Körpergröße, Bruttoinlandsprodukt, Gleichheit und Krieg

26.12.2012
Von A.F.Reiterer
Realzynismus könnte man die Aussage aus manchen Daten nennen.

Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg wuchs die Körpergröße von Jugendlichen in Großbritannien und Wales, und die Lebenserwartung der Bevölkerung nahm 1911 – 1921 und dann auch wieder 1941 – 1950 deutlich zu, um 7 – 8 Jahre, im Vergleich zu nur 2 – 3 Jahren im Jahrzehnt vorher und darnach (Floyd / Harris 1997, Sen 1998). Es werden wohl nicht die Kriegshandlungen gewesen sein, welche die Lebenserwartung und diesen Indikatoren für Lebensqualität steigen ließen. Was aber war es dann? Gerade die Körperhöhe und die Lebenserwartung gehören zu den wichtigsten Maßzahlen für Massenwohlfahrt („physical well-being“) – man spricht oft irreführend vom „biologischen Lebensstandard.

Amartya Sen macht keine Umschweife und sagt: „Die öffentliche Versorgung mit Nahrungsmittel und Gesundheitsdiensten war in diesen Jahrzehnten zufällig mit den Kriegsanstrengungen verbunden. … Damit verbunden war ein effizienteres öffentliches Verteilungssystem und eine stärkere Gleichheit, welche durch das Rationierungssystem erreicht wurde“ (S. 3). Getragener drückt es Lord Beveridge aus, welcher gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Grundlinien des Wohlfahrtsstaats entwarf: „Now, when the war is abolishing landmarks of every kind, is the opportunity for using experience in a clear field…The scheme proposed here is in some ways a revolution, but in more important ways it is a natural development from the past. It is a British revolution.” Also: Wenn wir für den Krieg derartige Anstrengungen machen, dann ist es auch wert, dass wir im Frieden versuchen, der Bevölkerung ein lebenswertes Leben zu ermöglichen und die wichtigsten Risiken absichern, gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter oder den Familien-Lebenstzyklus.
Doch holen wir etwas aus!

Manche Wirtschaftshistoriker sprechen von der britischen Industriellen Revolution noch immer als von einem „Rätsel“. Eine Fülle von Rückrechnungen des BIP zeigen: Bereits im 18. Jahrhundert wuchs die Britische Wirtschaft deutlich, bemessen am BIP pro Kopf. Aber von der Mitte des 18. Jahrhunderts weg sank der Lebensstandard der Arbeiter bzw. das Massenniveau überhaupt bis ins 19. Jahrhundert hinein. Auch dass lässt sich, u. a., an der Entwicklung der Körpergröße gut belegen. (Das ist der Hintergrund der Malthus-Ideologie vom unausweichlichen Elend durch Bevölkerungswachstum.) Wie geht das zusammen? Man kann hier mit gutem Grund zurück fragen: Wo ist hier eigentlich das Rätsel? Das zusätzlich erarbeitete Produkt und noch ein bisschen mehr ging an die Oberschichten. Die Verteilung wurde drastisch ungleicher, und zwar bis Ende des 19. Jahrhunderts. Erst etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann auch der Massenstandard zu steigen. Aber eine etwas stärkere Gleichverteilung erfolgte nur im Ersten Weltkrieg und dann wieder im Zweiten Weltkrieg („Kuznetskurve“).

Daraus ergeben sich nun eine ganze Reihe von Fragen und Feststellungen.
Das BIP (pro Kopf) misst offenbar nicht den allgemeinen Wohlstand. Es ist wohlbekannt, dass z. B. in Kerala, Indien, das BIP p.c. deutlich niedriger ist als in den nördlichen Staaten der Union, wo die „Grüne Revolution“ stattgefunden hat, das starke Ansteigen der landwirtschaftlichen Produktivität, oder auch in anderen Staaten der Welt. Man kann es im Jargon der mainstream-Ökonomen so ausdrücken: Das BIP misst die Produktion falsch; das aber führt zu einer Fehlallokation der gesellschaftlichen Ressourcen, sowohl in der Produktion als auch im Konsum.

