„Keynesianismus“ im supranationalen Staat?

30.11.2014
Von A.F.Reiterer
Von der nationalen Politik zur Propaganda-Floskel

Die politische Auseinandersetzung ab den 1980er Jahren, die neoliberale Wende im Westen, lief ideologisch nicht zuletzt als ein Kampf zwischen Keynesianismus und Monetarismus ab, oder wie sich Michael Mann (2001) ausdrückte: „Keynes pretends to rule within the nation-state, Adam Smith still rules without.“ Mit dieser passenden Wendung stellt sich die Frage: Kann es einen transnationalen oder supranationalen Keynesianismus überhaupt geben? Welche strategische Bedeutung diese Frage hat, ergibt sich schon aus einer spezifischen heutigen Situation: Die Oppositionellen des Systemimmanenten ziehen mit Keynesianismus als Alternative durch die Lande, ob im deutschsprachigen Raum oder auch in Südeuropa.

Keynes schrieb seine „Allgemeine Theorie“ 1936 im Rahmen eines Nationalstaats und eines ˗ zumindest in den hoch entwickelten Zentren ˗ nationalstaatlich organisierten Weltsystems. Das war für ihn eine derartige Selbstverständlichkeit, dass er diese Voraussetzung gar nicht diskutierte. Und auch nach dem Zweiten Weltkriegs, als er prominent, aber nicht sehr erfolg­reich an politischen der Debatte um die Gründung der Bretton Woods-Institutionen und damit den Rahmen des künftigen Weltsystems beteiligt war, stand diese Voraussetzung nicht zu Debatte. Dieses Weltsystem würde einen US-Hegemon haben. Aber dieser Hegemon war selbst wieder ein Nationalstaat.

Der neue Präsident der EU-Kommission, Jean Claude Juncker, hat im Oktober 2014 bekannt­lich ein 300 Mrd. Investitions-Programm angekündigt. Er hat zwar den Begriff Keynesianis­mus vermieden. Aber alle haben begriffen, dass er ein keynesianische Programm vorschlagen wolle. Es war offenbar der Preis für die Zustimmung der Sozialdemokraten zu seiner Wahl.

Aber sehen wir uns dieses „keynesianische Programm“ an! Es ist eine pure Mogel-Packung. Die letzten Illusionen hat der Vizepräsident der EIB, Wilhelm Molterer, im ORF-Mittags-Journal vom 27. Nov. 2014 beseitigt. 300 Mrd. € oder auch 315 Mrd. klingen nach einer großen Masse, nach viel Geld. Aber es sind gerade einmal 3 % des BIP in der €-Zone. Und diese 300 Mrd. sind nun auf ein Fünfzehntel reduziert, auf 20 bis 21 Mrd. im vorgeschlagenen EFSI (Europäischer Fonds für strategische Investitionen), also auf 2 Promille. Weiters ist es unklar bzw. sehr zu vermuten, dass dies nur umgetaufte Gelder aus anderen Programmen sind. Nicht mehr benötigte Reserven der EIB sollen 5 Mrd. bringen, Garantien aus Mitteln bestehender Programme des EU-Haushalts den Rest. Auch das sagt fast Alles. Schließlich sollen sie im Wesentlichen in der bisher auch schon gegebenen schmutzigen Form als Ban­kengeschenke und -subventionen ausgegeben werden: als Garantien, „Erstverlustabsicherung“ durch nachrangige Kredite, Zinsbeihilfen und in ähnlicher Weise. Es sind die typischen Mittel einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik auf Sparflamme.

Aber es stellt sich die Frage: Ist ein keynesianisches Programm in einem supranationalen Staat, in einer transnationalen Welt überhaupt möglich? Was wird mit dem Juncker-Molterer’schen Anstößchen passieren? Wer wird das Geld ausgeben und wofür? Die einzig realistische Vorgangsweise ist, dass die nationalen Mitgliedsstaaten die Durchführung über­nehmen. Damit wären wir schon wieder auf der nationalen Ebene. Welche Staaten? Die am wenigsten realistische Möglichkeit ist, dass sie in den Oliven-Gürtel gelangt, z. B. nach Griechenland, wo der dringlichste Bedarf vorhanden wäre. Hier kommen wir in alle Wider­sprüche der EU hinein. Es wäre eine Politik, die nicht nur der bisherigen Vorgangsweise der Troika diametral widerspräche. Da diese Politik ja fundamental auf die Markt-Mechanismen setzt, würden Firmen, die darauf einsteigen, am ehesten noch dort investieren, wo es das geringste Risiko gibt ˗ in Deutschland, in Österreich, in den BeNeLux-Ländern, in Skandinavien.

