Haus ohne Hüter

12.11.2004

Die palästinensische Befreiungsbewegung nach Arafat

Der Tod Yasser Arafat wurde in der Nacht vom 10. zum 11. November verkündet. Mit ihm stirbt nicht nur der Präsident des palästinensischen Volkes, sondern auch ein Mann, der für die Palästinenserinnen und Palästinenser ein Symbol war. Arafat verkörperte für alle, Anhänger wie Gegner, den Widerstand des palästinensischen Volkes und die nationale Einheit im Kampf gegen die israelische Besatzung. Seine Stellung als unangezweifelter Führer und sein Charisma als ehemaliger Freiheitskämpfer, der unzählige Liquidationsversuche überlebt und von politischen Gegnern wie Verbündeten respektiert wird, verliehen ihm eine moralische Autorität, die ihn für das ganze Volk zu einer Vaterfigur werden ließ.

Der Tod Arafats bedeutet jedoch für die palästinensische Bevölkerung und Befreiungsbewegung nicht nur den Verlust eines umstrittenen doch geliebten Vaters. Er ist auch das Ende einer ganzen politisch-historischen Periode. Arafat hinterlässt ein Machtvakuum, eine Situation, deren Ausgang ungewiss ist. Es gilt in jedem Fall, will man versuchen die Zukunftsaussichten der palästinensischen Befreiungsbewegung zu verstehen, sich mit einem Palästina zu beschäftigen, in dem die Karten für alle Beteiligten neu gemischt werden.

Machtbasis Balanceakt

Arafats Politik muss in ihrem historischen Kontext betrachtet und verstanden werden. So, wie dies häufig bei Führern von kolonialen Befreiungsbewegungen der Fall ist, war er zugleich Erhalter und Unterdrücker der palästinensischen Befreiungsbewegung. Aus dem Befreiungskampf kommend, wandte er sich später einer Politik des versuchten Kompromisses mit Israel zu. Diese stand zwar im Gegensatz zu seinem Kämpfermythos, doch tat sie letzterem keinen Abbruch. Im Gegenteil, geschickt und im Interesse seines Machterhaltes verstand es Arafat über Jahrzehnte hinweg einen Balanceakt zu vollführen – bereit zu Zugeständnissen an Israel und dessen Schutzmacht USA, doch nicht bereit, die Widerstandsbewegung, aus der er seine Autorität schöpfte und als dessen Führer er nach wie vor akzeptiert wurde, zu liquidieren.

Arafat verfügte als einziger palästinensischer Politiker tatsächlich über die Macht, alle Teile der Widerstandsbewegung unter Kontrolle zu halten. Er war unantastbar, weil das Volk ihn als Führer und als Symbol des Widerstandes ansah. Und doch er war es gewesen, der die Kompromisspolitik mit Israel eingeleitet und umgesetzt hatte. Bereits in den 70er Jahren hatte er der historischen Forderung der palästinensischen Befreiungsbewegung nach einem demokratischen säkularen Staat in ganz Palästina den Rücken gekehrt und mit dem Konzept der Zwei-Staaten-Lösung den Oslo-Prozess vorbereitet.

Als seine Kompromisspolitik im Jahr 2000 in die Sackgasse geführt hatte, sichtbar für die gesamte Bevölkerung keine Verbesserungen, dafür aber eine korrupte Klasse von palästinensischen Neureichen geschaffen hatte, war er klug genug, den letzten Schritt nicht zu machen. Er hielt dem Druck Clintons und Baraks stand und weigerte sich die Prinzipien der palästinensischen Befreiungsbewegung im Austausch für vage Versprechungen zu verraten. Das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, Jerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates sind nicht nur die politischen Grundpfeiler der palästinensischen Befreiungsbewegung. Beide Forderungen haben höchsten symbolischen Wert. Die Vertreibung der Palästinenser 1948, die Naqba, hat für das palästinensische Volk insgesamt Identitätsfunktion. Sie ist zu so etwas wie einem nationsstiftenden historischen Ereignis geworden, denn es ist die Naqba, die die Palästinenser von den anderen arabischen Völkern unterscheidet. Jerusalem als Hauptstadt hingegen ist nicht nur von politischer Bedeutung, sondern als drittheiligste Stätte des Islam auch von religiöser. Diese beiden Forderungen auf dem Verhandlungstisch aufzugeben hätte bedeutet, die nationale und die religiöse Identität des palästinensischen Volkes zu verraten. Arafat wusste, was auf dem Spiel stand, und er war klug genug, seinen eigenen Mythos vom Befreiungskämpfer nicht zu zerstören.

