Wahlen im Irak

18.02.2005

Das letzte Heilmittel verfliegt ohne Wirkung

Jene, die ihre Stimmzettel in die Urne warfen, stimmten für ein Ende der Besatzung – doch ihre Hoffnungen werden bald enttäuscht werden.

Trotz der Massaker der Besatzungstruppen haben die USA auf ganzer Linie beim Versuch versagt, ein zuverlässiges Marionettenregime mit ausreichendem innerem Rückhalt zu schaffen. Vielleicht haben sie ihre Lektion gelernt und verstanden, dass der wachsende Widerstand des Volkes mit roher Militärgewalt nicht unterworfen werden kann. Politische Schritte sind notwendig, um die Isolation ihres Marionettenregimes in Bagdad zu überwinden. Das letzte übriggebliebene Wundermittel schienen Wahlen zu sein, die Washington ursprünglich vermeiden hatte wollen, aus Furcht vor einer Vormachtstellung nicht von ihnen kontrollierter Kräfte.

Wahlen wurden seit dem Beginn der Besatzung von Ayatollah Sistani gefordert, der führenden Persönlichkeit des schiitischen Klerus und Patron der schiitischen Mittelschicht, bereit, sich mit den USA zu arrangieren. Allerdings wäre der Preis eines solchen Arrangements eine Wahl gewesen, die aller Wahrscheinlichkeit nach Kräfte in die Ämter gebracht hätte, die keine ausschließlichen Marionetten der USA darstellen. Die Interessen der vom Klerus geführten Mittelschicht decken sich mit jenen von Teheran, das zwar einen Konflikt mit Washington, gleichzeitig aber auch ein reines Satrappenregime vermeiden und sogar ein gewisses Maß an Kontrolle über Bagdad erzielen möchte.

Diese Beschwichtigungspolitik Teherans gegenüber Washington ist nicht nur eine Illusion, sondern auch reaktionär. Sie basiert auf dem Gedanken, dass die USA Versprechen und Kompromisse akzeptieren und umgekehrt diese einhalten würden. Es ist die gleiche Illusion, die den jugoslawischen Präsidenten Milosevic dazu brachte, das Abkommen von Dayton zu akzeptieren und große Teile Bosniens der imperialistischen Kontrolle zu überlassen – im Gegenzug wurde Jugoslawien nicht in die "internationalen Gemeinschaft" aufgenommen, sondern im Gegenteil frontal attackiert. Der maßgebliche iranische Klerus nutzt all seinen Einfluss für eine Verhandlungslösung, die den Widerstand beenden soll. Als Gegenleistung hofft er auf die "Nicht-Aggression" der USA. Tatsächlich aber lassen die Dynamiken der Situation auf das genaue Gegenteil schließen. Sollte es gelingen, den Irak in einem imperialistischen Sinn zu stabilisieren, würde der US-amerikanische Appetit auf den Iran in dramatischer Weise zunehmen. Indes ist die beste Garantie für die Verhinderung eine US-Aggression gegen den Iran der tatsächliche Sieg des irakischen Widerstandes. Aber in letzter Instanz fürchtet das klerikale Regime im Iran die revolutionären Folgen solch eines Sieges des Volkes mehr als die Bedrohung durch die USA.

Die Tatsache, dass das Abhalten der Wahlen eine Art Zugeständnis an jenen sozialen Block ist, der politisch vom kollaborierenden Teil des schiitischen Klerus repräsentiert wird, ändert nichts am illegalen und illegitimen Charakter der Wahlen. Allerdings ist es wichtig abzuschätzen, ob die Wahlen den Besatzern dabei helfen werden, ein höriges Regime zu stabilisieren und genügend Unterstützung für dieses zu erhalten, oder nicht.

Von Anfang an war klar, dass die Wahlen eine globale Medienshow werden würden, deren Skript in Washington vorgefertigt wurde. Die erste und wichtigste Meldung, die die Nachrichtenagenturen über den Globus zu verbreiten hatten, war die angeblich hohe Wahlbeteiligung, welche die Boykottkampagne herunterstufen sollte, die nicht nur die sunnitischen, sondern auch wichtige Kräfte innerhalb des schiitischen Milieus umfasste. So gab die Wahlkommission - lächerlicherweise beschönigt durch den Zusatz "unabhängig" - eine Wahlbeteiligung von 72% bekannt. (Verständlich, dass sie nicht erwähnten, dass sie sich mit dieser Zahl nicht auf die teilnahmeberechtigten Wähler bezogen, sondern auf jene, die nach den absolut unzuverlässigen Listen des US-amerikanischen Oil-for-food-Programmes registriert worden waren.) Später mussten sie sich dann auf 60% nach unten korrigieren und schließlich noch weiter hinunter auf 50%. Die wahren Zahlen werden wir niemals erfahren, aber das spielt auch keine Rolle. Wichtig waren nur die ersten Nachrichten, die ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gehämmert wurden.

