Finanzkapital, Neoliberalismus, Ordo-liberalismus und Krise

21.11.2013
Die Finanzkrise erklärte in ihrer Praxis das bisherige liberale Ökonomie- und Politik-Modell für obsolet. Die eigentliche Ideologie des Kapitalismus der Nachkriegszeit war und ist der Ordo-Liberalismus: Der möglichst minimale Staat sollte gute Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft herstellen. Dann aber müsse er seine Finger aus den Abläufen draußen lassen. So dekretierte es Walter Eucken in der Nachkriegszeit, und Ludwig Erhard dachte und glaubte wohl selbst, dies zu verwirklichen. Und jenseits des Atlantik raisoniert Milton Friedman auch nicht so anders, nur etwas radikaler.

 

Neoliberalismus ist aber nicht Ordo-Liberalismus. Und doch werden seine Grundsätze nicht nur in der BRD oder in Großbritannien und der USA geradezu verbissen verfochten; man muss nur einen Blick in die Neue Zürcher Zeitung , das Zentralorgan der Steuer-Hinterzieher, machen: Das ist die Richtschnur, an der Alles gemessen wird. Der Ordo-Liberalismus ist der ideologische Schleier der neoliberalen Wirklichkeit.

Aber Neoliberalismus ist realiter etwas ganz Anderes. "Die Rekapitalisierung [der Banken] bedeutet, dass die Regierungen tatsächlich diese Finanzinstitute zur Gänze oder teilweise nationalisierten, ohne in die Geschäftsführung einzugreifen. ... Die EU-Erklärung von 2008 institutionalisierte einen Kapitalismus ohne Bankrotte von Großbanken" (Stockhammer). Die Strategie der Krisenbewältigung hält sich also keineswegs an das ordo-liberale Kon- und Rezept. Das bürokratisch-neoliberale Konzept sieht ganz anders aus. Mario Draghi musste ausrücken und erklären: Wir lassen keineswegs den Markt arbeiten. Wir und die anderen politischen Institutionen werden Alles tun, um unsere bisherigen Konstruktionen und ihre Nutznießer zu retten, "und das ist eine ganze Menge". Und für die Zukunft werden wir auch klar und deutlich sagen, wo es lang geht ("foreward guidance"). Die Banker sollen ihre Super-Gehälter samt den Bonussen wieder beziehen (und tun dies auch). Aber die Richtung geben wir vor, das auserwählte (doch nicht gewählte) Geschäfts-Komitee des Finanz-Kapitalismus.

Die Ideologen reagierten teils wütend. Aber ist dies tatsächlich eine rein ideologische Frage? Etwas unterbelichtete Journalisten mögen die altmodischen liberalen Grundsätze wörtlich nehmen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass einige, ja viele Professoren dies gleichfalls tun. Doch die AfD (Alternative für Deutschland) und ihr vergleichsweiser Erfolg bei den deutschen Wahlen lässt fragen: Steckt da nicht mehr dahinter? Immerhin erreichte die Professoren-Partei bei den Bundeswahlen 4,7 % und in einer Reihe von Bundesländern sogar an die 6 % und darüber.

Wer sich in einem Wahlkampf um die Partei-Programme der Etablierten kümmert, ist selbst dran schuld. Es ist reine Zeitverschwendung und höchst naiv. Etwas Anders steht es bei den neuen Kräften. Sie bringen neue Politik-Vorschläge. Die sind zumindest solange einmal anzuhören, bis sie die Möglichkeit einer politischen Praxis erhalten. Dann ist diese maßgeb­lich, nicht mehr das Papier. Die AfD macht nun eine Reihe von Vorschlägen, die einem manchmal etwas altbackenen Konservativimus des Common Sense entsprechen. Gerade deswegen haben sie in der BRD das Potenzial für politischen Zuspruch: Die „geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebietes“ spricht vermutlich eine Mehrheit der Deutschen an; durch mehr direkte Demokratie soll "das Volk den Willen der Parteien bestimmen, nicht umgekehrt"; und die besser gestellte deutsche Mittelschicht erhält mit dem Familien-Splitting das Versprechen der Einkommenssteuer-Senkung.

Der Ordo-Liberalismus deutscher oder auch schweizerischer Prägung dürfte mehr sein als die blasse Ideologie der Kettenhunde des "alten" (Finanz-) Kapitalismus. Hier wird ein innerkapi­talistischer Richtungsstreit ausgefochten. Der deutsche Kapitalismus ruht – trotz der Stärke der Deutschen Bank – viel stärker auf der materiellen Produktion als der angelsächsisch-atlan­tische. In gewisser Weise dürfte dies selbst für das Land der Banken zutreffen, auf die Schweiz mit ihren internationalen Großkonzernen. Auch Frankreich steht in der Mitte zwischen den Industrie- und den Dienstleistungs-betonten Ländern. Sehen wir uns einige Daten im Vergleich an!