Arafat verließ Camp David für den Westen als Spielverderber, doch er behielt seine Autorität unter dem Volk und damit seine eigentliche Machtbasis. Je mehr Israel ihn angriff und demütigte, umso mehr wurde er zum Symbol des palästinensischen Widerstandes und der nationalen Einheit. Das mussten auch jene Organisationen zur Kenntnis nehmen, die im Laufe des Oslo-Prozesses und in Opposition zur herrschenden Fatah entstanden waren. Die Organisationen des politischen Islam, Hamas und Jihad, waren die eigentlichen Erben der ersten Intifada, denn sie waren die einzigen, die den Kampf gegen die israelische Besatzung nicht aufgaben. Obwohl sie einige Zeit lang von Israel unterstützt wurden, um der palästinensischen Linken den Wind aus den Segeln zu nehmen, gelang es ihnen die Enttäuschung und Wut der Bevölkerung über die leeren Versprechungen von Souveränität und Aufschwung zu kanalisieren. Doch Arafats Unantastbarkeit mussten auch seine politischen Gegner, sowohl die palästinensische Linke als auch die Organisationen des politischen Islam, akzeptieren. Opfer seines undemokratischen Führungsstils, waren sie angesichts der permanenten israelischen Offensive dennoch dazu gezwungen, die nationale Einheit zu bewahren und seine Führerschaft anzuerkennen.

Das war der Grund, warum Arafat trotz zahlreicher Versuche ihn durch hörigere Marionetten zu ersetzen, bis zuletzt de facto Ansprechpartner des Westens blieb. Tatsächlich waren es weder die undemokratischen Seiten von Arafats Regime, noch die Korruption, die ihn die Gunst Israels und der USA verlieren ließen. Im Gegenteil, es war ein Teil des israelischen Planes aus Oslo-Zeiten gewesen, eine korrupte Schicht von Neureichen zu schaffen, die bereit wären, mit Israel zu kollaborieren. Arafats Weigerung, die Widerstandsbewegung zu liquidieren, machte ihn in den westlichen Medien zur persona non grata. Doch der Westen brauchte Arafat, allen Demütigungen und Beschimpfungen als Terrorist zum Trotz. Denn Arafat war eine Garantie dafür, dass die nicht kompromissbereiten Teile des Widerstandes sich nicht durchsetzen, dass die Intifada nicht eskalieren würde. Arafats politische Stärke lag darin, den Volksaufstand gleichzeitig zu kontrollieren und ihn zu schützen. Hätte er die gesamte Widerstandsbewegung entwaffnet und inhaftiert, so wäre damit auch unabdingbar seine eigene Machtbasis verloren gegangen.

Neuverteilung der Macht

Arafat hinterlässt ein Machtvakuum. Seine potentiellen Nachfolger verfügen keineswegs über sein Charisma und seine moralische Autorität. Unter den palästinensischen Organisationen herrscht Klarheit darüber, dass es in aller Interesse liegt, eine Neuverteilung der Macht ohne militärische Auseinandersetzung zu Stande zu bringen. Ein innerpalästinensischer Bürgerkrieg wäre zweifellos das von Israel bevorzugte Szenario zur Lösung des Nahostkonfliktes. Die noch vor dem Tod Arafats initiierten Verhandlungen zwischen den verschiedenen Widerstandsorganisationen sind als Versuch zu werten, eine solche einvernehmliche Lösung zu finden und eine einheitliche nationale Führung einzusetzen. Es gäbe nur einen Kandidaten, der diese nationale Einheit mit ähnlicher Überzeugungskraft verkörpern könnte wie Arafat und der auch die Akzeptanz der islamischen Organisationen hätte. Diesen jedoch, Marwan Barghouti, Führer des linken Flügels der Fatah´, hat Israel wohlweislich zu lebenslanger Haft verurteilt. Es scheint, dass sich die Verhandelnden daher auf Farouk Khadamoui, Vertrauter Arafats und ehemaliger Außenminister geeinigt haben.

