»Wir haben alle Angriffe auf uns abgewehrt«

22.02.2013
Von Martin Dolzer
Erst haben sie sich beschossen – jetzt teilen sich in Syrien Kurden und Rebellenarmee punktuell die Macht. Gespräch mit Salih Müslüm

Seit November haben 1500 islamistische Kämpfer zum Teil mit Hilfe von Panzern versucht, die vornehmlich von Kurden bewohnte Stadt Sere Kaniye einzunehmen. Wie ist die aktuelle Lage?

Unsere Kurdischen Volksverteidigungskräfte in Syrien (YPG) haben alle Angriffe auf Sere Kaniye abgewehrt. Bei den monatelangen Gefechten sind leider auch viele Zivilisten umgekommen. Hauptsächlich weil sich ausländische Kräfte einmischten, hat sich die syrische Revolution leider von ihren friedlichen Zielen entfernt, sie hat sich militarisiert.

Vor zwei Tagen nun hat der »Hohe kurdische Rat« – das zentrale Gremium aller kurdischen Akteure in Syrien – ein Abkommen mit der »Freien Syrischen Armee« (FSA), unterzeichnet, der sich diese islamistischen Kämpfer zugeordnet hatten. Die Angreifer hatten ihren Rückzugsraum in der Türkei. Sie wurden dort nicht nur medizinisch versorgt, sondern konnten auch türkische Krankenwagen zum Waffentransport mißbrauchen. Was besagt das Abkommen? Berücksichtigt es auch die Interessen der Türkei?

Die FSA besteht aus vielen Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Zielen, sie hat keine zentrale Führung. Deshalb war es schwer, mit ihren Vertretern einen Dialog zu führen. Das Abkommen hat elf Artikel. Sie sehen u.a. vor, daß zuerst sämtliche nicht aus der Region stammenden Kämpfer abgezogen werden. Dann soll ein gemeinsamer Verwaltungsrat für die Stadt Sere Kaniye und die umliegende Region gewählt werden. Die Straßen der Region und auch die Grenze zur Türkei werden gemeinsam von FSA und YPG kontrolliert. Außerdem haben sich beide Seiten darauf geeinigt, an all den Orten zusammenzuarbeiten, in denen die Herrschaft der Baath-Partei von Präsident Assad noch nicht überwunden ist. Die türkische Regierung sieht das Abkommen allerdings negativ – ihr Ziel war es, über Sere Kaniye in die kurdische Region einzudringen und sie zu destabilisieren.

Nach der meist friedlichen Vertreibung der Staatsvertreter hatten wir in Sere Kaniye zunächst basisdemokratische Volksvertreter gewählt – wie in vielen anderen Städten der kurdischen Provinzen auch. Alle in unserer Region lebenden Volksgruppen sind darin vertreten. In Sere Kaniye z.B. gibt es neben den Kurden viele Menschen arabischer Abstammung sowie diverse Minderheiten. Jeder dieser Räte hat 17 Arbeitskomitees, die sich bemühen, schrittweise das tägliche Leben zu demokratisieren.

In Aleppo ist es wochenlang zu schweren Gefechten gekommen, bei einem Luftangriff z.B. wurden 20 Kurden getötet. Hat sich die Lage mittlerweile beruhigt?

Die YPG hat die kurdischen Stadtteile von Aleppo sowohl gegen Angriffe der FSA als auch gegen die von Regierungstruppen verteidigen müssen. Momentan ist es dort zum Glück einigermaßen ruhig. In Ashrafiya, einem strategisch wichtigen Ort in den Bergen, gibt es allerdings schon seit Tagen heftige Gefechte zwischen Regierungstruppen und der YPG.

Welche Perspektive strebt Ihre Kurdische Demokratische Einheitspartei (PYD) an?

In den Syrien-Konflikt sind viele politische Gruppen und Staaten verwickelt. Das Land läßt sich nur durch eine Politik, die auf dem Willen der Bevölkerung beruht, aus dem gegenwärtigen Chaos führen. Wir Kurden haben jahrzehntelang Gewalt, Folter und Unterdrückung erlitten, wir wissen, wie wichtig es ist, daß eine Revolution für Demokratie, Freiheit und Würde friedlich verläuft. Deswegen haben wir uns dem »Koordinationskomitee für demokratischen Wandel« angeschlossen.

Eine Staatsdoktrin, die auf einer bestimmten Religion beruht, lehnen wir ab – so etwas paßt nicht ins 21. Jahrhundert. Es ist vielmehr nötig, daß die Rechte sämtlicher ethnischen und religiösen Gruppen sowie die der Frauen in einer demokratischen Verfassung verankert werden.

Die Demokratisierung Syriens ist nicht ohne eine Lösung der kurdischen Frage möglich, das sollte man auch in Syrien und in Europa erkennen. Unsere Türen sind jedenfalls für einen Dialog offen. Leider gibt es aber Kräfte, die auf Kosten der Bevölkerung ihre eigenen Machtinteressen durchsetzen wollen. Deshalb wird es wohl noch ein langer Weg bis zum Frieden sein.

Quelle: "junge Welt", 21.2.2013