Die Schwäche des bolivarianischen Prozesses liegt in einer Linken ohne eigenes Projekt und Strategi

19.03.2005

Interview mit dem Kommandanten Jerà³nimo Paz der Bolivarianischen Volksbefreiungskräfte – Befreiungsarmee (FBL-EL)

Im Rahmen einer Delegation der Antiimperialistischen Koordination nach Venezuela, die zu den wichtigsten Kräfte der revolutionären bolivarianischen Linken dieses Landes führte, fand ein Treffen mit der politisch-militärischen Organisation der Bolivarianischen Befreiungskräfte – Befreiungsarmee (FBL-EL) statt. Die FBL unterstützen als unabhängige Kraft mit langjähriger Präsenz vor allem in den an Kolumbien angrenzenden Bundesstaaten des Landes den aktuellen Transformationsprozess unter der Regierung von Hugo Chavez. Im folgenden veröffentlichen wir ein Gespräch mit Mitgliedern der Kommandantur der FBL-EL über die Geschichte der Organisation, ihre Analyse der aktuellen Konjunktur und die Herausforderungen für die revolutionäre Linke, in dem die FBL auch die strategischen Gründe für das Aufrechterhalten einer politisch-militärischen Kraft erklären.

Welche Rolle spielt die revolutionäre Linke heute im bolivarianischen Venezuela?

Die Linke hat es noch nicht geschafft sich von dem Rückschlag, den sie mit den Ereignissen 1989/91 in den sozialistischen Ländern erlitten hat, zu erholen. Außerdem haben die Kräfte der revolutionären Bewegung in Venezuela auch die Niederlagen der 70er Jahren nicht überwunden. Das erklärt zum Teil die Spaltung, die heute zwischen den Kräften der Linken Venezuelas existiert. Die alte Linke verfügt entweder über keinen entscheidenden Einfluss auf den Prozess oder sie befindet sich in Opposition zum bolivarianischen Projekt. Deshalb hat sich die Volksbewegung politisch nur sehr begrenzt entwickeln können und reagiert eher auf unmittelbare Herausforderungen als die Ereignisse aktiv zu gestalten. Es gibt interessante Erfahrungen, aber diese sind sehr verstreut. Wir betrachten die Entwicklung einer nationalen Strategie auf der Basis revolutionärer Prinzipien als Teil des Projektes eine revolutionäre Kraft in Venezuela wiederaufzubauen.

Der bolivarianische Prozess ist dementsprechend kein Projekt das von der Linken ausgegangen ist.

Die KPV (Kommunistische Partei Venezuelas) hatte ihre glorreiche Phase im Kampf gegen die Diktatur von Pà©rez Jimenà©z, eine Diktatur die sich in die internationale Strategie der Eindämmung des Kommunismus einreihte. Der Fall der Diktatur war das Resultat von eindrucksvollen Volksmobilisierungen. Die KPV ging aus dem Fall der Diktatur Pà©rez Jimenà©z als stärkste Partei hervor. Aber ihr fehlte eine politische Strategie zur Machtergreifung. Die Bourgeoisie und die rechten Parteien riefen zur Demobilisierung auf und die Führer der KPV verkauften sich der Bourgeoisie indem sie die Wahlen unterstützen. Von 1958 bis 1975 durchlebte Venezuela eine Periode des bewaffneten Kampfes. Aber der Volkskampf war bereits im Rückfluss und die Bourgeoisie fähig, Elemente eines Sozialstaates einzurichten, da ihr viel Geld zur Verfügung stand. Als die MIR (Bewegung der revolutionären Linken) – eine Spaltung der AD (Demokratische Aktion) – das Volk zum bewaffneten Kampf aufrief, stieß dies auf keine Resonanz. Es war eher die Zeit des politischen und sozialen Kampfes.
Diese Niederlagen der Linken führten zu einer Handlungsunfähigkeit als der Kapitalismus und das System von Punto Fijo in die Krise gerieten. Im Februar 1989 kam es zum Caracazo, dem ersten Aufstand gegen das neoliberale Modell, einer spontanen Volkserhebung. Es begann ein Prozess der Reorganisierung, aber die Linke blieb außerhalb diese neuen Dynamik; wie schon 1958 ermangelte es ihr an einem politischen Projekt. Das erklärt die Entstehung des Phänomens Chávez. In den Jahren der sozialen und Volksmobilisierungen hatte sich in der Armee eine neue patriotische Strömung herausgebildet, die am 4. Februar 1992 in Aktion trat. Die Linke betrachtete deren Erhebung mit Sympathie, aber da sie unter einem Mangel an eigenständiger Strategie litt, blieb ihr nichts anderes übrig als hinterher zu laufen, während ein anderer Teil der Linken sich offen gegen die bolivarianischen Militärs stellte. Die venezolanische Linke war immer davon geprägt, der politischen Konjunktur nachzuhinken, was sich heute darin äußert, dass sie dem, was Chavà©z sagt, folgt, aber ohne eigenes Projekt. Das ist eine entscheidende Schwäche des Prozesses.

