Ein neuerlicher Paradigmenwechsel ˗ oder wie man das so nennt

12.04.2015
Von A.F.Reiterer
Die Konservativen, die Sozialdemokraten und Piketty

Auf die Banken-, Finanz- und die Eurokrise gab es zwei Reaktionen. Die konservative mainstream-Antwort war: Augen zu und durch. Never waste a crisis! Politisch ist diese Haltung die einzige von Belang. Die Finanz-Oligarchie und die Eliten haben nicht gezögert. Sie haben die Gelegenheit am Schopf gepackt. Das Ergebnis ist der ökonomische und soziale Crash im Süden, die weitere Verlagerung von politischen Kompetenzen nach oben, die weitere Entdemokratisierung im Kern unseres politischen Systems und insgesamt die unhaltbare Situation von heute.

Einige systemkonforme Intellektuelle haben so halb und halb begriffen: Da könnten sich Probleme stellen. Sie gehören meist in den Umkreis sozialdemokratischer Tradition. Daher haben sie auch das Ohr einiger Akteure aus der politischen Klasse. Die Sozialdemokratie hat zwar ihre konservative und neoliberale Wende längst hinter sich. Doch es gibt, zwar kaum in ihrer Kerngruppe, wohl aber am älteren und jüngeren Rand, vereinzelt Individuen, die beunruhigt sind. Sie ahnen ein Problem. Aber sie begreifen seinen Charakter nicht recht und suchen Antworten, noch ehe ihnen eine Diagnose gelang. Und das ist der Kreis, aus der sich dann die sozialdemokratischen €-Turbos rekrutieren. Ein Muster dafür ist Thomas Piketty. Aber bevor wir uns ihm widmen, müssen wir versuchen, das Problem zu umreißen.

Der politische Paradigmen-Wechsel Ende 1970er / Mitte der 1980er sah die neokonservative / neoliberale Wende weg vom politischen Keynesianismus hin zur Politik des ungebremsten Finanz-Kapitalismus. Er ging einher mit der Niederlage der Sozialdemokraten. Die Gründe dafür können hier nur gestreift werden. Die Folge war eine vollständig auf die Interessen des internationalen Groß- und Finanz-Kapitals ausgerichtete Politik. Diese nahm in Europa die Form einer Transformation der EG in die EU, des Handelsblocks in einen supranationalen Staat an, der eine neue Staats-Qualität darstellt, das Imperium, dessen Vollendung sich in der €-Zone heraus bilden sollte.

Das zentrale Problem war und ist, und das steckt auch hinter der Niederlage sozialdemokrati­scher Politik: Der Strukturwandel der (post-) modernen Gesellschaft machte den bisherigen politischen Mix des Vorsorgestaats zunehmend kostspieliger, zugleich aber ineffizienter, für die Menschen unbefriedigend.

Gehen wir für ein Beispiel einige Jahrzehnte zurück: Als die Pensions-Versicherung und staatliche Altersversorgung in den 1950ern für alle Lohnabhängigen eingeführt wurden, waren die Renten / Pensionen so bemessen, dass sie eigentlich nicht die Lebenshaltung deck­ten. Sie waren ein gewichtiger Zuschuss zur individuellen und zur Vorsorge durch die Familie. In der Folge wurden die Pensionen zunehmend ausgebaut und wurden damit zum eigentlichen Einkommen der Pensionisten. Der Familialismus als Altersversorgungs-System funktioniert in einer sich individualisierenden Gesellschaft mit zunehmender Erwerbsarbeit auch der Frauen auf dem Arbeitsmarkt immer weniger. Aber für die alleinige Deckung der Lebenshaltung waren und sind sie häufig doch ziemlich knapp, mit Ausnahme einer zuge­geben starken Gruppe von in dieser Hinsicht Privilegierten. Viele, vielleicht sogar die Mehrheit müssen sich im Alter deutlichst einschränken. Altersarmut gibt es nicht erst seit Edlinger, Schüssel und Hundsdorfer. Trotzdem wachsen die Kosten, und die Oligarchen und ihre politischen Marionetten singen uns ständig das Lied vom Tod des Pensionssystems vor.

