Talusa

19.12.2004

von Hanan No-Shi

Vorgestern abend bekamen wir die Nachricht, dass das 2000-Seelen Dorf Talusa bei Assira, ca 5 Kilometer Luftlinie von Nablus entfernt, seit ca. 6 Tagen unter Ausgangssperre ist. Es fehlt dem Dorf an Nahrungsmitteln, an Medizin und medizinischer Versorgung, die Kinder können seit Tagen nicht zur Schule, Studenten nicht zur Uni, die Männer nicht zur Arbeit...

Es bedurfter keiner langen Diskussion unter uns 5 Leutchen, dass wir früh am nächsten Morgen aufbrechen wollten, was wir dann auch taten. Ohne Probleme passierten wir nun schon zum 5. Mal den elenden Beit Iba- checkpoint und waren schon recht bald in Assira. Von hier brachen 4 von uns auf einem Traktor auf, innerlich auf Konfrontation mit Soldaten auf dem Weg ins Nachbardorf vorbereitet. Tatsächlich wurden wir nach 10 Minuten unbequemer aber sehr amüsanter Fahrt gestoppt: der erste flying checkpoint auf dem Weg. Unsere Pässe waren schnell gecheckt, uns wurde die Weiterfahrt gestattet, die Palästinenser wurden ca. 30 Minuten lang aufgehalten. Dann ging es gemeinsam weiter, in Sichtweite des in unglaublich schöner Umgebung liegenden Dörfchens verabschiedeten wir uns von den beiden Traktorfahrern und gingen nun zu Fuss weiter. 500 Meter vor dem Dorf stoppte uns einer der geliebten Border-Police-Jeeps, fuhr unsanft auf uns zu, zwei der Kerle sprangen heraus und herrschten uns an, was wir hier täten. Wir leierten freundlich aber bestimmt unsere Geschichte von den Kinder-workshops herunter, erzählten in ihre Atempausen des Herumkommandierens hinein, dass unsere Weiterreise schon vom commander des ersten Jeeps genehmigt worden war. Es kamen solche Sachen aus dem einen Typen heraus, wie: "We cannot allow you to go there. It is very dangerous for you! We would need 5 Jeeps to come with you to protect you! Look at our Jeep, how damaged it is!! The situation there is really dangerous!! You cannot go there, I tell you. The other soldiers have wrong information. Nobody is allowed there. The army does not allow anyone to be out...". Ich weiss selber nicht, wie Simon und ich es im Endeffekt mit fusseligem Mund geschafft haben, dass sie uns passieren liessen. Auf jeden Fall fanden wir uns 5 Minuten später im Dorf wieder, umringt von supernetten, glücklichen, aufgeregten Menschen (die Sperre war am Morgen gelockert worden), die uns immer wieder ausdrückten, wie glücklich sie seien, dass wir da wären und uns mit ihren Geschichten des Lebens in dem Dorf in den letzten Tagen überhäuften...

Doch unter all dem Freuen sah man deutlichst das Leiden in den müden Gesichtern der Menschen und die Furcht in den Kindergesichtern.

Wir kontaktierten dann den Dorfvorsteher und versammelten uns im Dorfhaus. Anfangs war der Raum überfüllt mit Männern, die alle gleichzeitig ihre Geschichten, Wünsche und Probleme vortragen wollten, es gelang uns irgendwann, einen English-speaker aufzutreiben, konnten dann mit einer limitierten Anzahl von Männern besprechen, was am dringendsten zu tun sei, wie wir sinnvoll sein könnten. Immer wieder wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Schule geöffnet werden muss, die Lehrer aus den umliegenden Dörfern nach Talusa gelangen müssen (diese wurden an den Vortagen wiederholt an den das Dorf von allen Seiten umgebenden flying checkpoints zurückgewiesen. Dies jedoch nicht umgehend: Manche mussten bis zu 5 Stunden auf die Rückgabe ihrer ID`s warten - dies zusammen mit ihren Schülern...Ausserdem waren vor 5 Tagen Soldaten in die Schule gekommen und haben die wenigen dort lernenden Schüler aus der Schule getrieben...),und dass Brot und Milch gebraucht werden.