Wie entstanden die FBL in diesem Panorama einer krisengeschüttelten Linken?

Der Gründungskern kam aus der KPV, ein anderer Teil von den christlichen Basisgemeinden, der Befreiungstheologie, und der dritte Sektor aus den neuen sozialen Bewegungen. Wie erwähnt fehlte es der Linken der 60er und 70er Jahre an einer Strategie zur Machtergreifung. Ende der 70er Jahre wurde uns dieser Mangel an Strategie in der KPV bewusst. Die Partei tendierte dazu, vom Reformismus absorbiert zu werden, sie bewegte sich nur alle fünf Jahre wenn Wahlen anstanden. Als die Debatten innerhalb der KPV begannen, war das Ziel eine Revision der politischen Strategie und Vision. Das Scheitern der Linken erklärt sich immer wieder durch ihren Schematismus. Die KPV hatte keine Analyse und kein Projekt für Venezuela. Es war beinahe verboten Bolà­var zu lesen, da er als Bürgerlicher betrachtet wurde. Die revolutionäre Bewegung hat bis heute diesen Schematismus nicht überwunden, der uns Schwierigkeiten macht die Bedeutung des bolivarianischen Prozesses zu verstehen. Wie Lenin zu seiner Zeit eine revolutionäre Theorie für Russland entwickelt hatte, ist es unsere Aufgabe das gleiche für Lateinamerika im Allgemeinen und Venezuela im Besonderen zu machen. Dies geschieht unserer Ansicht nach durch eine Verbindung von Marx und Bolà­var. Die FBL entstanden ausgehend von diesem Konzept, wir sind bolivarianische Marxisten.
Ein anderes Problem das es zu beachten galt, war das des Volkes. Das Volk muss im Zentrum der Strategie stehen, nicht nur als bloße Losung. Es sind die sich entwickelnden Massen, aus denen der Sozialismus entstehen kann. Die historische Linke beging den Fehler die Revolution zu planen, ohne die Massen in Betracht zu ziehen, ihre Forderungen und ihren Entwicklungsstand. Der politische Aufbau, der von den Massen ausgeht, bringt uns zum Konzept des poder popular, der Volksmacht. Die FBL propagieren nicht den Ansturm auf die Macht, sondern den Aufbau der Volksmacht.
Mitte 1986 fand das erste nationale Treffen statt, genannt Reunià³n del Pozo, im Bundesstaat Zulia, das gleichzeitig das Gründungstreffen war. Während dieser Versammlung wurden die theoretischen Ansätze zur Analyse und zum Verständnis der Realität des Landes entwickelt. Die Erfahrungen aus Mittelamerika waren dabei entscheidend, denn sie zeigten bereits die Wichtigkeit des nationalen Elements, im Falle Nikaraguas Sandino oder Farabundo Martà­ in El Salvador. Ideologisch sehen wir uns als Teil der marxistischen Strömung, aber wir nehmen das nationale Element auf, was für Venezuela Bolà­var ist. Es handelt sich um eine marxistische Interpretation der venezolanischen Realität die sich auf das Volk orientiert, in einer neuen Form, die nicht nur für Parteikader verständlich ist.
Auf dem ersten Treffen wurde auch die Entscheidung gefällt, eine politisch-militärische Organisation zu bilden. Dies basiert auf der Idee, dass die Befreiung früher oder später zu einer Konfrontation mit dem Imperiums führen wird und daher eine politische, militärische und internationale Strategie benötigt. Damals fehlte noch die militärische Ausbildung, es gab in dieser ersten Etappe keine Militanten mit Erfahrungen aus der Guerilla der 70er Jahre. Schritt für Schritt gelang es aber über die Jahre einen militärischen Flügel aufzubauen, der seine Erfahrungen an verschiedenen Schauplätzen sammeln konnte.
Nur sechs Tage nach der Gründung 1986 kam es zum ersten Zusammenstoß mit der politischen Polizei mit einem gefallen Genossen auf unserer Seite. Dieses Ereignis gelangte jedoch nicht an die Öffentlichkeit, da unser Plan einen stillen Aufbau vorsah, um die Bedingungen für das öffentliche Erscheinen der Organisation vorzubreiten, was unserer Analyse nach etwa zehn Jahre dauern würde. Der Putsch von 1992 beschleunigte diesen Prozess. Am 23. September führte eine Einheit unserer Organisation die "Operation Würde" aus, die sich gegen die Korruption richtet, repräsentiert durch Antonio Rà­os, dem Expräsident der CTV (Arbeiterzentrale Venezuelas). In einem Kommunique wurden die Beweggründe der Aktion erläutert und man informierte die Öffentlichkeit über die Existenz der FBL. Damit wurde das Schweigen gebrochen und die Etappe des klandestinen Aufbaus überwunden.
Die Korruption war ein alltägliches Phänomen, das dem Volk bewusst war, und sie ist es nach wie vor. Daher schrieben wir uns den Kampf dagegen auf unsere Fahne, ebenso wie es heute Präsident Chávez tut.

