom neoliberalen Kern des Regimes und dessen Kontinuität zu Rotschwarz ablenkt. Die FPÖ stammt zwar von der NSdAP und dem Deutschnationalismus ab, doch befindet sie sich nun gänzlich am Nasenring von Raiffeisen & Co. Hauptfeind muss der Wirtschaftsliberalismus bleiben.

Wenn etwas spezifisch für die neue Regierung ist, dann dass Kurz von der FPÖ das Feindbild Flüchtling und insbesondere Moslem übernommen, popularisiert und salonfähig gemacht hat. Der identitäre Kit ist vor allem die Konstruktion einer westlichen christlich-jüdischen Zivilisation zu verteidigen und als Gegenfolie den bösen und gefährlichen Islam zu stellen, der an allem schuld sei. (Ungeachtet der Tatsache, dass der christliche und islamische Kulturkonservativismus sehr viel gemein haben.) Das ist das Hauptinstrument, um die ansonsten schlecht verkäufliche neoliberale Konterreform durchzusetzen.

Warum kann das die Plattform nicht direkt sagen? Und noch schlimmer: Warum wird gerade die Kraft, die Muslime gemeinsam mit Österreichern mobilisieren will, ausgeschlossen? Das ist Elitensäkularismus und letztlich im Dienste des neoliberalen Regimes, das die identitäre Spaltung braucht.

Ein wirksames Mittel gegen die chauvinistisch-identitäre Mobilisierung gegen die Globalisierung die Regulierung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes zu setzen. Doch diese Kontrolle des Zuzugs von Arbeitskräften wird vom linksliberalen Milieu als rassistisch bezeichnet. Nur die Beschränkung der Freiheit des Kapitals, die Produktionsfaktoren nach ihrem Gutdünken über den Globus zu verschieben, und damit die Interessen der Subalternen zu schützen, kann den Konflikt unter den Armen dämpfen. Wenn unbegrenzt neue, billige Arbeitskraft nachkommt, dann kann diese leicht zum Feindbild gemacht werden, nicht die liberalen Eliten, die das organisieren. (Fünf Thesen zur Mobilisierung gegen Schwarzblau sowie zur Strategie der langsamen Zersetzung.)

Was ist das NMZ

Das Netzwerk Muslimische Zivilgesellschaft wurde gegen die Novelle des Islamgesetzes gegründet, der Auftakt der identitären Profilierung Kurzens. Die Bedeutung der Gesetzesänderung wurde von den meisten Linken nicht wahrgenommen.

Das österreichische Spezifikum der Einbindung der Muslime besteht in der Kontrolle über die staatlichen Religionslehrer. Die öffentlich-rechtliche Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) beruht auf der enormen Macht tausende Mittelstandsgehälter zu verteilen. Dafür hat das Ministerium die politische Oberherrschaft und benutzt sie um die Moscheen zu kontrollieren. Über Jahrzehnte hat dies im Sinne der Herrschenden bestens funktioniert.

Doch im Unterschied zur Katholizismus kennt der dominante sunnitische Islam keine zentrale Institution, hat keine Kirche. In Österreich hieß das hunderte selbständige islamische Vereine. Angesichts der muslimisch-identitären Gegenmobilisierung und diversen salafistischen Strömungen wollte Kurz diese Vereine unter direkte Kontrolle nehmen – unter Missachtung der Freiheitsrechte von 1848. Das neue Islamgesetz steht in mehrfacher Hinsicht auf tönernen Füßen und ist eine Bedrohung der Meinungs- und Organisationsfreiheit. (Kommentar zur Abweisung der Verfassungsklage)

Trotz des Vorwurfs, die Muslime seien nicht ausreichend säkularisiert, unternahm Kurz einen josephinistischen Versuch eine sunnitische Staatskirche zu schaffen. Also das Gegenteil von Säkularisierung.

Dagegen entstand das NMZ, denn sonst wollte oder getraute sich im islamischen Milieu niemand Widerstand zu leisten. Die IGGÖ war zwar über das Gesetz nicht glücklich und über sie wurde drübergefahren, aber sie ist nun einmal Teil des Staates und gewinnt damit letztlich an Macht. Die großen Türkei-nahen Verbände, die eine der zwei Zielscheiben waren, bevorzugten sich still zu verhalten, in der Hoffnung einen modus vivendi zu finden. Das andere Ziel, diverse Salafisten, haben kein Interesse an österreichischer Öffentlichkeit.