Nach Ausarbeitung eines Schlachtplans -(übrigens wird jetzt gerade draussen Ausgangssperre von der Armee verhängt - wir sind in Assira wohlgemerkt - und wir hören Schüsse)- machten wir einen Rundgang durchs Dorf, besuchten drei beispielhaft schlimm betroffene Familien. Ich werde die Geschichte der einen in einer anderen Mail wiedergeben. Dann besprachen wir uns noch einmal und teilten uns dann auf. 2 blieben im Dorf, Simon und ich machten uns auf den Rückweg nach Assira, anfangs spazierend, die atemberaubende Umgebung bewundernd, dann wurden wir von einem Lastwagen mitgenommen. Wir wurden dann bald von Soldaten gestoppt, die zu viert auf dem Weg standen, sie kontrollierten die Ausweise, machten sich wichtig, dann durften wir weiterfahren.

Im Dorf organisierten wir weiter, trafen einen der Lehrer, er liess sich auch motivieren, morgen mit seinen Kollegen und Kolleginnenden den Weg nach Talusa zu probieren. Dann kontaktierten wir noch den Arzt, der spricht Deutsch, mit ihm hatte ich einige Male schon am Tag telefoniert, am Ende konnten wir eine mobil clinic für Sonntag organisieren, mit Ärzten aus Nablus und Jenin.

Heute morgen dann um halb sieben verliessen wir das Haus, zuerst zur Bäckerei. Die Männer dort wollten selbst probieren nach einer halben Stunde nach Talusa zu gelangen, um Brot zu liefern. Wir trafen dann die Lehrer, 7 von 15 tauchten auf, zwei Taxen brachen auf. Tatsächlich gelangten wir ohne Schwierigkeiten, sprich Soldaten, ins Nachbardorf! Dort war die Schule schon auf, der Unterricht hätte beginnen können...wenn nicht die grosse Anzahl der Schüler und einige Lehrer aus einem anderen Dorf in der Gegend am checkpoint am anderen Ende des Dorfes aufgehalten worden wären.

Wir brachen zu dritt dorthin auf, ca. 30 Minuten Fussweg. Schon aus der Ferne sahen wir eines der grösseren Militärfahrzeuge und in beide Richtungen der Strasse jeweils ca. 5 Autos und Grossraumtaxen warten. Ca. 100 Personen warteten hier durchschnittlich seit 40 Minuten. Die nächsten drei Stunden verbrachten wir dort, wohl klassisches "checkpoint-watch" betreibend. Und ganz schön glücklich weil erfolgreich. Einige Male konnten wir intervenieren ohne die Situation zu verschlechtern. Schüler, Lehrer, Ärzte und Krankenschwestern konnten Richtung Talusa, Studenten aus Talusa passieren. Halb erfroren machten wir uns dann auf den Rückweg zu einem Zeitpunkt, wo kein Auto mehr wartend da stand.

Gegen ein Uhr dann begleiteten Simon und ich die Lehrer zurück nach Assira, unser Plan war, sie zumindestens durch die checkpoints, die inzwischen zwischen Assira und Talusa errichtet worden waren zu begleiten. Nach 2/3 der Strecke sahen wir einen Jeep auf der Holperstrasse stehen: Borderpolice. Gegen Soldaten inzwischen reichlich immun finden wir diese Typen doch immer wieder richtig abstossend. Tatsächlich bestätigten auch diese Exemplare das Bild, welches ich von vorher hatte. Aggressiv, arrogant bis zum Himmel, einfach ziemlich abartig. Wir beide postierten uns ihnen gegenüber, nachdem sie unsere Pässe durchgeguckt haben und beobachteten sie die nächsten 45 Minuten, wie sie bequem in ihrem warmen Jeep sitzend die Fahrer der in einer Schlange stehenden Fahrzeuge mit den Ausweisen der Insassen herankommandierten, sie zurückschickten, die Pässe 10 Minuten behielten, die Daten notierten, die Fahrer wieder heranbeorderten, ihnen sogar befahlen, die Tür des Jeeps zuzumachen, nachdem diese mitunter wegen des Windes weit aufgegangen war, die Ausweise zurückgaben, in herrischem Ton die nächsten Befehle brüllten. Wie durch ein Wunder waren sie der Sache offensichtlich irgendwann überdrüssig, nach den 45 Minuten verliessen sie den Ort des Geschehens, nicht ohne sich zuvor noch mit einem herangebrausten Jeep der Armee auszutauschen.

