Einen anderen Zionismus gibt es nicht

23.05.2002
Je rabiater Scharon vorgeht, desto stärker wird linker Bekenntnisdrang zu Israel
Ein Mitglied des Vorstandes der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und DKP-Mitglied erachtet es als Selbstverständlichkeit eines jeden deutschen Antifaschisten, ein klares Bekenntnis "zum jüdischen Staat, als Staat der Holocaust-Überlebenden" abzulegen. Das ist eine in mehrerlei Hinsicht der Katastrophe im Nahen Osten würdige Position. Weil damit erstens ein innerer Zusammenhang zwischen dem Staat Israel und dem Antifaschismus suggeriert wird. Israel aber ist alles andere als ein antifaschistischer Staat, sondern dessen weitgehende Negation. Dass es in Israel neben Antifaschisten auch Faschisten gibt, müsste eigentlich unter Banalitäten vermerkt werden. Dass der Rechtsradikalen immer mehr werden, lässt sich aus der Zusammensetzung der gegenwärtigen Regierung ablesen.

Zweitens reflektiert diese Position die kaltschnäuzige Unterordnung, besser: Unterwerfung der seit der Gründung des Staates Israel in Permanenz missachteten legitimen Interessen der Palästinenser unter das Primat der zionistischen Staatsräson. Die Palästinenser sind kein Volk von Holocaust-Überlebenden. Deshalb ist Parteinahme für das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung gesinnungspolizeilich erst dann gestattet, wenn die Auflage, ein Bekenntnis zu Israel abzulegen, erfüllt ist. Sollten die Palästinenser den israelischen Unabhängigkeitstag weiterhin als "Tag der Katastrophe" empfinden, ist ihnen die Solidarität zu entziehen.

Ein Staat aus der Retorte

Was einem "deutschen Antifaschisten" so selbstverständlich erscheint, kann und darf den Palästinensern nicht zugemutet werden: Das Bekenntnis zu ihrer Vertreibung, zur ethnischen Säuberung Palästinas als der Grundvoraussetzung für die Gründung eines exklusiv jüdischen Staates. So gerät der Antifaschismus, wie er hier verstanden wird, in einen fundamentalen Gegensatz zum antiimperialistischen Befreiungskampf eines Volkes.

Das Bekenntnis ist drittens auf den jüdischen Staat bezogen, das heißt auf Israel in seiner zionistischen Definition als "Staat des jüdischen Volkes". In seiner Determinante als exklusives Projekt ist der Staat Israel heutiger Definition die radikale Verneinung des Rechtes der Palästinenser auf eine gleichberechtigte nationale Existenz. Es mag zwar in Perspektive ein anderes Israel möglich sein – im Sinn einer palästinensisch-jüdischen Symbiose. Einen anderen Zionismus als den existierenden aber gibt es nicht, in welcher Spielart er auch immer aufzutreten beliebt.

Antifaschistische Pflicht kann es deshalb nicht sein, ein Bekenntnis zu diesem Staat abzulegen. Für Antifaschisten, für die gesamte fortschrittliche Weltöffentlichkeit wäre es vielmehr bereits 1948 ein zwingendes Gebot gewesen, vor dem Bekenntnis zu einem jüdischen Gemeinwesen im Nahen Osten ein Bekenntnis zu den unveräußerlichen Rechten der autochthonen Bevölkerung Palästinas abzulegen. Auch im Sinn einer auf Frieden und Sicherheit beruhenden jüdischen Existenz in der Region, deren stärkste Bedrohung von den Zionisten ausgeht.

Der Zionismus war ursprünglich eine Erscheinung des europäischen Nationalismus an der Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Ebenso wie der ethnische Antisemitismus. Die Entwicklung des modernen Antisemitismus als eine rassistische, biologistische Weltsicht entsprach dem verschärften kapitalistischen Verdrängungswettbewerb. Der Zionismus hat sich der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus stets entzogen. Er bildete vielmehr die jüdisch-nationalistische Entsprechung der von Antisemiten behaupteten Unverträglichkeit von Juden und Nichtjuden in einer mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaft. "Die Antisemiten haben recht", schrieb Herzl. "Juden raus!" – die zionistischen Pläne entsprachen dieser Parole. Den entscheidenden Anstoß zum Auszug der Juden aus Europa gab der faschistische Massenmord an den Juden.

Der Zionismus ist auch ein Kind des europäischen Kolonialismus. Er war von Beginn an ein elitäres Unternehmen. Unterstützung fand er bei den europäischen Kolonialmächten, denen Herzl versicherte, dass der jüdische Staat eine Bastion der europäischen Zivilisation inmitten der asiatischen Barbarei bilden werde. Eine reaktionäre Utopie, die zur materiellen Gewalt werden sollte. "Gebt dem Volk ohne Land das Land ohne Volk", lautete zionistisches Begehren. Über das arabische Volk von Palästina wurde großzügig hinweggesehen. In dieser Anmaßung liegt die Ursache des Nahost-Konfliktes.

