Inner-syrischer Versuch eines Brückenschlags: Dezentralisierung

21.05.2016
Breitgefächerte Gruppe schlägt konstitutionelle Prinzipien vor
Vom 27.-29. April 2016 trafen in der Friedensburg im burgenländischen Schlaining über zwei Duzend Syrerinnen und Syrer mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen. Ziel war es, Wege zu einem Gesellschaftsvertrag zu sondieren, der einen Waffenstillstand abstützen kann und den tieferen, dem Bürgerkrieg zugrunde liegenden Konflikt an der Wurzel zu fassen vermag. Die Kernaussage: Dezentralisierung.
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Die „Allsyrische Beratung zur zukünftigen syrischen Verfassung“ fand unter dem Schirm der internationalen Initiative „Peace in Syria“ statt. Diese wurde im frühen Stadium des Konfliktes gegründet, als offensichtlich wurde, dass die Volksrevolte sich in einen Bürgerkrieg mit zunehmendem konfessionellem Moment wandelte. Die Basis der Initiative ist zum einen der Grundsatz, ausländischen Interventionen entgegenzuwirken, zum anderen das Recht auf Selbstbestimmung zu verteidigen. Seit den frühen Anfängen teilen wir die Meinung vieler Syrer, dass Militarisierung und Konfessionalismus Hand in Hand gehen. Es war unsere Absicht all jenen eine Plattform zu bieten, die nach einer politischen Lösung in dem historischen Dreieck von abweichenden Interessen suchen, an deren Ausgleich das Regime von Assad gescheitert ist: dem sunnitisch-islamischen Pol mit seinen politischen Bestrebungen; den kurdischen Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung; sowie den säkularen Kräften, die auf einem Block von all jenen Komponenten basieren, die den politischen Islam fürchten und sich oft auf das Erbe des Panarabismus beziehen.

Seit ihrer Gründung hat die Initiative „Peace in Syria“ dieses Ziel mit zahlreichen Aktivitäten verfolgt, sei es bei „allseitigen“ Zusammenkünften, bei Delegationen nach Syrien oder bei getrennten Treffen mit den sich bekämpfenden Seiten beziehungsweise deren zivilgesellschaftlicher Umgebung.

Der Schwerpunkt der letzten Konferenz war die Diskussion über die Elemente einer Verfassung, die von der großen Mehrheit aller Seiten oder zumindest von den Hauptsäulen der Gesellschaft akzeptiert werden könnte. Obwohl diesmal die beiden extremen Pole beiden Seiten den Beratungen ferngeblieben waren, überspannte die Veranstaltung dennoch einen großen Spektralbogen: von sunnitischen Gelehrten nahe an der Ulama; über Kurden von beiden Seiten der politischen Trennlinie; Linksintellektuellen verschiedener Schattierungen, von denen einige weiterhin für eine Reform des Regimes von innen heraus eintreten; Angehörigen der verschiedenen konfessionellen Identitäten sowie Mitglieder der Itilaf (Syrian National Coalition). Es ist das erste Mal, dass das Abschlussdokument von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern unterzeichnet wurde. Dies zeigt eine große Kompromissbereitschaft.

Die Diskussionen drehten sich um die Bedeutung von Dezentralisierung und deren mögliche Ausgestaltung in Bezug auf die Rechte der Kurden, die Rolle des Parlaments sowie der Präsidentschaft. Neben gleichen Bürgerrechten unabhängig von jedweder Zugehörigkeit, wurde das Konzept kollektiver Rechte einzelner Identitätsgruppen (national, ethnisch, konfessionell) diskutiert. Frauenrechte einschließlich einer Quotenforderung fanden ihren Weg in die Deklaration, während die Beziehung zwischen religiösem und zivilem Personenstandsrecht auf spätere Beratungen vertagt wurde.