Wie positionieren sich die FBL innerhalb der Kräfte, die den aktuellen bolivarianischen Prozess unterstützen?

Wir sind ein klares politisches Projekt, das sich weiter entwickelt, und wir sehen uns als Teil der kollektiven Avantgarde. Wir meinen, dass Chávez die tatsächliche Führungsrolle im Volk inne hat, daher unterstützen wir den bolivarianischen Prozess, aber auf unabhängige Art und Weise.
Es gibt zwei Aspekte die wir als die Hauptgefahren für den Prozess ansehen, zum einen den Plan Colombia und zum anderen den Reformismus innerhalb des Chavismus selbst. Der bolivarianische Prozess ist nicht homogen. Wegen der Schwäche der Linken drangen in den Chavismus breite Sektoren der Rechten, der IV. Republik, ein. Als Chávez aus dem Gefängnis kam suchte er Verbündete innerhalb der Linken, seine Vorschläge stießen jedoch auf taube Ohren. Auf der anderen Seite reihte sich die kreolische Bourgeoisie, die vom neoliberalen Modell getroffen war, sofort in den chavistischen Prozess ein. Luis Miquelena fand sich an der Seite von Chávez und schuf eine politische Plattform um ihn zu unterstützen. Dies ist Ausdruck der Suche der kreolischen Bourgeoisie nach einem Projekt zu ihrer Rettung. Das Nationalisierungsprogramm, die endogenen Entwicklung und die Anreize für die nationale Wirtschaft sind alles Elemente, welche die kreolische Bourgeoisie stärken. Die Ideen von Chávez gehen jedoch darüber hinaus. Sein Programm ist im internationalen Kontext betrachtet ein revolutionäres Projekt, seine Position gegenüber den USA ist eine Herausforderung für den heutigen Kapitalismus. Es wurde bereits eine gewisse Säuberung der bolivarianischen Reihen erreicht, aber die bürgerlichen Elemente sind weiterhin stark, sowohl wirtschaftlich als auch zahlenmäßig, und sie sind fähig den Prozess zu kontrollieren. Der Klassenkampf findet innerhalb des Chavismus statt.

Was ist die Position von Chávez den linken und revolutionären pro-bolivarianischen Organisationen gegenüber?