Den ersten Erfolg konnten die USA allerding nicht im Irak selbst verbuchen, sondern innerhalb der sogenannten internationalen Gemeinschaft und namentlich bei jenen europäischen Mächten, die den Aggressionskrieg nicht aktiv unterstützt hatten. Alle pflasterten sie den Weg für die Anerkennung eines Marionettenregimes, indem sie die Wahlen als einen deutlichen Schritt in Richtung Demokratie bejubelten, und legitimierten auf diese Weise nachträglich Krieg und Besatzung. Man war froh, einen Vorwand gefunden zu haben, um die Kluft zu schließen, die ihre zahnlose Opposition zu den USA geschaffen hatte. Besonders in Deutschland waren die Bourgeoisie und ihre Agenturen in Gestalt der Presse erleichtert, die Rückkehr unter den Schirm der USA bekanntgeben zu können. Tatsächlich war der Hauptgrund, die US-Kriegsmaschinerie nicht zu bejubeln, nicht die oft beschworene imperialistische Rivalität mit den USA, sondern vor allem der Druck von Seiten der überwiegenden Mehrheit der europäischen Bevölkerung, die den Kriegskurs ablehnte. Die herrschenden Klassen haben alles unternommen, um nicht von der imperialen Arroganz Washingtons herabgesetzt zu werden.

Mit Blick auf den Irak selbst ist das Bild ein völlig anderes. Erstens war da der praktisch totale Boykott in den sunnitischen Gebieten im Norden und Westen Bagdads. Zweitens wurde die ohnehin niedrige Wahlbeteiligung durch verdeckte und offene Zwangsmaßnahmen erreicht. Die wohl bedeutendste der angewandten Maßnahmen war die Koppelung der Stimmabgabe an die Ausgabe von Essenskarten, welche für das Überleben eines großen Teils der IrakerInnen unverzichtbar sind.

Trotzdem und obwohl es wichtige Kräfte mit Gefolgschaft innerhalb der schiitischen Gemeinschaft gab, die zum Wahlboykott aufriefen, lässt sich die Festigkeit des schiitischen Blocks von Klerus und Mittelschichten, unterstützt vom Iran, nicht abstreiten, der zur Beteiligung an den Wahlen drängte. Der Einfluss ihrer Positionen wird indirekt bestätigt durch die passive Haltung, die die Bewegung von Muqtada Al-Sadr hinsichtlich der Wahlen einnahm. Hätte er zu einem aktiven Boykott aufgerufen, hätte er die Bemühungen der USA von Anfang an vereitelt. Dem entgegengesetzt standen Repräsentanten seiner Bewegung auf Sistanis Liste, während die Bewegung selbst zur gleichen Zeit keine aktive Kampagne für die Teilnahme durchführte. Die fortgesetzte Ambiguität der Sadr-Führung – halb Widerstand leistend, halb kollaborierend – zeigt, dass sie nicht bereit ist für den entscheidenden Bruch mit dem vom Iran unterstützten schiitischen Klerus. Während aber ohne ihre soziale Basis – die urbanen Unterschichten – ein zukunftsfähiger antiimperialistischer Freiheitskampf unmöglich ist, werden die Massen nicht unter Muqtadas Führung in diesen Kampf eintreten. Er ist es, der einen gewichtigen Teil der Verantwortung dafür trägt, dass bislang keine politische Front des Widerstandes gebildet werden konnte.

Dies bedeutet aber nicht, dass die sadristische Bewegung und alle jene, die gewählt haben, zur Kollaboration übergelaufen sind. Als Muqtada im April 2004 von den USA angegriffen worden war und er – parallel zu den Kämpfen um Fallujah und seiner erfolgreichen Verteidigung - mit einem Aufstand antwortete, brachte er definitiv einen großen Teil der schiitischen Bevölkerung hinter sich. Es waren nicht nur der Kern seiner Anhänger aus der städtischen Armut, sondern auch weite Teile der Mittelklassen, die ihm folgten und den kollaborationsbereiten Klerus dadurch marginalisierten. Letztere spielten nun ihren letzten und einzigen Trumpf aus.