 

 

Quelle: EUROSTAT sowie US-Census Bureau

Dargestellt ist hier der Anteil der Arbeitskräfte im Sekundären Sektor. Das ist von Bedeutung. Denn das bestimmt in gewissem Ausmaß auch das Bewusstsein der Bevölkerung mit. Der Anteil der Wertschöpfung weicht davon ab, teils sogar beträchtlich. In Österreich und der BRD stimmt er allerdings nicht schlecht überein. Allerdings wechseln die beiden Wirtschaf­ten in der Wertschöpfung den Platz: Ist der Anteil der Beschäftigten in Industrie und Gewerbe in der BRD etwas höher als in Österreich, so dreht sich dies bei der Wertschöpfung um (BRD: 30,2 %; Österreich 30,6 %, beide Daten allerdings von 2008). Das bedeutet nichts Anderes, als dass die Produktivität in der Industrie in Österreich vergleichsweise höher ist.

Der bürokratische Neoliberalismus von Brüssel baut offenbar tatsächlich auf einer anderen Struktur auf, als sie in Deutschland oder Österreich gegeben ist.

Die alten Ideologen der fast verblichenen sowjetorientierten Kommunistischen Parteien haben stets vom STAMOKAP, vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus, gesprochen. Sie haben allerdings nie eine wirkliche Theorie zustande gebracht. Ihre Bemühungen erschöpften sich weitgehend in Beispielen und noch mehr Beispielen für die Abhängigkeit der Politik von den Konzernen. Diese Demonstration der konkreten Verhältnisse ist zwar notwendig und aufschlussreich. Aber sie reicht nicht aus.

Was wir hier miterleben, ist ein Qualitäts-Sprung in den Strukturen, die bisher schon vorhanden und angelegt waren.

Die Politik in der Form des übernationalen und (USA) überregionalen bürokratischen Staats übernimmt auf einer Meta-Ebene die eigentliche Geschäftsführung im System, belässt die operative Führung und die Gewinne aber bei den Unternehmen. Die (Groß-) Banken über­nehmen eine spezifische Rolle. Sie verteilen jene Gewinne innerhalb der Elite, welche sie vorher aus der eigentlichen Produktion (Industrie und Gewerbe, Distribution, personen- und unternehmensorientierten Dienstleistungen) abgeschöpft haben. Aber das ist ein harter Kampf, und der läuft im Wesentlichen über Spekulation. Lassen wir uns nicht durch das Vokabel "Investoren" täuschen: Es sind schlichtweg Spekulanten.

Schon seit dem 19. Jahrhundert versuchten die Banken, diese Rolle zu spielen. Auch damals nahmen sie schon die Politik in ihre Dienste. Man braucht nur zu lesen, was Marx 1850 schreibt ("Klassenkämpfe in Frankreich"). Das "Hilferding'sche" Finanzkapital ging einen Schritt weiter. Es versuchte, die Produktion und das ganze System in Eigenregie zu leiten. Das Ergebnis war die Krise von 1929, der Aufstieg des Faschismus und der bzw. die Weltkrieg(e).

Nun haben wir eine neue Stufe erreicht. Der supranationale bürokratische Staat wünschte eigentlich, dem neuen Finanzkapital die Führung zu überlassen, weitgehend auch die poli­tische: Dazu diente u. a. die Währungsunion, aber auch die diversen Banken-Regulierungen (Basel I und II). Bei der WTO zeigt sich schon, dass der Staat auch ihnen unentbehrlich ist. Insbesondere die großregionale und globale Ebene ließ sich ohne ihn nicht machen.

Und nun zeigte sich: Das neue Finanzkapital hat sich der ihm zugedachten Verantwortung weitgehend verweigert. Der Kampf um den schnellen Profit ist zu aufreibend, und die Konkurrenz zwischen den Banken zu mörderisch.

Die Bürokratie musste wieder eingreifen, und das tut sie resolut. Die diversen nationalen politischen Klassen aber sind gespalten, in sich und unter sich. Das Neuauftauchen des Ordo-Liberalismus zeigt dies recht deutlich. Der Versuch politischer Allianzen – die AfD versucht, an die britischen Konservativen anzudocken – weist über die rein deutschen Verhältnisse hinaus. Ob dies funktionieren kann oder wird, ist freilich eine andere Frage.

 

Eucken, Walter (1959 [1952]), Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Hamburg: Rowohlt.

Friedman, Milton & Rose (1990), Free to Choose. A Personal Statement. San Diego: Harcourt, Brace & Co.

Hilferding, Rudolf (1973 [1909]), Das Finanzkapital. Eingeleitet von Eduard März. Frankfurt / M.: Europäische Verlagsanstalt.

 

19.11.2013