Chávez hat kein besonders Vertrauen in die venezolanische Linke, auch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit ihr. Die Linke hatte zum Beispiel versprochen, einen Volksaufstand für den 4. Februar 1992 zu organisieren, in Unterstützung der Militärrebellion von Chávez. Aber die Lastwägen mit Waffen, die in den Stadtvierteln bereit standen, blieben ungenutzt. Außerdem haben sich viele Sektoren der Linken gegen Chávez gestellt. Wir betrachten Chávez als einen Revolutionär, wenn er das nicht wäre, hätte ihn das System längst absorbiert. Fidel Castro hat Chávez einmal geraten mit der Linken zu regieren. Chávez hat ihm zugestimmt, jedoch gefragt mit welcher Linken, wo denn diese Linke sei.
Zum Zweiten muss man das politische Konzept von Chávez verstehen. Sein Gedankengut ist noch nicht auf der Höhe der Anforderungen der Revolution, auch wenn er sich nach links entwickelt hat. Zum Beispiel sprach er früher vom entfesselten Kapitalismus mit der impliziten Alternative eines humanen Kapitalismus, heute spricht er nur vom Kapitalismus und auf dem Weltsozialforum hat er den Sozialismus als Alternative proklamiert. Er entwickelte sich vom Nationalismus zu einem linken Nationalismus, mit Positionen, die von Tag zu Tag revolutionärer werden. Jedoch sind diese Vorstellungen noch nicht in die strategische Konzeption des bolivarianischen Prozesses eingedrungen. Nach wie vor bleiben viele Dinge in den den Militärs eigenen politischen Kategorien verhaftet, die die eigenständige Rolle des Volkes und der Linken nicht schätzen. Ihr grundlegendes Paradigma sind die drei Säulen, persönliche Führerrolle, die Nationalen Streitkräfte als Partei und ein abstraktes Volk. Im Diskurs der patriotischen Militärs findet man eine messianische Konzeption, die auch bei Chávez selbst existiert. Dies spiegelt sich etwa darin wieder, dass er in seinen reden immer wieder sagt, dass er alle Probleme lösen werde, dass er den Willen des Volkes interpretiert und so weiter.

Nichtsdestotrotz spricht man in Venezuela von einem Modell der partizipative Demokratie, einem neuen Modell des Staates.
Diejenigen, die den Prozess führen, vielleicht mit Ausnahme von Chávez, folgen keinem Konzept der Volksmacht, der tiefgehenden Demokratisierung des Staates als integraler Bestandteil der strategischen Ziele. Im heutigen Moment kann man den Prozess als bürgerlich-demokratische Revolution definieren. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, die Volksbewegung zu stärken und ihr Artikulationsmöglichkeiten zu geben, eine ausreichende soziale und politische Kraft zu werden, die die Kräfteverhältnisse umkehren und dem Staat die Volksmacht auferlegen kann, um der Revolution so einen volksdemokratischen Charakter zu verleihen. Die kreolische Bourgeoisie kann Teil des Projektes der nationalen Befreiung sein, aber sie kann nicht dessen Avantgarde sein. Wir verstehen die Revolution in erster Linie als Volksmacht. Der Sozialismus wird in diesem Sinn direkt aus der Massenbewegung aufgebaut. Wenn es nicht gelingt, die Revolution in eine Volksrevolution zu transformieren, besteht die Gefahr einer historischen Niederlage, bei der die venezolanische Nation im heutigen internationalen Kontext selbst ihre Unabhängigkeit als eigenständige Nation zu verlieren Gefahr läuft. In gegenwärtigen Moment ist das Entscheidende, das den Prozess steuernde Element, der Staat. Der Staat, der mit der bolivarianischen Verfassung geboren wurde, aber von der kreolischen Bourgeoisie kontrolliert wird, welche, obgleich sie die Massen nicht kontrolliert, der Volksbewegung keinen Raum lässt, während letztere ihrerseits eingeschränkt ist aufgrund der Schwäche der Linken.

Was sind mögliche Widersprüche und Schwächen der Bourgeoise in der gegenwärtigen Situation, die den revolutionären Kräften erlauben könnten, ihre Position zu stärken?

Das Problem ist, dass das Volk noch wenig organisiert ist und darüber hinausgehend die revolutionären Organisation als solche keine Möglichkeit haben in den öffentlichen Diskurs einzugreifen. Das Volk folgt der Richtung, die Chávez vorgibt, aber ohne Organisation, ohne eigenes Projekt. Die große Fähigkeit von Chávez ist es, dass er versteht die Sprache des Volkes zu nutzen und Vorschläge zu präsentieren, die den Wünschen der Massen nahe sind und als realisierbar wahrgenommen werden. Das Problem liegt darin, die Notwendigkeit eines organisatorischen Prozesses innerhalb des bolivarianischen Projektes, innerhalb des Volkes, zu verstehen. Die derzeitige Konjunktur hat einige neue Räume, auch auf institutioneller Ebene, eröffnet, die eine Stärkung der revolutionären Kräfte ermöglichen und von denen aus eine revolutionäre Strategie entwickelt werden kann. Die Gemeinden zum Beispiel können ein Instrument sein, das es erlaubt einen Referenzpunkt der Volksmacht zu bilden. Aber jede organisatorische Entwicklung leider langsam.