Allein, die Frage ist, ob Israel und die USA mitspielen. Denn Israels Wunsch ist es, gerade die nationale Einheit der Palästinenser zu verhindern und zu zerstören. Wie mit dem Rückzugsplan aus Gaza bereits angedeutet, zielt Israel darauf ab, die palästinensischen Gebiete in Bantustans aufzuteilen, um jene urbanen Konglomerate herum, die es mit seinen Siedlungen bereits fast umzingelt hat. Diese Bantustans sollen nach Möglichkeit von Männern angeführt werden, deren politische Qualifikationen nicht über die Bereitschaft zur Kollaboration hinausgehen müssen. Für Gaza ist Israels Wunschkandidat Mohammed Dahlan, ehemaliger Sicherheitschef des Gaza-Streifens und, dem Vernehmen nach, ein in ganz Palästina bekannter Kollaborateur.

Noch ist es allerdings nicht so weit, und darum wird in den westlichen Medien ein anderer Kandidat als Nachfolger gehandelt. Mahmoud Abbas, ehemaliger Premierminister, ist zwar enger Verbündeter der US-Administration, doch gerade deshalb nicht dazu geeignet Arafats geschicktes Machtspiel zwischen Israel und der Intifada weiterzuspielen. Er ist nicht in der Lage die Widerstandsbewegung in gleicher Weise hinter sich zu vereinigen und zu kontrollieren, wie dies Arafat vermochte. Es ist daher höchst unwahrscheinlich, dass die Organisationen des Widerstandes Marionetten wie Abbas als Vorsitzende der Autonomiebehörde akzeptieren werden. Denn viel mehr als die Fatah oder zumindest der Regierungsflügel stehen diese Organisationen unter dem Druck ihrer eigenen Anhängerschaft, die, verarmt, gedemütigt und im permanenten Kriegszustand lebend, keinen wie auch immer gearteten Kompromiss mit Israel hinnehmen wird. Tatsächlich spricht beispielsweise Hamas davon, die Autonomiebehörde beiseite zu lassen, um mit Hilfe einer All-Parteien-Konsultation Wahlen vorzubereiten (1). Hamas´ Ziel ist es also, die nationale Einheit zu bewahren, die Macht allerdings entsprechend den tatsächlichen Kräfteverhältnissen neu zu verteilen.

Ob dies gelingen wird, hängt zum einen vom Verhalten der Spitzen der Autonomiebehörde ab, von denen viele direkte Nutznießer des Status Quo sind, korrupte Beamte und Sicherheitsleute. Von ihnen könnten, unter der Führung Israels, Provokationen in Richtung der Widerstandsorganisationen ausgehen, die auch, im schlimmsten Fall, in einen Bürgerkrieg um die Neuverteilung der Macht münden könnten. Der wesentliche Faktor jedoch ist das Verhalten der israelischen Regierung und Armee.

Israels Chance?

Die instabile palästinensische Situation und eventuelle Ausschreitungen nach dem Tod Arafats könnten für Israel ein willkommener Vorwand sein, um das mit einem Schlag zu vollbringen, was es seit Jahren auf Raten versucht: die endgültige Vernichtung des palästinensischen Widerstandes. Am israelischen Staat sind vier Jahre Intifada nicht spurlos vorüber gegangen. Die Wirtschaftsdaten sind so schlecht wie nie zuvor, die Einwanderung nimmt ab und der zionistische Konsens in der Bevölkerung scheint sich langsam, in politisch unkohärenter Weise aber dennoch stetig aufzuweichen. Das letzte Manöver Sharons, der Gaza-Rückzugsplan, ist zwar nichts anderes als der Versuch, die militärische Besatzung des Westjordanlandes festzuschreiben, eine politische Lösung vom Tisch zu wischen und stattdessen den Weg der Bantustan-Lösung zielstrebig zu beschreiten. Dennoch drückt dieses Manöver bis zu einem gewissen Grad politische Schwierigkeiten des Regimes aus. Sharon war immer ein Verbündeter der Siedlerbewegung. Die Tatsache, dass er diese Klientel nun verraten muss, um sich an anderen Fronten politische Vorteile zu erkaufen, zeugt nicht von Stabilität. Sie zeugt im Gegenteil davon, dass das Regime aufgrund der verfahrenen Situationen in den besetzten Gebieten zunehmend unter Zugzwang gerät und Lösungen präsentieren muss, die das Risiko innenpolitischer Machtverschiebungen beinhaltet.