Das NMZ besteht vorwiegend aus hier gebildeten Akademikern und in Mittelstandsberufen arbeitenden Menschen. Es ist unabhängig von Institutionen wie IGGÖ, diversen Moscheen aber auch halbstaatlichen NGOs. Es sind De-facto-Integrierte, die Diskriminierung spüren, die die demokratischen Rechte in Anspruch nehmen, die auf die österreichische Gesellschaft wirken wollen. Sie wollen Teilhabe, ohne ihre muslimische Identität aufgeben zu müssen. Ihr Antrieb ist auch die Enttäuschung über das Versprechen von Demokratie und Integration.
Sensationell ist die konfessionelle Vielfalt. Wenn man weiß, welche identitäre Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten ausgefochten werden, die in einigen Ländern zu Bürgerkriegen beigetragen haben, so kann man erahnen welcher Geist im NMZ herrscht. Genauso breit die Herkunftsnationen und nationale Zuordnung: Türken, Kurden, Araber, Perser, Hazara aus Afghanistan, Afrikaner usw. – und gesprochen wird deutsch. Auch von der Interpretation des Islam gibt es eine große Bandbreite, von liberal, links, feministisch bis konservativ.

Eigentlich müsste das NMZ ein Vorzeigebeispiel für gelungene Integration sein. Das NMZ ist letztlich weniger konfessionell, demokratischer und offener als der ganze von VP-FP angeführte konservativ-identitäre, neokonfessionelle Block. Doch das ist scheinbar nicht gewünscht – viel lieber ist Kurz-Strache, der Kronenzeitung und auch der Regimelinken die Bestätigung des Feindbilds Islam. Die ausgestreckte Hand einiger Muslime wird von Genner & Co präventiv abgehackt.

Und warum kann sich das NMZ dann nicht von Erdogan distanzieren, wie es die Wertewächter verlangen?

Wie beschrieben ist das NMZ keine Partei, sondern ein muslimischer Verein zur Inanspruchnahme demokratischer Rechte. Es ist ihm unmöglich gemeinsame Positionen zu den Konflikten in den Herkunftsländern zu finden, in denen oftmals (Bürger)Kriege toben – um so größer erscheint die Leistung sich hier trotzdem über alle Grenzen hinweg zusammenzufinden. Würden sie das tun, hätte das die politische Zersplitterung zur Folge.

Nachdem die große Mehrheit der Muslime in Österreich türkische Wurzeln hat und diese überwiegend die AKP unterstützen, tun das auch einige im Bereich des NMZ. Die Tatsache, dass bekennende Kurden und Schiiten im NMZ teilnehmen, lässt jedoch auf eine starke Moderation schließen. Außerdem hat sich das NMZ von neoosmanischen Auswüchsen explizit distanziert. (Hier ein Video einer Diskussion, bei der sich Murat Gürol, ein Mitbegründer des NMZ, sehr bedacht und differenziert zum türkisch-kurdischen Konflikt äußert.)

Hier ist kein Platz für eine Analyse der AKP und des Erdoganismus. (Hier ein Kompendium von Artikeln.) In aller Kürze: Seinen politischen Aufstieg verdankte er der Demokratisierung gegen die kemalistische Militärdiktatur und der Hoffnung der Kurden auf Entspannung – beides wurde enttäuscht, aber erst seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs. Außerdem darf man den sozioökonomischen Aspekt nicht vergessen. Der Erdoganismus führte zu einem sozialen Aufstieg ähnlich wie in der Nachkriegszeit. Im großen Gegensatz zu allen westlichen Länden auch den meisten der Peripherie verkleinerte sich in der Erdogan-Türkei die soziale Schere!