Der neoliberale Paradigmenwechsel hat langsam, diffus, oft schwer erkennbar, aber mit einigem Erfolg versucht, diese Probleme durch eine konsequente Politik der Gesellschafts­spaltung zu "lösen". Die Grundidee ist einfach: Das oberste Viertel der Gesellschaft wird gehätschelt und einbezogen. Der Rest soll den Mund halten, arbeiten und sodann auf einem sehr niedrigen Grundniveau versorgt werden.

Aber auf der einen Seite ist selbst das den Oligarchen und den Eliten noch zu teuer. Anderer­seits ist ein ziemlich großer Teil der Gesellschaft nicht bereit, da auf Dauer mitzumachen. Wir stecken also in einer Sackgasse: eine Situation, wo die oben nicht mehr so können, wie sie wollen, und die unten nicht mehr mitmachen wollen. Das wäre nach Lenin eine revolutionäre Situation. Soweit sind wir noch nicht, vor allem nicht im wohlhabenden nordwestlichen Kern unseres Kontinents.

Aber ein latentes und immer akuteres Problem gibt es, innerstaatlich und international. Und das haben die sozialdemokratischen Intellektuellen erkennt.

Ihr Vorschlag heißt: Die Bürokratisierung unserer Gesellschaft muss konsequenter vorangetrieben werden. Sie muss internationalisiert werden ˗ das haben sie noch aus ihrer Tradition. Die Sozialdemokratie war seit je die Partei der bevormundenden Bürokratie. Heute stimmt das auch mit der neoliberalen Richtung überein. Konkret heißt das: Aufbau einer patrimonia­len supranationalen Bürokratie; die weiß, wo es lang geht. Sie nimmt die notwendige Umver­teilung zwischen Nord und Süd vor: über eine Vergemeinschaftung der Schulden und eine stärkere Zentralisierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Aus ihrer Tradition aber weiß die Sozialdemokratie auch: Das braucht heute einen demokratischen Anschein. Also muss man ein (Pseudo-) Parlament aufbauen und ihm mehr Kompetenzen geben. Dort sitzen ohnehin fast nur "wohlwollende" Angeordnete; und die, welche am Anfang vielleicht noch unsicher sind, die dreht man sehr schnell um. Das geht leicht. Denn die Rückbindung an das nationale Elektorat ist nicht gegeben. Einmal gewählt, richten sie sich nach ihren Peers aus.

Den gesellschaftlichen Strukturwandel gibt es. Und es gibt die Notwendigkeit eine neue Politik zu überlegen und zu durchdenken. Es braucht einen neuen Paradigmenwechsel ˗ um in dieser Sprache zu bleiben. Wie der aussehen kann und soll, muss in einer seriösen Debatte heraus kommen. Und die wird lange dauern. Sie ist keineswegs nur eine Debatte unter Intellektuellen. Sicher, die müssen einbezogen werden; wozu sind sie schließlich vorhanden? Aber es ist eine zutiefst politische Debatte, in welche die gesamte Bevölkerung einbezogen werden muss. Wie dies aussehen kann, ist eine andere Frage.

Denn der entscheidende Punkt ist: Das ist eine höchst dialektische Angelegenheit. Die meisten Menschen wollen nicht entmündigt werden. Neue Ansätze werden Selbstbestimmung und Selbstverwaltung der Betroffenen beinhalten müssen. Aber auf der anderen Seite wird der Vorsorgestaat auch neue Aufgaben übernehmen müssen. Dabei werden Mehrkosten anfallen. Ich sehe schon: Die Eliten schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Woher soll das Geld kommen? Haben wir doch ohnehin schon ein Fiskal- und Schuldenproblem.

Die Mittel sind vorhanden. Jahr für Jahr streifen die Superreichen einen größeren Anteil vom sozialen Reichtum ein und vergeuden ihn. Das muss nur abgeschöpft werden, zurückverteilt an die Menschen. Man komme uns nicht mit dem Fetisch der "zu hohen Staatsquote"! Ob die Abgabenquote (Österreich 2014) bei 43,7 % liegt oder bei 47 % macht qualitativ keinen Unterschied. In Belgien und Dänemark liegt sie auch jetzt schon dort, und man wird uns nicht weiß machen, dass es diesen Ländern deswegen schlechter geht.