Die Autos fuhren nun also wieder problemlos durch in beide Richtungen. Simon und ich entschieden uns, nicht gleich weiter nach Assira zu marschieren, sondern dem Armeejeep zu folgen, der in Richtung Talusa davongebraust war. Tatsächlich sahen wir nach 15 Minuten Fussweg eine Gruppe Männer am Wegrand sitzen, 4 Soldaten in ihrer Nähe, ihr Taxi ein Stück weiter unten. Sie erklärten uns, dass sie seit 15 Minuten warteten, die Soldaten hätten ihre Ausweise abgenommen, sie checkten sie.

(Ich habe einige der Soldaten und Borderpolizisten genervt, aber sie hielten sich alle bedeckt, es sei eine Operation in Gange, sie können keine Auskünfte geben, sie wissen auch nicht, wie lange die Lage noch so bleibe. Die Dorfbewohner ebenfalls sind völlig unwissend und verstehen nicht, was sie verbrochen haben sollen. Die Gerüchte sagen, und das haben einige Soldaten in verschlungenen Nebensätzen irgendwie erwähnt, dass sie auf der Suche nach einer "wanted person" seien, in Talusa und den sie umgebenden Olivenhainen. Tatsächlich haben wir so einige Male Fusstruppen in den Hainen gesehen. Keiner glaubt diese Version der Geschichte, wäre es so, wäre es ein beispielloses Armutszeugnis darüber, wie schlecht die israelische Armee plötzlich funktioniert. Mit ihren unbemannten Flugzeugen, den abgehörten Telefonen, den Kollaborateuren und Spionen überall ist es mehr als unrealistisch, dass sie diese Person nicht am ersten Tag ihrer Operation haben finden können.)

Wir sprachen mit den Soldaten, sie sagten, dass sie nach einigen Minuten die Ausweise zurückgeben würden. Tatsächlich wandelte sich dann die ganze Situation sehr unbefriedigend. Von einem Augenblick zum nächsten - nach ca. 20 Minuten - hiess es plötzlich, keiner dürfe jetzt mehr nach Talusa, dort sei Ausgangssperre verhängt worden. Tatsächlich ist die Lage auch jetzt noch, ca. 4,5 h später genauso, an allen möglichen checkpoints stehen Menschen und wollen zurück nach Hause, die Menschen in Talusa selbst dürfen ihre Häuser nicht verlassen, leider hat auch der Rest der Gruppe in Talusa entschieden, nicht rauszugehen. Die Fahrzeuge, die bei uns standen mussten also alle umkehren, wir konnten hier leider nichts für sie tun. Jegliches Verhandeln war müßig. Der eine Soldat brachte folgendes zum Ausdruck: "Believe me I`d rather be in my home drinking tea with them. I do not want to be here. But what can we do? Some of them want to kill us, of course we have to look for them. That is why we have to check everyone. Each of them could be the one who wants to kill us." (Früher am Tage brachte der eine Lehrer in Talusa folgendes zum Ausdruck: "We are human, we want peace, we want our freedom. I never thought of being a criminal, but now I am 50 years old and I start to think of being one. I cannot stand it any more. When I see how they treat my children, what they do with us I cannot bear it any more.")