Demokratie und Selbstbestimmung als Schlüssel für den Frieden in der Ukraine

11.06.2015
Von Wilhelm Langthaler
Aufruf an die Öffentlichkeit und Forderungen an die österreichische Regierung

Seit vergangenem Jahr erleben wir in der Ukraine einen Konflikt, der zeitweilig bereits zum Bürgerkrieg eskaliert ist. Er droht abermals auszubrechen und birgt die Gefahr der Ausbreitung über die Grenzen des Landes hinaus, in dem er Russland gegen Westeuropa stellt.

Allzu schnell wird hierzulande der Bösewicht dingfest gemacht und an das traditionelle Feindbild aus dem Kalten Krieg angeknüpft. Der Blick auf die inneren Ursachen und vor allem auf die Beteiligung des „Friedensprojekts Europäische Union“ bleibt verstellt.

Wir rufen zur Besonnenheit und Selbstreflexion auf. Gleichzeitig wollen wir den offiziellen Antifaschismus beim Wort nehmen. Warum das Schweigen, wenn es um das Wiederaufleben historischer Konfliktlinien geht, in denen der deutsche Nationalismus und insbesondere der Nationalsozialismus eine gewichtige Rolle spielte und Kontinuitäten nicht von der Hand gewiesen werden können?

Unterschiedliche Definitionen der Ukraine

Der ukrainische Nationalismus ist eine der wesentlichen historischen Strömungen in der Geschichte und der Gegenwart des Landes, zu dem sich beträchtliche Teile der Bevölkerung – vom Nordwesten in den Südosten mit abnehmendem Gewicht – bekennen. Er steht für eine Integration in die westlichen Machtzentren und verband sich historisch mit dem österreichischen und deutschen Imperialismus. Dies schlägt sich heute in starken rechtsradikalen Tendenzen nieder, über die man hierzulande beharrlich schweigt.

Auf der anderen Seite steht ein gewichtiges russisches oder prorussisches Bevölkerungssegment, das sich als Teil der „Russischen Welt“ versteht. Er war nicht bereit unter einem rechten, ukrainisch-nationalistischen Regime zu leben, das ihm die elementaren Menschenrechte verweigerte – symbolisiert durch die versuchte Aberkennung des Status des Russischen als regionaler Sprache. Sie leisteten Widerstand, der aufgrund der Unversöhnlichkeit des neuen Kiewer Regimes die Form eines Aufstands annahm.

Was weniger bekannt ist: eine Mehrheit wollte sich nicht zwischen Ost und West entscheiden, sich nicht entweder als russisch oder als ukrainisch bekennen müssen. Dieser schweigenden Mehrheit wird vom neuen nationalistischen Regime die Artikulation verweigert. Dafür sorgt der Terror der rechten Milizen, die zur Einschüchterung nicht davor zurückschrecken kritische Journalisten zu ermorden wie zuletzt Oles Busina. Die westlichen Medien reagieren fast mit Verständnis, denn die Opfer wären prorussisch gewesen.

Dass dies System hat, zeigt die offizielle Reaktion Kiews: Oppositionelle mögen sich doch bei ihren Äußerungen zurückhalten, denn man könne für ihre Sicherheit nicht garantieren. Das ist auch der tiefere Sinn des Massakers von Odessa vom 2. Mai 2014. Dort verbrannten rechtsradikale Milizionäre unter Duldung der Sicherheitskräfte rund 50 Oppositionelle – bis heute ohne Strafverfolgung. Den demokratischen Westen kümmert das wenig. Für seine freien Medien sind beide Seiten gleichermaßen Schuld. Tatsächlich ging es darum, oppositionelle Meinungsäußerung mit aller Gewalt im Keim zu ersticken. Dort sind Neonazis insbesondere dann zweckdienlich, wenn die ukrainischen Nationalisten wie in Odessa in der Minderheit sind – denn sonst drohte ihnen ein Aufstand wie in Donetsk und Lugansk.

Ausländische Einmischung

Geschwindigkeit und Tiefe des Konflikts wurde jedoch stark vom ausländischen Eingreifen bestimmt. Und auch dabei wird sofort auf Russland gezeigt.

