Blutiger Berberfrühling

07.05.2001

Zum Aufstand der Jugendlichen in der Kabylei

Blutiger Berberfrühling
Zum Aufstand der Jugendlichen in der Kabylei

Seit am 18. April ein 18-jähriger Jungendlicher in einer Polizeistation eines kabylischen Dorfes umgebracht wurde, erlebt Algerien und vor allem die Berber-Region Kabylei die schwersten Unruhen seit Jahren. In weniger als zwei Wochen zählt man zwischen 42 und 80 Toten (die Angaben weichen naturgemäß voneinander ab) und mindestens 572 Verletzte. Die Gendarmerie ging mit unbeschreiblicher Gewalt auf die demonstrierenden Jugendlichen los und schreckte nicht davor zurück, mit scharfer Munition und in Kopfhöhe in die aufgebrachte Menge zu feuern. Dementsprechend zügellos und ungebremst machte sich der in langen Jahren der Polizeiwillkür und -gewalt aufgestaute Hass der Jugendlichen Luft, die Algerien tagelang mit Barrikaden und Straßenkämpfen nicht zur Ruhe kommen ließen.
Selbst die größte Oppositionspartei aus der Kabylei, FFS- Front der Sozialistischen Kräfte - konnte der losgebrochenen Wut der Jugendlichen wochenlang nicht Herr werden.

Die Unruhen sind Ausdruck der tiefen Krise, in der sich Algerien befindet. Hohe Arbeitslosenraten (unter den Jugendlichen im arbeitsfähigen Alter spricht man inzwischen von 2/3 Arbeitslosen), zunehmende Verarmung (40% der Algerier leben unter der Armutsgrenze) paaren sich mit der politischen-gesellschaftlichen Unterdrückung durch das Regime und der unglaublichen Arroganz der Armee, der eigentlichen Machthaberin des Landes. In der Kabylei, die nicht anders als die übrigen Regionen Algeriens vom sozialen Elend und der Wirtschaftskrise betroffen ist, kommt zu diesen Faktoren der kulturelle Kampf um die berberische Identität hinzu, die vom Regime seit der Unabhängigkeit 1962 mit Füßen getreten wird, und dass, obwohl die seit der Römerzeit als aufrührerische Region bekannte Kabylei einen entscheidenden Beitrag zur Befreiung Algeriens vom französischen Kolonialjoch geleistet hatte.

Der 21. Jahrestages des sogenannten "Berberfrühlings" am 21. April hat zur Erhitzung der Gemüter zweifellos das seine beigetragen. Als Berberfrühling wird jene kulturelle Emanzipationsbewegung bezeichnet, die im April 1980 aus Anlass des Verbots von kulturellen Veranstaltungen namhafter berberischer Intellektueller durch die Zentralregierung zum ersten Mal organisiert auftrat. Im Mittelpunkt standen dabei die Forderungen nach offizieller Anerkennung der Berbersprache, des Tamazight, als eine der nationalen Sprachen sowie des Berbertums, des Amazighit, der arabischen gleichgestellte Identität.

Die Berber machen rund 20-30% der 30 Millionen starken algerischen Bevölkerung aus. Die Kabylei, die hauptsächlich von Berbern bewohnte Region im Osten Algeriens, zeichnet sich kulturell und politisch durch eine starke linke und aufständische Tradition aus. So waren viele wichtige Führungspersönlichkeiten der FNL (Nationalen Befreiungsfront), die den Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft 1962 schließlich zum Sieg führte, Berber. Hocine Ait Hamed, Mitbegründer und später Gründer der kabylischen Oppositionspartei FFS, war einer von ihnen.

Doch das junge algerische Regime verstand es trotz dieser ausgezeichneten Vorraussetzungen nicht, die Berber durch kulturelle Gleichstellung an den Staat zu binden und sie so auch in weiterem Sinne zu einem politischen Verbündeten der panarabischen, gegen den Imperialismus gerichteten Bewegung zu machen. Folge davon ist heute, dass zweifellos viele Berber-Intellektuelle wieder zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, von der sie sich Laizität und ein Gegengewicht zur forcierten Arabisierung erwarten, neigen und die Armee-Repression gegen die islamistischen Kräfte, die trotz aller reaktionären Züge dennoch einen legitimen sozialen Protest zum Ausdruck bringen, unterstützen.