Noch viel unrealistischer sind Vorschläge, welche wir aus Frankreich gehört haben. Sie sind eine Mischung aus Naivität, ja geradezu Dummheit, und Frechheit. Man fragt sich, wie ernst sowas gemeint sein kann. Die BRD möge zum Ausgleich für französische Austeritäts-Maß­nahmen sich ein wenig stärker verschulden und 50 Mrd. investieren. Dies wird auch noch in einer Zeit gesagt, wo im Deutschen Bundestag eben Minister und ihre MdB-Marionetten Elogen auf „die schwarze Null“ singen; man vergleiche die deutschen Medien um den 26. und 27. November!

Wäre aber in einer abstrakten, wohlwollenden supranationalen Struktur ein keynesianischer Ansätz möglich? Allein die Frage zeigt schon, dass man diese Struktur höchst künstlich konstruieren müsste, bevor man eine Antwort gibt. Sie beantwortet sich damit von selbst als völlig abwegig.

Kurzum: In einer supranationalen Entität, die dazu aufgebaut wurde, um die „Freiheit des Kapitalverkehrs“ zu garantieren, und wo diese Freiheit die Achse ist, um die sich Alles dreht, ist keynesianische Politik schlichtweg unmöglich. Damit ist aber auch Alles über die politische Stellung jener gesagt, die einen EU-Keynesianismus berufen. Bei nicht wenigen Befürwortern dieser Politiker fragt man sich: Wie ernst meinen sie es selbst? Ist dies nicht einfach ein weiterer Propagandatrick der Sozialdemokratie auf der Suche nach ihren verlorenen Wählern?

Und die USA? Es ist seit Jahrzehnten vom Militär-Keynesianismus die Rede. Zur Zeit des Ronald Reagan hatte dies Wort noch einen gewissen Sinn. Die Zuwächse für das Militär-Budget gegenüber der Periode vorher waren gewaltig, und sie wurden auf Pump gemacht. Nach dem angeblich monetaristischen Reagan hatten die USA Staatsschulden wie selten zuvor. Mittlerweile verrät die Phrase eher geistige Trägheit. Zum Einen geben heute selbst die dortigen Eliten nicht mehr in diesem Ausmaß Geld für Rüstung aus, wie noch in den 1980er. Man hatte nach 1990 von der Friedens-Dividende gesprochen und damit die möglichen Ein­sparungen im Militär dank des Zusammenbruchs der UdSSR gemeint. Es war zwar immer hauptsächlich eine Propaganda-Phrase. Aber in fast allen NATO-Staaten sind die Rüstungs-Ausgaben doch etwas gesunken. Auch der US-Hegemon hat einfach nicht mehr dieselben Mittel zur Verfügung, und hat somit die sinkenden Ausgaben in Westeuropa nicht durch eigene Mehrausgaben kompensiert. Allein das spricht schon gegen den Begriff. Denn er beinhaltet immer staatliche Mehrausgaben zur Kompensation einer Nachfragelücke.

Überdies ist Rüstungswirtschaft höchst kapitalintensiv. Das hat natürlich auch seinerzeit schon gegolten. Es ist nun kein Zufall, dass keynesianische Programme stets in Infrastruktur-Vorhaben, gewöhnlich vor allem die Bauwirtschaft gehen, in auch heute noch vergleichsweise arbeitsintensive Branchen.

Einen Keynesianismus in einem halbwegs vertretbaren Sinn des Worts von den USA zu erwarten, ist naiv. Ihr Keynesianismus-Ersatz war die Immobilien- und Konsum-Blasse der Bush-Ära. Die führte schließlich zur Subprime- und zur allgemeinen Banken-Krise und schließlich zur Situation von heute.

Eine keynesianische Wirtschaftspolitik ist in einem supranationalen Staat und auch in übergroßen Nationalstaaten jedenfalls auf Marktbasis unmöglich. Der Keynesianismus ist vielleicht noch eine sozialpolitische Beruhigungs-Pille und ein Propaganda-Floskel. Er hat als politisches Programm einer systemimmanenten Wirtschaftspolitik in einer globalen Welt ausgedient.

30. November 2014