"Aber wir haben doch gerade eine Steuerreform gemacht, damit die Leute mehr im Börsel haben!" Von einer Reform ist bei diesem Täuschungsmanöver mit tatkräftiger Mithilfe der Gewerkschaften keine Rede. Aber darüber haben wir schon oft gesprochen. Hier geht es nur um Eines: Selbst im Rahmen dieses Systems gibt es keinen Grund, die parasitären Eliten zu verschonen, wenn man damit der Bevölkerung das Leben erleichtert.

Piketty ist einer der ganz wenigen Sozialdemokraten, der das noch sagt. Aber ansonsten ist er geradezu ein Modell für sozialdemokratische Intellektualität. Er hat, vermutlich durch Zufall, sich akademisch auf die Einkommens-Verteilung und die Ungleichheit spezialisiert. Dabei begann er empirisch zu arbeiten und hat die Entwicklung der letzten Zeit in aller wünschens­werten Klarheit dargestellt. Überdies versuchte er nicht, sich in der Art vieler seiner Fach-Kollegen, vor allem aus den USA und Großbritannien ˗ Sala-i-Martin ist ein klassisches Beispiel, der ehemalige Reagan-Berater Martin Feldstein natürlich auch ˗ um die Fragen zu drücken und in zynischer Weise zu fragen: Wo liegt das Problem (vgl. auch Wade 2007)? Die Folge war sein Welt-Bestseller. Der müsste in seinem Erfolg eine schrille Alarm-Glocke für die Herrschenden sein.

Wegen Piketty selbst brauchen sie sich allerdings keine Sorgen zu machen. Dieser angebliche "Marx des 21. Jahrhunderts" (copyright: die neoliberale Journaille) hat schon im Bestseller selbst dokumentiert, wo er steht. Um das klarer zu machen, hat er gerade ein Büchlein nach­geliefert.

"Die Schlacht um den Euro"

Stellen wir zuerst klar: Für den Titel kann er nichts. Diesen äußerst deutschen Titel mit dem Flair des neuen Preußentums der BRD seit 1990 hat der Verlag Beck erfunden ˗ im Original heißt das Büchlein: "Kann man Europa retten?" Ich finde übrigens, man sollte den Eliten diesen Gebrauch des Worts Europa nicht streitig machen. Manche Wohlmeinende halten die Gleichsetzung von EU und Europa für eine Anmaßung. Ich glaube, es ist nur realistisch: Das ist Europa, dieses Konstrukt der Eliten und ihrer Nachbeter.

Diese neue deutsche Einkleidung ist vielleicht keine Zweitrangigkeit. Aber es bleibt auch genug, was der Autor wirklich selbst zu verantworten hat. Die Lektüre ist durchaus unerfreu­lich. Da sind die endlosen und oft wörtlichen Wiederholungen seiner Hauptaussagen und Hauptvorschläge. Der wichtigste ist: Es muss eine "Vergemeinschaftung" der Staatsschuld geben. Die wiederum muss von einem europäischen Finanzministerium und einem "Senat" beaufsichtigt und gesteuert werden. Denn eine "Zentralbank ohne Regierung" sei "eine von Anfang an schlecht durchdachte Konstruktion... In ruhigen Zeiten mag dies gerade noch gut gehen, aber in Krisenzeiten kann es direkt in die Katastrophe führen" (16 f.). Und er meint naiv: "Theoretisch hätten [die Länder der €-Zone] Stabilität gewinnen müssen ˗ was ganz offensichtlich nicht der Fall ist." Und daher sorgt er sich, dass "es sehr schnell sehr schwierig werden [wird], den € in Frankreich zu verteidigen" (19). Und damit kommen wir zu dem, wo­nach er systematisch nicht fragt: Warum ist der € für ihn den gar so wichtig, so unabdingbar? Dies fragt er erst gar nicht, denn die Antwort würde ihn in Schwierigkeiten bringen.