Wie weit sich das Regime, das einst in den 60er Jahren angetreten war, um aus Algerien ein sozialistisches Land zu machen, tatsächlich von den Massen und ihren Interessen entfernt hat, zeigte die Kapitulation vor dem IWF und seinen Erdrosselungsprogrammen. Politisch manifest wurde das spätestens mit den sozialen Unruhen Ende der 80er-Jahre und dem darauffolgenden Aufstieg der islamischen Bewegungen, allen voran der FIS, deren Massenanhang so augenscheinlich geworden war, dass das Regime sich nicht anders zu helfen wusste, als die von der FIS gewonnen Wahlen zu annullieren.

Seit dem ist Algerien nicht mehr aus der Krise herausgekommen. Präsident Bouteflikas politische Operation aus der Sackgasse des Bürgerkriegs herauszukommen wurde von den Massen angenommen, weil er die Lösung des blutigen Konflikts durch Dialogbereitschaft in Aussicht stellte. Tatsächlich gelang es ihm den Bogen seines Regimes weit zu spannen und in Form der RCD (Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie, zweite große kabylische Partei) sowohl die laizistische Tradition der Kabylei als auch Teile der Islamisten einzuschließen – und damit die à‰radicateurs (die Armeefraktion, die für die "Auslöschung" der Islamisten steht) vorläufig ruhigzustellen . Die jüngsten Ereignisse zeigen allerdings nur zu deutliche, dass auch diese Politik im Grunde nichts anderes war, als der Versuch, das korrupte Regime zu legitimieren, jedoch an den himmelschreienden sozialen Problemen und an der Unterdrückung durch die Armee nichts geändert hat.

In diesem Sinne ist es signifikant, dass die jüngste Aufstandsbewegung nicht in der Frage der kulturellen Identität ihr wichtigstes Anliegen sieht, sondern sich in erster Linie gegen das Unterdrückungsregime der Armee richtet und nach Demokratie und Freiheit verlangt. Wie erdrückend die Polizeigewalt in ganz Algerien gerade von den Jungendlichen empfunden wird, zeigt auch die Tatsache, dass sich in vielen großen Städten Algeriens (unter anderen Algier) auch Nichtberber den Protesten mit Slogans "Das geht uns alle an" und "Wir sind alle Algerier" angeschlossen haben!

Angesichts der Ereignisse sah sich die zweite Berberpartei RCD, die Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie, die 1999 der Regierung beigetreten war, genötigt, aus dieser zurückzutreten. Die Oppositionspartei FFS hat für den 3. Mai zu einer nationalen Protestkundgebung in Algier aufgerufen, die zwar, wie seit Jahren üblich, von den Behörden nicht genehmigt wurde, jedoch aufgrund des hohen politischen Drucks nicht verhindert werden könnte.

Welche Zukunft dem krisengeschüttelten algerischen Regime bevorsteht ist ungewiss. Ob die jüngsten Erschütterungen gereicht haben werden, um Risse in die Allmacht der Armee zu bringen, kann nicht gesagt werden. Die Ereignisse zeigen jedoch deutlich, dass kein Regime, welchen Ursprung und Namen es auch haben möge, auf die Dauer ungestraft und konfliktfrei seine Bevölkerung unterdrücken und auf ihren Kosten leben kann.

Die Aprilereignisse der Kabylei sollten von der internationalen anti-imperialistischen Bewegung auch vor dem Hintergrund der Weltjugendfestspiele, die im Juli in Algier stattfinden sollen, betrachtet werden. Welche Berechtigung hat eigentlich ein Regime, das mit scharfer Munition auf das eigene, unbewaffnete Volk schießt, sich mit jenen Festspielen zu schmücken, die einst das Aushängeschild der kommunistischen Weltbewegung waren?

4. Mai 2001