Ein Gedicht von Hanan Ashrawi

14.05.2001

Hanan Ashrawi ist wohl eine faszinierende Frau. Sie hat in Ägypten und in den Vereinigten Staaten studiert, lehrte in den Vereinigten Staaten und an dann an der Universität von Bir Zeit, wo sie oft die Studenten gegen Übergriffe des israelischen Militärs geschützt und verteidigt hat, und ist allgemein für ihren unermüdlichen Einsatz für die Menschenrechte bekannt.
Sie war stark durch die Friedens- und Frauenbewegung der 70-er Jahre geprägt und hat all ihr Wissen und ihre ihr durch ihre Herkunft zugekommenen Privilegien (sie stammt aus einer der reichsten Familien Jerusalems) für die Widerstandsbewegung aufgewendet, in der sie, als Verhandlerin, eine moderate, eine Zentrumsposition einnahm. Sie war nämlich neben Faisal Husseini, der der vielleicht berühmtesten Familie von Jerusalem entstammt, eine der Hauptfiguren bei den Vorverhandlungen mit dem US-amerikanischen Außenminister Baker und bei den darauffolgenden Verhandlungen in Madrid.

Ihre Schilderungen über ihre Tätigkeit als Verhandlerin/Vermittlerin zeigen mit außergewöhnlicher Anschaulichkeit die Kräftefelder im palästinensischen Lager und die zwischen den beiden Lagern, zeichnen aber auch ein Bild der palästinensischen Gesellschaft, wie es lebendiger und herzlicher nicht sein könnte. Wenn, dann ist dies die über ihre ehemalige politische Rolle noch hinausgehende Bedeutung: das tiefe und humorvolle und herzliche Verständnis für alle Schwierigkeiten, Widersprüche und auch köstlichen Erfahrungen des Widerstands. Mag man ihre politischen Positionen nicht goutieren - für radikale Nationalisten, also die, die legitimerweise die Befreiung Palästinas von der Besetzung und die Rückkehr der Vertriebenen fordern, ist es unerträglich, daß sie und Husseini schon sehr früh, stets in Absprache mit Arafat, die Zwei-Staaten-Lösung favorisierte; das zweite Element ihrer Persönlichkeit, das wahrhaft Poetische, wird wohl von allen anerkannt werden.

Poesie ist in der palästinensischen Kultur nicht Zierrat sondern ist substantieller Ausdruck von Willen, Erkenntnis - und Bekenntnis, wie es Theorie, wie es die Waffe ist. Und das Liebe, Schöne und Zarte, das vernichtet wird, wird samt dem imperialistischen Akt des Vernichtens Erfahrungs- wie Reflexions-Objekt von Poesie.

Schon in der ersten Intifada schossen die Israelis den Jugendlichen gezielt und bewußt in die Augen - eine Kampfform von nicht zu überbietendem Zynismus. Eine Haltung, ein Verhalten, dem wenige andere Kampfformen an Gemeinheit gleichkommen.

Im vergangenen Jahr wurde ein Scharfschützenbataillon gegründet, das besonders daraufhin trainiert wird, Kindern und Jugendlichen die Augen auszuschießen. Es sollen möglichst viele jüngere Menschen einerseits kampfunfähig und zu Krüppeln geschossen werden, andererseits soll dadurch die Zahl der Todesfälle gering gehalten werden, um der kritischen Presse nicht zu viel Zündstoff zu liefern.

Hier ist die Stimme, hier ist ein Gedicht Hanan Ashrawis.

Vorher erzählt sie aber noch über dieses kleine Mädchen, dem während der ersten Intifada ins Auge geschossen wurde:

"Rasha Houshiyye verlor im März 1988 ein Auge, als sie von einer Kugel eines israelischen Soldaten getroffen wurde. Rasha stand gerade auf dem Balkon in der Wohnung ihrer Großmutter in Al-Bireh nächst Ramallah.

Kurz danach verloren zwei je neun Monate alte Babies auf die gleiche Weise je ein Auge. Zu Beginn des 7. Monats der ersten Intifada hatten bereits 40 Menschen das gleiche Schicksal erlitten - sie waren teilweise erblindet."

Aus dem Tagebuch eines fast vier Jahre alten Kindes.

Morgen kommt der Verband
wieder runter. Wer weiß,
seh ich dann eine halbe Orange,
einen halben Apfel, das halbe
Gesicht meiner Mutter
mit dem einen Auge, das mir geblieben ist?

Ich hab die Kugel nicht gesehen,
aber ich hab es gespürt,
wie der Schmerz in meinem Kopf explodiert ist.
Dieses Bild geht
nicht mehr weg: Der Soldat
mit seiner großen Pistole, seinen
nervösen Händen, und in seinen Augen
war ein Blick,
den ich nicht verstanden hab.

Wenn ich ihn so deutlich
mit meinen geschlossenen Augen sehen kann,
dann sind wohl in unseren Köpfen
noch ein paar Ersatzaugen da,
wenn wir unsere verlieren!

Im nächsten Monat werd ich zum Geburtstag
ein ganz neues Glasauge bekommen,
vielleicht werden alle Gegenstände
in der Mitte ganz rund und dick sein.
Ich hab immer durch meine Glaskugel geschaut,
die Welt hat da ganz sonderbar drin ausgesehen.

Ich hab gehört, daß auch
ein neun Monate altes Mädchen ein Aug verloren hat.
Ob wohl mein Soldat
auch auf sie geschossen hat? Ein Soldat,
der nach kleinen Mädchen blickt,
die ihm in die Augen blicken?

Ich bin schon alt genug, bin schon fast vier,
hab vom Leben schon genug gesehen,
aber sie ist ja noch ein Baby,
versteht das alles ja noch nicht.