Es ist wirklich ein Glück für die französischen Sozialisten und die UMP, dass es den Front National gibt. Denn diese Partei hat immer noch Schwierigkeiten, den Nazismus des alten Le Pen abzustreifen, wenn sich auch seine Tochter bemüht. Man braucht also nicht mehr argu­mentieren, man kann einfach auf den FN hinzeigen: "Der FN ist gegen den € und die EU!"

Das Hauptproblem nicht nur von Piketty, sondern aller seinesgleichen, etwa auch etwa des Österreichers Stefan Schulmeister, der hier eine ähnliche Rolle spielt, ohne dass er auch einen solchen Wurf gemacht hätte wie Piketty, ist: Sie gehen davon aus, dass die €-Konstruktion ein vermeidbarer Fehler der Eliten war, "schiere Dummheit" (86), "Europa ist da uns zu schüt­zen" (104). Dabei versteht er unter "uns" nicht die Spekulanten, sondern die Bevölkerung. Sie nehmen schlicht die Dokumente, die wir alle einsehen können, nicht zur Kenntnis. Denn die besagen: Die "innere Abwertung", die Senkung des Lebensstandards der Arbei­tenden, der Crash-Kurs, das war das Ziel der WU. Freilich hätten Eliten und Politiker gerne eine estnische Haltung der Bevölkerung gehabt: Sie soll das alles willig mitmachen und zu Lohnsenkungen und Sozialabbau freudig nicken. In diesem Punkt haben sie geirrt ˗ aber nur in diesem, nicht etwa in der Auswirkung des €.

Aber die Bevölkerung hat begonnen sich zu wehren. Und noch etwas haben die Berliner und Brüsseler Damen und Herren falsch eingeschätzt: Sie verließen sich auf Politiker wie Prodi. Er und die Sozialdemokraten in Italien begannen tatsächlich mit dem von Berlin-Brüssel gewünschten Kurs des Leistungsabbaus, "Sparen" heißt dies auf politisch. Folge war, dass Berlusconi die Wahlen gewann. Überhaupt ist das Phänomen Berlusconi ohne diese Politik nicht zu erklären. Denn der wusste wohl: Er musste seiner Klientel immer wieder was zuschanzen. Und mit ihm tricksten die Politiker der anderen schwächeren Wirtschaften, in Griechenland, Zypern, Spanien. Das Hemd war ihnen näher als der Rock. Sie wollten wieder­gewählt werden, und das lief eine Zeitlang ja auch. Das war der Vorlauf für die heutige Krise.

Und die Antwort? "Man keine €-Bonds schaffen und dann jeder nationalen Regierung die Entscheidung darüber überlassen..." (19). Auf gut Wienerisch: Da könnt' ja jeder kommen! Aber die bösen Politiker, ganz egal ob Sarkozy oder Hollande, "[sind] nicht bereit, auch nur ein Quäntchen der Macht abzutreten" (106). Was bedauerlicherweise schreiend falsch ist. Wann haben je nationale Politiker auf einem Schritt und ohne die Bevölkerung zu konsultie­ren, die nationale Befugnis über Steuer- und Wirtschaftspolitik in dem Maß abgetreten, wie mit dem "europäischen Semester", mit dem Fiskalpakt?

Und wie begründet er seine Sicht? Wir in Europa haben eine Staatsschuldenkrise, die USA und Großbritannien aber haben sie nicht, obwohl sie höhere Schulden haben. Und zwar warum? Weil bei uns für einzelne Länder die Zinsen auf 5 % gestiegen sind. Bei allem Respekt: Das ist bereits frech.

Die Zinsen für die Staatsschuld lagen in der Vor-€-Zeit wesentlich höher als heute, auch in Italien und in Griechenland. Doch die Regierungen fuhren einen expansiven Kurs. In Italien war das Wachstum hoch. In Griechenland hat dies nur halb funktioniert. Aber wenigstens gab es keinen Crash-Kurs. In Südeuropa wurde die inzwischen höchst reale Staatsschuldenkrise durch die Wirtschaftspolitik allgemein und den € im Besonderen erzeugt. Wir haben dies oft genug dargestellt.