Der autoritäre und konfessionalistische Schwenk der letzten Jahre und insbesondere der Putschversuch führte dazu, dass Erdogan den Schulterschluss mit dem Nationalismus suchte – über die rechte MHP, die aber Teil des kemalistischen Biotops ist. (Zum Präsidentialismus-Referendum) Wir sind also zurück beim zentralen Problem der kemalistischen Nato-Türkei, dem alles durchdringenden und chauvinistischen türkischen Nationalismus. Historisch ist er ein Produkt des Säkularismus und drang erst später und allmählich in den islamischen Bereich vor. Erdogan versuchte eine moderate Absetzung von diesem um letztlich wieder auf diesen zurückzugreifen – aber von der Kernideologie der Elitendiktatur, dem säkularistischen Nationalismus, wird seitens unserer linken Sittenpolizei keine Distanzierung verlangt.

„Nieder mit den Taliban!“

Genner & Co befinden sich im Kreuzzug gegen den „Islamofaschismus“, insbesondere in der Türkei und dem Iran. Die Genesis und der historische Kontext dieser sich islamisch legitimierenden Regime interessiert dabei nicht. Auch nicht die neokoloniale Beziehung des Westens zu diesen Ländern. Es geht um „regime change“ und dabei befindet man sich in der guten Gesellschaft von Bush und den Neocons, die mit verwandten Argumenten imperialistische Kriege und Machtausübung legitimieren. (Siehe die links angestrichenen Kriegstreiber von Drop the Bomb. Aber auch der Jubel der Kronenzeitung ist entlarvend.)

Federführend bei diesem Diskurs sind Israel und seine hiesigen Unterstützer. Sie forcieren die Kampagne gegen den „islamischen Antisemitismus“, ein Begriff der jeglichem Widerstand gegen den zionistischen Kolonialismus umgehängt wird. (Kommentar von Murat Gürol) Letztlich geht es darum, das Feindbild Muslim und Islam zu kultivieren, um den kolonialen Landraub und das damit verbundene geopolitische Dispositiv zu legitimieren.

Jeder Linke, der sich Herz und Hirn (denn beides gehört dazu) für die Unterdrückten und Subalternen dieser Welt bewahrt hat, versteht, dass gegenüber repressiven, mit dem Westen in Konflikt geratenen Bewegungen, Tendenzen und Regimen methodisch zwei Prämissen kombiniert werden müssen, die nicht immer leicht unter einen Hut zu bringen sind: Einerseits gegen die globale Herrschaft des westlichen Kapitalismus, andererseits Unterstützung der Unterdrückten gegen repressive Regime. Was dabei radikal abgelehnt werden muss, ist der „regime change“ von außen. Die Befreiung muss von innen kommen. (Siehe Watschenmann Erdogan)

Afrin als Messlatte?

Der türkische Angriff auf „Afrin“ ist in jeder Hinsicht abzulehnen und zu verurteilen. Es ist ein regionalimperialistischer Akt, der nicht nur das Völkerrecht verletzt, sondern auch das grundlegende demokratische Recht auf nationale Selbstbestimmung. Darüber kann kein Zweifel bestehen.

In Syrien tobt ein blutiger Bürgerkrieg mit enormer Verwicklung aller regionalen und globalen Mächte. Keine von ihnen schert sich um die demokratischen und sozialen Interessen der Völker Syriens und des Nahen Ostens. Alle internen Kräfte im syrischen Bürgerkrieg haben sich externe Verbündete gesucht, die Kurden insbesondere die USA. (Zum US-unterstützten Angriff der kurdischen SDF auf Raqqa.) Der Krieg kann nicht allein durch die kurdische Brille gesehen werden. Sie sind lediglich ein Teil des Ganzen. Die US-Intervention, die viel niederschwelliger als im Irak von statten geht, ist trotzdem zu verurteilen und trägt wesentlich mit Schuld. So sehr das kurdische Selbstbestimmungsrecht zu unterstützen ist, so wenig rechtfertigt das die Rolle als Hilfstruppe Washingtons.

Es scheint lächerlich Afrin zur Messlatte für Antirassismus zu machen. Warum nicht die Distanzierung von Kolonialismus und Sklaverei, von den amerikanischen Angriffskriegen oder vom verewigten französischen Ausnahmezustand?