Das BIP misst „falsch“, nämlich keineswegs notwendig den Wohlstand der Bevölkerung. In einzelnen Bereichen ist dies mittlerweile auch vielen Ökonomen klar geworden, und sie ergänzen die üblichen Produktionskonten durch sogenannte „Satelliten-Konten“: etwa das Konto der Hausarbeit; oder das Konto der Umwelt-Veränderung. Aber im Kern halten sie daran fest, obwohl gerade beim Hausarbeits-Konto völlig klar geworden ist: Jede Aussage hängt davon ab, wie die Hausarbeit bewertet wird. Und da haben wir das Hauptproblem: Die Bewertung, der Wert der Güter und Dienste, hängt von der Verteilung ab. Gerade den Neoklassischen Ideologen mit ihrer Grenznutzen-Wert-Konzept müsste dies auf Anhieb klar sein. Das Arbeitswertkonzept, oder die Kostentheorie des Werts muss man erst mit der Nachfrageseite ergänzen, welche die Klassiker inklusive Marx leider vernachlässigt haben.

Der Wert der einzelnen Güter und Dienste und damit natürlich auch die Summe aller Werte, das BIP. Ist umso stärker verzerrt, je größer die Ungleichheit ist. Da die Nachfrage und nicht das Bedürfnis die Produktion bestimmt, werden immer mehr Luxus-Güter nachgefragt – Güter für jene, welche aus der Abschöpfung des Mehrprodukts, aus der Ausbeutung leben.
Wir wollen hier auf diese im Detail ziemlich schwierigen Fragen nicht eingehen. Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück!

Im Krieg werden die Produktion geplant und der Konsum durch Rationierung so gestaltet, dass auch die Bevölkerung einen Teil abkriegt, jedenfalls in halbwegs zivilisierten Staaten der Gegenwart, früher war es anders. Wie aber ist es in der Krise?

Die Antwort wissen wir. Es wird allerdings einige Jahre dauern, bis wir Daten über die Entwicklung der Körpergröße im Griechenland der Jahre 2011 – 2013 bekommen, falls wir sie je bekommen. Aber wir wissen ohnehin, was passiert und passieren wird: Wir können dies am Russland der 1990er Jahre ablesen. Die Sterblichkeit schnellte dort in dieser Zeit derart in die Höhe, dass es Hunderttausender „überzähliger“ Toter gab. Einige Beobachter, beileibe keine Linken (Therbörn), haben dies auf den Punkt gebracht: Die Jelzin-Jahre haben der russischen Bevölkerung noch mehr Tote gekostet als der Große Stalin’sche Terror in den 1930ern.

Der Herr Schellhorn von der „Presse“ hat daher auch vor einiger Zeit gemeint, man müsse dem Kapitalismus in corpore den Friedens-Nobelpreis verleihen. Recht hat er! Schon Kant hat 1798 gewitzelt, einen ewigen Frieden werde es wohl nur auf dem Friedhof geben. Und es würde gut zur Tradition dieses Friedenspreises passen – eines Preises, der an Henry Kissinger verliehen wurde, der vor Freude darüber zu Weihnachten 1972 gleich verstärkten Bombenterror auf Hanoi und Haiphon befahl; an Yitzhak Rabin und Shimon Peres, damit sie die jüdischen Siedlungen weiter ausbauten und vielleicht für den Großkorruptionisten Yasser Arafat noch ein Trinkgeld übrig blieb; an die EU, vielleicht für den Krieg auf dem Balkan und in Nordafrika; und an Barack Obama, der darauf eine Nobelpreisrede unter dem Motto hielt: Give war a chance! Wie man hört, plant das norwegische Preis-Komitee für nächstes Jahr die posthume Verleihung an Adolf Hitler für seinen Friedensplan von 1939, der ganz Europa ohne Grenzen sehen wollte.

22. Dezember 2012