Im übrigen Europa aber hat man künstlich eine Staatsschuldenkrise herbei politisiert. Dazu diente zum einen das berüchtigte Maastricht-Kriterium der 60 % (Schuldenstand) und auch der 3 % (laufendes Defizit). Damit schuf man einen Referenzwert, der in seiner Höhe völlig willkürlich war. Aber er hat als self-fulfilling prophecy gewirkt. Er wurde Wirklichkeit, weil er systematisch herbei geredet wurde und sich schließlich auch die Spekulanten an ihm orien­tierten. Heute beziehen ihn ganz selbstverständlich auch die Rating-Agenturen in ihre "Gut­achten" ein. Ohne dies gäbe es im nordwestlichen Kern nicht den Schatten einer Schuldenkrise.

Piketty befürwortet übrigens ziemlich offen eine Politik der Entschuldung durch Inflation. Das ist für manche Keynesianer nicht untypisch. Ich halte es für den Versuch, einer "Fünfer-und-Weggli"-Politik, einer Politik, die sich nicht konsequent zu sein traut, die das eine tun und das andere nicht lassen möchte und daher aus dem Hinterhalt agiert. Das ist nicht selten tatsächlich Ursache für Inflation gewesen. Es ist sehr fraglich, ob dies wiederum funktio­nieren würde. Man kann die Situation einer Deflation nicht mit der Nachkriegs-Situation in einem besiegten Land vergleichen, wie er es dem Sinn nach tut. Im Übrigen: Wenn die deutsche Politik irgendetwas nicht akzeptieren wird, dann Entschuldung durch Inflation, und zwar die Scheinfreunde des Piketty aus der Sozialdemokratie ebenso wenig wie die deklariert Konservativen.

Es gäbe noch viel Kritisches zu sagen. Da ist die Sprache. "Den Vermögen" geht es gut (11), "die Vermögen" altern (55) ˗ nicht ihre Besitzer. Da sind die vielen wenig konsequenten Vorstöße: Warum ist die Milliarden-Erbschaft der Liliane Bettencourt schlimmer als andere Milliarden-Erbschaften? Usf.

Piketty ist allerdings fast der Einzige unter seinen Fach-Kollegen, der immer wieder eine stärkere Progression der Einkommenssteuer wie auch der Vermögenssteuer befürwortet. Das liegt typischer Weise in seinem Spezialgebiet. Aber wie sehr er damit in seiner Peer-group isoliert ist, zeigt die Reaktion nicht nur von Reaktionären (die Welt vom 8. April 2015), sondern auch von Sozialdemokraten (Bofinger in der BRD). Damit verlässt er nämlich implizit tatsächlich den Hauptstrom des ökonomischen Denkens. Hier argumentiert er nämlich plötzlich jenseits des neoklassischen Dogmas von der Grenzproduktivität, für eine politische Erklärung der Verteilung. Ob ihm das selbst so ganz bewusst ist, würde ich bezweifeln. Dazu ist er in anderen Arbeiten wieder zu tief in den herrschenden Dogmen verankert (beim Versuch, den Kapital-Koeffizienten zu schätzen).

Das analytische Problem seiner wirtschaftspolitischen Vorschläge ist allerdings: Die von ihm befürwortete Fiskalpolitik ist in Richtung Steuerpolitik in der EU nicht nur politisch ganz ausgeschlossen. Sie ist auch überaus schwierig, wie die schüchternen Versuche in Frankreich vor ein-zwei Jahren gezeigt haben. Denn das setzte "ökonomische Souveränität" voraus, und die ist nicht mehr gegeben.

Und die Folgerung?

Kommen wir zurück zum eigentlichen Problem! Das heißt nicht Piketty als Person und als Autor. Es ist vielmehr Piketty als liberaler, sozialdemokratischer Intellektueller. Es ist seine Welt-Konstruktion, seine Problem-Wahrnehmung und seine politische Lösung dafür. Das ist wahrhaftig eine komplexe Angelegenheit, persönlich, analytisch, politisch. So können wir unsere Aufmerksamkeit hier nur auf ein oder zwei Aspekte richten.