Die Quintessenz zusammengefasst aus der Sicht eines ausländischen Beobachters: Die Abtretung und Verteilung zentraler Macht auf vielschichtige und überlappende Komponenten der Gesellschaft ist der Weg um das zerrissene gesellschaftliche Geflecht zu reparieren und nationale Einheit wiederaufzubauen. Dies ist die Voraussetzung zu einem Frieden, der nicht nur darauf aufbaut, den Kuchen zwischen den regionalen und globalen Mächten aufzuteilen, sondern dem syrischen Volk zumindest eine gewisse Mitsprache einräumt und einige seiner demokratischen und sozialen Forderungen realisiert. Alle Teilnehmer, allen voran die Syrerinnen und Syerer genauso wie das internationale Organisationskomitee sind überzeugt, dass die Initiative weiterhin einen Beitrag zur Entwicklung eines Gesellschaftsvertrag leisten soll, der einst im Rahmen verfassungsgebenden Versammlung festgeschrieben werden könnte.

Wilhem Langthaler, Mitgründer und politischer Berater von PeaceInSyria.org

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Abschlusserklärung der Konferenz über eine „zukünftige syrische Verfassung“

Syrische Persönlichkeiten – Politiker, Juristen und Aktivisten der Zivilgesellschaft –unterschiedlicher politischer Ausrichtungen, aus verschiedenen Regionen Syriens und diversen syrischen Gruppierungen, folgten der Einladung der Internationalen Initiative „Peace in Syria“, www.peaceinsyria.org, und nahmen an einer Konferenz teil, um über eine Reihe von Verfassungsprinzipien zu diskutieren und damit zu den Bemühungen um das Erarbeiten einer Verfassung für das zukünftige Syrien beizutragen und den Weg für einen Grundkonsens zwischen allen Teilen der syrischen Gesellschaft zu ebnen.
Die Konferenzteilnehmer einigten sich auf folgende Empfehlungen, die ihre eigene Sichtweise widerspiegeln:

1- Syrien ist ein demokratischer nicht-sektiererischer Staat, der auf den Grundsätzen voller und gleichwertiger Staatsangehörigkeit, auf politische, Pluralismus und Dezentralisierung bei der Gewaltenaufteilung zwischen Zentral- und Regionalregierungen aufgebaut ist und die Einheit des syrischen Staatsgebiets aufrechterhält.

2- Der syrische Staat verpflichtet sich der absoluten und umfassenden Neutralität gegenüber allen Ethnien und Religionsgemeinschaften, respektiert alle Konfessionen und behandelt alle Menschen gleich, ohne sie wegen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, Ethnie, Konfession, ihres Glaubensbekenntnisses oder ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status zu diskriminieren.

3- Einführung der Gewaltentrennung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative und die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz.

4- Alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen haben das Recht nach der Maßgabe ihrer Qualifikationen öffentliche Posten und Ämter zu bekleiden.

5- Das syrische Volk zeichnet sich durch ethnische, religiöse und kulturelle Diversität aus. Es lebt in Eintracht zusammen und setzt sich für das gemeinsame Wohlergehen ein.

6- Die Verfassung garantiert gleiche nationale Rechte für alle Ethnien des syrischen Volkes, und zwar in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen und Konventionen.

7- Die allgemeinen Freiheiten des syrischen Volkes werden in Übereinstimmung mit der internationalen Menschenrechtsgesetzgebung, wie auch gemäß dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und allen anderen internationalen Abkommen gewährleistet.

8- Die Verfassung garantiert die Rechte der Frauen auf umfassende und gleichwertige Staatsangehörigkeit. Der Staat verpflichtet sich, Frauen zu ermöglichen, am öffentlichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben zu partizipieren. Außerdem verpflichtet sich der Staat, Frauen als Entscheidungsträgerinnen zu fördern. Ferner sollen Frauen in allen eingesetzten und gewählten Gremien mit einem Anteil von mindestens 30%, der bis zum Gleichstand angehoben werden kann, vertreten sein. Weiters garantiert der Staat Frauen das Recht, ihre Staatsbürgerschaft an ihre Ehemänner und Kinder weiter zu geben und die Rechte der Kinder im Einklang mit internationalen Abkommen zu gewährleisten.