Doch das erste massive Eingreifen war das Assoziationsabkommen mit der EU selbst, das eine einseitige wirtschaftliche Orientierung auf den Westen vorsah und die vitalen ökonomischen Verbindungen mit Russland unterbrechen sollte. Für das zwischen Großmachtinteressen zerriebene Land kam das europäische Ultimatum der Provokation einer Teilung gleich. Diese Politik konnte nicht anders als mit russischen Interessen zu kollidieren.. Auch wenn Moskau selbst das demokratische Selbstbestimmungsrecht einiger Nationen und Nationalitäten in seinem Machtbereich missachtete, ist das Bestreben die Nato auf Distanz zu halten vor dem Hintergrund der Weltkriege und des Kalten Krieges eine Form der Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts.

Soziale Katastrophe

Mit dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 wurde der soziale Niedergang auf breiter Front manifest. Das neoliberale Austeritätsdiktat aus Brüssel und Washington führte gleichzeitig zur massenhaften Verarmung auf der einen Seite und zur weiteren Bereicherung einiger weniger Oligarchen auf der anderen Seite, in deren Dienst die mehr oder weniger prowestlichen Regierungen standen. Sozialer Unmut staute sich immer mehr an.

Der Sturz der Regierung Janukowitsch über die Ablehnung der EU-Bedingungen ist insofern paradox, da aus wirtschaftlicher Sicht dies notwendig war, um der weiteren Peripherisierung und Verarmung etwas entgegen zu setzen. Doch die in die EU gesetzten Hoffungen und Illusionen waren zu groß. Der soziale Niedergang beschleunigte sich nach dem vom Westen unterstützten gewaltsamen Regierungswechsel in einen freien Fall, nunmehr ausschließlich zugunsten der westorientierten Oligarchen. Sozialer Protest ist nunmehr unmöglich, wird als unpatriotisch denunziert und von rechten Milizen angegriffen.

So korrupt die Vorgängerregierung war, so sehr verstand sie sich doch auf eine Schaukelpolitik zwischen den Machtzentren. Retrospektiv betrachtet ergibt sich daraus der unerwartete Schluss, dass unter der alten Regierung für alle Seiten mehr Meinungsfreiheit herrschte als heute.

Friedensabkommen

Seit Anbeginn des Konflikts kennt Kiew nur ein Rezept der Rebellion zu begegnen –Krieg gegen die Selbstbestimmung. Es wird dabei vom Westen unterstützt. Es ist kein Zufall, dass die beiden Friedensabkommen Minsk I und II jeweils dann zustande kamen, als die ukrainischen Truppen schwere Niederlagen einstecken mussten. Es ging um die Verhinderung des weiteren Vorrückens der Donbass-Rebellion.

Folgt man den westlichen Staatskanzleien sowie den Medien, dann brächen die prorussischen Kräfte immer wieder das Abkommen. Vermutlich wird das für beide Seiten stimmen, je nach lokalen Bedingungen.

Der politische Grund für das Scheitern ist aber ein anderer: Minsk II sah im Kern einen Autonomiestatus für den Donbass vor – der Schlüssel zum Frieden. Kiew hat indes mehrfach und martialisch klargemacht, dass der Donbass ganz allein ihnen gehöre. Sie rüsten zu einem neuerlichen Angriff nun mit anhebender amerikanischer Militärhilfe, zu dem es wohl bald kommen wird.

Was in Minsk jedoch gar nicht zur Sprache kam, sind die demokratischen Rechte der schweigenden Mehrheit zumindest im Süden und Osten weit über den Donbass hinaus.

Unsere Forderungen gegen den Krieg

Die Zweite Republik Österreich und ihre verfassungsmäßige Neutralität sind aus einem Staatsvertrag zwischen Ost und West hervorgegangen. Diese Tatsache sowie unser antifaschistischer Grundkonsens prädestiniert Österreich für eine neutrale Vermittlerrolle. Daher müssen auch die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden. Aus den historischen Katastrophen des vergangenen Jahrhundert lernen wir: niemals mehr Krieg gegen Russland. Das heißt auch: keine Nato-Expansion in den Osten.

Für die Politik gegenüber der Ukraine selbst bedeutet das nicht nur die Anerkennung der Vertreter der Donbass-Revolte als Konfliktpartei, sondern noch viel mehr die Forderung nach der Widerherstellung der demokratischen Rechte der Mehrheit mittels eines breiten Prozesses der Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Wien, im Juni 2015

W. Langthaler ist Mitbegründer des Österreichischen Personenkomitees Frieden für die Ukraine