Die meisten derer, die für die von Sistani "betreute" Liste stimmten, wollten ihre Ablehnung der Besatzung und ihre Befürwortung nationaler Souveränität ausdrücken – sie stimmten nicht für die Kollaboration, für welche die Führung steht.

Es ist nur zu offensichtlich, dass die aus den Wahlen hervorgegangene Regierung einmal mehr eine reine Marionette der USA sein wird. Die Besatzer werden nichts anderes akzeptieren. Denn sie haben keinen Spielraum, da sie ansonsten ihre imperialen Entwürfe einschließlich ihrer Aggression gegen den Iran gefährden würden. Deshalb werden alle Hoffnungen der Bevölkerung in die gewählten Institutionen bald verdampfen. Es ist unwahrscheinlich, dass Sistanis Liste, die von Anfang an heterogen war, eine populare Unterstützung für ein gelenktes Regime bereitstellen kann, wie es die Amerikaner verlangen. Im Gegenteil, die Liste wird eher früher als später auseinanderbrechen und die kollaborationsbereiten Kräfte zunehmend marginalisieren. Aber dann wird es keinen weiteren Rettungsanker mehr geben, um den Druck auch der schiitischen Volksmassen zum aktiven Widerstand aufzuhalten. Eine weitere Runde des US-gesponserten Wahlspektakels wird es nicht mehr bringen.

Nur einige Tage nach den Wahlen appellierte Muqtada Al-Sadr an die an der Farce teilnehmenden Parteien, einen schnellen Abzug der Besatzungstruppen sicherzustellen – etwas, was nicht in deren Einflussbereich liegt, da sie entweder die Rolle von US-Marionetten einnehmen oder ihre institutionelle Marginalisierung akzeptieren müssen.

Alles hängt also von der Fähigkeit des Widerstandes ab, eine einschließende politische Front zu bilden. Aber es gibt große Hindernisse. Da ist der exklusive Anspruch der hauptsächlich im sunnitischen Umfeld agierenden nationalen islamistischen und baathistischen Kräfte auf die Führung. Angesichts ihrer militärischen Stärke und auch aus historischen Gründen neigen diese zu einem militaristischen Zugang, d.h. politische Probleme mit rein militärischen Mitteln zu lösen. Das primäre politische Problem ist jedoch, dass die Führung der städtischen Unterschicht, die Bewegung Al Sadrs, wiederholt ihre Zurückhaltung, sich dem Widerstand anzuschließen, gezeigt hat. Die ultimatistische und militaristische Antwort des Widerstandes vertiefte nur die Kluft, anstatt die notwendige Brücke zu den städtischen Unterschichten zu schlagen. Es braucht eine nationale Befreiungsfront, die fähig ist, die historischen Spaltungen, Widersprüche und Fragmentierungen zu überwinden. Das ist nur möglich, indem das Projekt einer demokratischen, verfassungsgebenden Versammlung, die den Volksmassen und ihren unterschiedlichsten Vertretungen eine Stimme gibt, vorangetrieben wird. Nur auf diesem Weg können die kollaborationsbereiten säkularen und klerikalen Führer isoliert und die zögernden Kräfte dazu gebracht werden, sich dem Widerstand anzuschließen.

Gleichzeitig muss der Widerstand verstärkt an die arabischen Massen appellieren, ihren Kampf gegen die pro-imperialistischen Regime zu intensivieren, denn nicht nur der Iran will den Widerstand besiegt sehen, sondern auch die arabischen Regime, die sogar noch mehr den von einem Sieg des Volkes im Irak ausgehenden Impetus fürchten. Die irakische Sache ist direkt verbunden mit der arabischen und insbesondere mit der palästinensischen. Der Kollaborateur Abu Mazen setzt den Ausverkauf der Oslo-Periode fort, ohne dass er im Gegenzug auch nur einen einzigen Bantustan erhalten wird. Auf diese Weise erledigt er nicht nur die Drecksarbeit für Israel durch den Versuch, die standhaften Kräfte des Widerstandes zu unterdrücken, sondern er verrät auch den irakischen Widerstand.

So bleiben alle Augen auf den Irak gerichtet, wo immer noch alles offen ist. Die Besatzer haben ihre mächtigste Karte ausgespielt. Einige Zeit wird vergehen müssen, um die Resultate dieses Manövers verpuffen zu sehen. Dann ist wieder der Widerstand am Zug.

Für ein sofortiges Ende der Besatzung!
Für den Sieg des irakischen Widerstandes!
Nieder mit dem US-Reich!

Antiimperialistisches Lager, 11. Februar 2005