Wenn etwas universelle Bedeutung erlangen kann, symbolisch für ein ungerechtes Weltsystem steht, dann ist es der israelische Kolonialismus. Hier steht nicht nur der exklusive chauvinistische Nationalismus und Kolonialismus des 19. Jahrhunderts ins 21. hinein. Nein, er hat trotz aller demokratischen Phrasen des Westens dessen volle und uneingeschränkte Unterstützung – trotz der permanenten und dokumentierten Verletzung des Völkerrechts und der Verurteilungen durch die UNO. Wenn etwas als Messlatte für Antirassismus dienen kann, dann die Distanzierung von Israel – doch das schaffen viele Teile der Linken nicht, die einem vermeintlichen Regime-Antifaschismus aufsitzen, der sich für imperialistische Zwecke einspannen lässt.

Doch die Hervorhebung Afrins ist nicht lächerlich, sie hat System. Israel unterstützt schon lange alles was sich gegen den arabischen Nationalismus in Stellung bringen lässt (auch nachdem das islamische Regime im Iran zum Hauptfeind aufstieg). Darum das Naheverhältnis zur domestizierten KDP im irakischen Kurdistan. Die Liebe der hiesigen Linken zu den Kurden ist jünger. Als der Autor in den 80ern und 90ern für die türkischen Kurden demonstrierte und Solidarität organisierte, war das noch recht einsam. Terrorismus blablabla. Erst als die Kurden in der Türkei nicht gegen ein uneingeschränkt prowestliches Regime kämpften, sondern ein islamisch gefärbtes, wurden sie interessant. Und dann kommt noch die westliche Unterstützung in Syrien hinzu. Jetzt ist die Kurdensolidarität sogar Mainstream.
Wir bleiben mit den Kurden solidarisch, ohne jedoch die Probleme zu verschweigen, sowie die Nutzung für einen größeren Zweck, die Feindbildproduktion, zu übersehen.

Quintessenz

Das NMZ ist das zarte Pflänzchen einer demokratischen Mobilisierung unter den muslimischen Intellektuellen, die ihren Platz in Österreich suchen. Sie rebellieren einerseits gegen die traditionelle autoritär-korporatistisch-josephinistische Einbindung österreichischer Prägung (IGGÖ), andererseits gegen die islamophobe Kampagne. Sie werden dabei automatisch an die Seite der Linken gedrängt.
In der Regimelinken will man das zarte Pflänzchen ausreißen und das Feindbild Islam kultivieren. Sie fordert politisch-korrekte Flüchtlinge und Immigranten. Doch die gibt es kaum. Es kommen konkrete Menschen, die von ihren Herkunftsgesellschaften und den dort ausgetragenen Konflikten (vielfach vom westlichen Imperialismus mit verursacht) geprägt sind. Der islamische Kulturalismus ist ein Teil davon.

Retrospektiv gedacht: Wer könnte sich in der Zwischenkriegszeit eine Mobilisierung gegen den Antisemitismus vorstellen, die die Distanzierung von jüdischer Orthodoxie und Zionismus zur Bedingung hat?

Wer wirklich die kulturalistische Spaltung unter den Armen (Autochthone versus Immigranten) bekämpfen will, muss eine Brücke zu ihnen bauen. Das NMZ ist bisher der erste ernsthafte Versuch von muslimischer Seite der Linken die Hand entgegenzustrecken. Wer sie nicht annehmen will, dessen Antirassismus wird zur hohlen Phrase im Dienste des Systems.

Wir müssen endlich verstehen, dass der nackte Liberalismus am Ende wäre, wenn er nicht den Kulturchauvinismus hätte. Wer würde nach 30 Jahren Neoliberalismus noch an die heilende Kraft des Freien Marktes glauben und Kurz mit seinem antisozialen Nulldefizit wählen, wenn er nicht auf den Moslem zeigen könnte.

Die Dekonstruktion des Feindbildes Islam ist eine zentrale Aufgabe nicht nur zur Bekämpfung von Schwarzblau, sondern gegen das neoliberale Regime überhaupt. Dabei gibt es zwei Hauptachsen:

• Dialog mit Muslimen und Aufzeigen der sozioökonomischen und historischen Wurzeln eines Konflikts, der wesentlich von der westlichen Herrschaft geprägt wird.

• Deglobalisierung und staatliche Regulierung auch des Arbeitsmarktes, um den sozialen Niedergang der Unteren zu stoppen und damit den realen und eingebildeten Kampf um Ressourcen zu überwinden und eine gemeinsame Front der Mehrheit gegen die Eliten zu schaffen, der Immigranten mit eingeschlossen.