Deutet der jüngste Vorschlag von Chávez in seiner Rede am 4. Februar, eine integrale Volksverteidigung des Landes einzurichten, eine stärkere Integration des Volkes in den Prozess, auch in die Streitkräfte selbst, an?

Das Ziel muss sein, eine kollektive Avantgarde aufzubauen, die die integrale Verteidigung des Landes, den Antikapitalismus, die Vertiefung der Revolution und den Aufbau eines neuen Staates verkörpert. Wenn eine solche plurale Avantgarde entsteht, werden wir als FBL in dieser aufgehen. Die Debatte rund um die neue Verteidigungsdoktrin kann hierfür eine Unterstützung sein. Denn auch in unserer strategischen Einschätzung gehen wir von der Konfrontation mit dem Imperium aus, der Grund, weshalb wir einen eigenen militärischen Apparat aufrechterhalten, und eben nicht um die Macht an uns zu reißen. Innerhalb der Streitkräften hat das alles eine Diskussion provoziert, so weitgehend, dass einige Exponenten feststellten, dass wenn die Dinge so liegen – also eine völlig neue Militärdoktrin sowohl in ihren strategischen Ausrichtung als auch in ihren Instrumenten, ein Konzeption der Volksverteidigung – die FBL mit ihren Überlegungen ja recht haben müssten. Dies zeigt, dass die Linie von Chávez auch in den Streitkräften selbst Widersprüche schafft.

Wie schätzen die FBL die Entwicklung und die Möglichkeiten für die nächste Periode ein, die durch das Herannahen der Präsidentschaftswahlen 2006 gekennzeichnet sein wird?

Das Denken von Chávez hängt sehr von den Kräfteverhältnissen ab. Chávez selbst stellt heute alle entscheidenden Probleme zur Debatte, wie den Antiimperialismus, den Bürokratismus, den Reformismus, die partizipative Demokratie etc., Themen, die der revolutionären Linken eigen sind. Vor dem Referendum erwarteten wir einen versöhnenden Diskurs von Chávez, er hingegen radikalisierte seine Linie und begann eine Attacke gegen die Schwächen innerhalb des Prozesses selbst. Wir Revolutionäre müssen die reale Führungsrolle des Präsidenten verstehen und vorsichtig sein, uns nicht zu weit von ihm zu entfernen. Unsere Hauptkritik ist dass Chávez nicht die Schaffung einer kollektiven Avantgarde fördert, um den Prozess vorwärts zu bringen. Darin zeigt er zu viel Pragmatismus.
Viele Dinge werden auch von der Politik der USA gegenüber Venezuelas abhängen. Wir gingen von der Einschätzung aus, die nächste Periode werde eine relative Waffenruhe bringen, weil Bush mit dem Nahen Osten beschäftigt ist. Jedoch zeigte die Entwicklung der politischen Konjunktur, entgegen unserer Vorhersage, dass die USA nicht warten werden, Aktionen zu setzen die darauf abzielen das "Problem Venezuela" aus der Welt zu schaffen. Das drückt sich etwa im Diskurs über den "radikalen Populismus" von James Hill, Exkommandant des Südkommandos der US-Armee, aus. Wir müssen also davon ausgehen, dass vor den Wahlen 2006 die US-amerikanischen Initiativen sich beschleunigen werden, was die innenpolitische Situation selbst beeinflussen wird. Es kann sein, dass der fundamentale Widerspruch Imperium-Nation für die nächste politische Konjunktur in Venezuela unvermittelt an die Oberfläche kommen und die Debatte zwischen Reform und Revolution prägen wird. Die FBL werden in diesem Szenario präsent sein, denn wir können heute sagen, dass wir nach dem Präsidenten Chávez der Teil der venezolanischen Linken sind, der die am besten organisierte Kraft darstellt.

Venezuela, Februar 2005