In Frankreich gab es seinerzeit das Schlagwort vom trahison des clercs, den "Verrat der Intel­lektuellen". Das richtete sich hauptsächlich gegen die Stalinisten der Zwischenkriegszeit und auch der 1950er. Über die nationalistische Hetze eines Großteils der europäischen Intellekt­uellen vom Schlag eines Maurice Barrès oder eines Charles Maurras ging der Autor dieser Schrift großzügig hinweg. Aber nicht zufällig stammt von ihm auch eine andere Schrift, auch aus der Zwischenkriegszeit, in den 1990er wieder neu aufgelegt, die "Rede an die europäische Nation" (Benda 1993 [1933]). Das ist also sein Ausweg aus dem Dilemma zwischen Chauvinis­mus und autoritärem Sozialismus.

Im deutschen Sprachraum war und ist diese intellektuelle Haltung noch stärker zugespitzt. Die heutigen Intellektuellen wissen, dass ihre Vorläufer eine hohe Verantwortung für die ärgsten Verbrechen in diesem Raum trugen. Aber sie werden an diese Traditionslinie ungern erinnert. So geben sie nicht ihren Anspruch auf, wiederum die Zukunft für alle zu gestalten. Aber der Inhalt ihres politischen Projekts hat sich gewandelt. Die heutigen Philosophenkönige, ob nun Soziologen, Ökonomen oder Kultur-Leute, haben anstelle dessen jede Rückbindung an die Identitäten und Bedürfnisse der Bevölkerung aufgegeben. Die intellektuelle Weltgesellschaft existiert. Nun wollen sie den Weltstaat, und als wesentlichen Schritt dazu die "europäische Nation".

Bei Piketty hat dies eine spezielle Note. Er hat die monströse Ungleichheit in den Ressourcen untersucht. Er weiß, dass dies nicht zu rechtfertigen ist. Aber seine Antwort ist eine patrimo­niale Haltung von oben herab. Das erinnert einigermaßen an das absolutistische Motto: "Alles für das Volk, nichts durch das Volk!" Man könnte es auch die maoistische Haltung nennen, obwohl er mit Maoismus sicher nichts am Hut hat: "Dem Volke dienen" unter dem Mantel des globalen Patrimonialismus.

Zum Dasein als Intellektueller gehört eine eigene Kultur, kein Zweifel. Es ist unaufrichtig und darüber hinaus lächerlich, über die starken Proletarier-Körper zu schwärmen. Darin liegt also der Vorwurf an den Großteil der Intellektuellen nicht. Aber der notwendige Paradigmen­wechsel in der postmodernen Gesellschaft kann nicht über die Köpfe der Menschen, über ihre fundamentalen Interessen und Wünsche hinweg statuiert werden. Die elitäre globale Gesellschaft und ihre europäische Ausformung, dieser bürgerliche, intellektuelle Stalinismus, ist ein neuerlicher "Verrat der Intellektuellen".

11. April 2015

 

Literatur

Benda, Julien (1993 [1933]), Discours à la nation européenne. Paris: Gallimard.

Feldstein, Martin (1999), Reducing Poverty, not Inequality. In: The Public Interest 137 (www.nber.org/feldstein/pi99.html).

Piketty, Thomas (2015), Die Schlacht um den Euro. Interventionen. München: Beck.

Pinkovsky, Maxim / Sala-i-Martin, Xavier (2009), Parametric Estimations of the World Distribution of Income. NBER Working Paper 15433.

Sala-i-Martin, Xavier (2002), The World Distribution of Income (Estimated from Individual Country Distributions). NBER Working Paper 8933.

Wade, Robert H. (2007), Should We Worry About Income Inequality? In: Held, David / Kaya, Ayse (2007), eds., Global Inequality. Patterns and Explanations. Cambridge: Polity Press, 104 ˗ 131.