Die Aufgabe der Siedlungen in Gaza – zumal es sich keineswegs um eine tatsächliche Souveränität handeln würde – hätte zwar keine militärische Schwächung Israels zur Folge, wohl aber hätte sie innenpolitische Implikationen, von denen auch die Armee betroffen wäre. Seit einigen Jahren stützt sich die israelische Armee wesentlich auf einen Mittelbau aus religiösen Zionisten (nicht Orthodoxen), für die jegliche Aufgabe vermeintlichen jüdischen Bodens einem Verrat an Glaubensgrundsätzen gleichkommt. Indirekt könnte durch den Gaza-Rückzugsplan daher die Einheit der Armee wenn nicht in Frage gestellt, so doch einer Erschütterung ausgesetzt werden. Von einer tatsächlichen Gefährdung der innenpolitischen Stabilität kann zwar derzeit noch keine Rede sein, dennoch sind diese Erschütterung prinzipiell nicht unbedeutend für die zionistischen Interessen, stellt doch die Armee das Rückgrat des israelischen Staates im militärischen, aber auch politischen und kulturellen Sinn dar.

Die Umbrüche in den palästinensischen Gebieten könnten für das israelische Regime einen unverhofften Ausweg bieten. Ohne sich auf riskante politische Manöver einlassen zu müssen, hätte es die Möglichkeit der palästinensischen Widerstandsbewegung einen entscheidenden Schlag zu versetzen.

Chance für die palästinensische Befreiungsbewegung

Arafat war ein Symbol der palästinensischen Befreiungsbewegung. Mit ihm stirbt ein Stück ihrer historischer Identität. Sein Tod birgt das große Risiko einer israelischen Generaloffensive, welche, die Gunst der Stunde ausnützend, versuchen könnte, die Widerstandsbewegung nicht nur, wie in der Offensive vom Frühling 2002, ihrer Köpfe zu berauben, sondern sie vollends und physisch zu vernichten. Die antiimperialistische und demokratische Bewegung in aller Welt ist aufgerufen, sich dieser Gefahr mit Entschlossenheit entgegenzustellen, das palästinensische Volk, sein physisches Überleben und seinen politischen Widerstandskampf zu verteidigen.

Andererseits jedoch, so widersprüchlich wie Arafats Politik war, so stellt auch sein Tod nicht nur eine Gefahr für die Widerstandsbewegung dar, sondern eröffnet ihr auch eine Chance. Der Glassturz des Balanceakts, der moralische und politische Imperativ der nationalen Einheit unter der Führung eines letztendlich kompromissbereiten Machthabers hat eine Weiterentwicklung der Widerstandsbewegung verhindert. Zweifellos liegt es auch nach Arafats Tod im Interesse des Widerstandes einen Bürgerkrieg, der alle Beteiligten zu Gunsten Israels schwächen würde, zu vermeiden. Das Wegfallen des Glassturzes eröffnet jedoch die Möglichkeit einer Vereinigung der konsequenten Widerstandskräfte, von der Linken bis zum politischen Islam, in einer gemeinsamen Front. Das politische Ziel einer solchen Front müsste es sein, den Kampf der Befreiungsbewegung wieder auf ihre historische Forderung und, wie sich inzwischen auch in der Praxis bewiesen hat, einzig mögliche Lösung des Nahostkonfliktes, die Schaffung eines demokratischen Staates in ganz Palästina, auszurichten. Ob es einer solchen Front gelingen kann, die so stark vernachlässigte politische Ebene des palästinensischen Befreiungskampfes wiederzubeleben und die stagnierenden Kräfteverhältnisse zu verschieben, wird von einer Reihe unterschiedlicher Faktoren abhängen. Wesentlich wird sein, ob die Interessen des Widerstandes die Oberhand über innere Machtkämpfe behalten werden können. Darüber hinaus wird auch die Frage eine Rolle spielen, ob sich die pro-zionistische Einheit des Westens weiter festigt, oder im Gegenteil ob sie zu bröckeln beginnt. Zu den entscheidenden Faktoren wird allerdings die Entwicklung des irakischen Widerstandskampfes zählen und im Allgemeinen die Solidarität der arabischen Massen außerhalb der palästinensischen Gebiete, deren bisherige Passivität nicht nur die Stärke ihrer jeweiligen korrupten Regime ausmacht, sondern auch die des israelischen und amerikanischen Imperialismus.

Margarethe Berger
11. November 2004

aus: bruchlinien

(1) Vgl. Le Monde, 11. November 2004