Strategisches Bündnis mit USA

Dabei war es von Beginn an keineswegs eine ausgemachte Sache, dass der jüdische Nationalstaat in Palästina entstehen sollte. Die Wahl fiel deshalb auf das "heilige Land", weil der in seinem Ursprung säkulare Zionismus eine Massenbasis nur unter verarmten, religiös gebundenen Juden fand, während die arrivierten, überwiegend freidenkerisch-liberal eingestellten Juden nach Assimilierung strebten. Der Widerspruch zwischen säkularem und religiösem Zionismus prägt die israelische Gesellschaft bis heute. In seiner Schrift "Zur Judenfrage" regt Marx an, "das Geheimnis des Judentums nicht in seiner Religion", sondern "das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden" zu suchen. Er begriff das Judentum als soziales Phänomen und die Emanzipation der Juden als Emanzipation vom Judentum.

Man sollte sich deshalb auch mit dem wirklichen Israel beschäftigen und nicht mit dem ideologischen Konstrukt, das Israel als Staat ausweist, der das Überleben der Überlebenden garantiert, wie das der säkulare "linke" Zionismus postuliert oder als Staat des von Gott zur Herrschaft über Palästina auserwählten Volkes, wie die Legitimationsideologie des religiösen "rechten" Zionismus lautet. Der Staat Israel, die Palästinenser können das aus leidvoller Erfahrung bestätigen, ist ein reales Gebilde. Und dennoch ist die Künstlichkeit seiner Existenz evident. Er ist ein Staat aus der Retorte.

Er ist weniger aus sich selbst heraus entstanden als durch einen Beschluss der UNO, deren weitere Beschlüsse er fortan negierte. Seine Vitalität ergibt sich aus dem strategischen Bündnis mit den USA. Israel entstand als Nationalstaat ohne Nation. Der Staat wird immer stärker, die Entwicklung einer einheitlichen Nation stagniert, weist sogar eine rückläufige Tendenz auf. Das betrifft nicht nur den Dauerkonflikt zwischen dem säkularen und religiösen Charakter des Staates. Es gibt auch einen innerisraelischen Rassismus. Der Zionismus ist ein weißes Projekt, was nicht ohne Folgen auf die "schwarzen" (arabischen und afrikanischen) Juden bleiben konnte. Deren Ruhigstellung – in den 1970er Jahren gab es die Bewegung der "Schwarzen Panther" mit einer starken Affinität zu den Palästinensern – konnte nur durch die Zurückdrängung der säkularen Tendenzen erzielt werden. Für die orientalischen Juden, bei denen das kollektive Gedächtnis an den Genozid in Europa nur eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es keine andere Möglichkeit zur Identifikation als die Religion.

Ein zentraler Widerspruch im Zionismus ist der zwischen seinem säkularen Charakter und dessen religiöser Überformung. Doch außerhalb der religiösen Vorstellungswelt ist eine spezifisch jüdische Identität nicht zu ermitteln. Die Aufhebung des Judentums in den von Marx beschriebenen sozialen Wesenseigenschaften durch seine Verstaatlichung (in Israel) lässt ein anderes Identifizierungsmerkmal als die Religion nicht zu. Im Sinn eines sozioökonomisch determinierten Kollektives gibt es in Israel keine Juden, sondern nur Israelis jüdischer Abstammung. Auf eine paradoxe Weise ist somit die Negation des jüdischen Staates im Zionismus selbst angelegt. Auf den Staat Israel trifft zu, was Marx in der erwähnten Schrift über den "sogenannten christlichen Staat" äußerte, den er als "die christliche Verneinung des Staates, aber nicht als die staatliche Verwirklichung des Christentums" beschrieb. Dies sei ein "unvollkommener Staat", der die Religion "als Ergänzung und Heilung seiner Unvollkommenheit" benötige.

Doch ist auch die Aufhebung des Judentums durch die zionistische Verstaatlichung durchaus ambivalent. Denn diese erfolgt nur auf dem Boden Israels. Ein Wesensmerkmal des Staates Israel besteht darin, dass seine Existenz auf der Wechselwirkung mit den Juden in der Diaspora beruht. Daraus ergibt sich der wichtigste innere Widerspruch der israelischen Staatsdoktrin. Zwar verheißt der Zionismus die staatliche Lösung der jüdischen Frage. Doch dieser Staat ist nicht der politische Ausdruck seiner Bürger, sondern der Juden der Welt. Das ergibt einen latenten Konflikt zwischen israelischem und jüdischem Bewusstsein.

Das israelische Bewusstsein ist auf den Staat Israel, das jüdische auf das Land (Erez) Israel bezogen. Das eine ist modern, das andere prämodern. Das israelische Bewusstsein ist auf die Globalisierung gerichtet, das jüdische verharrt in einem archaischen Besiedlungswahn. Der israelische Historiker und Linkssozialist Michel Warschawski nennt dies einen Konflikt zwischen Israel und Judäa. Zwei Gesellschaften, die unfähig sind, miteinander zu kommunizieren. Zwar verkörpert der originäre Zionismus die staatliche Konzeption, im Gegensatz zu den Ultraorthodoxen, die den Staat Israel als Gotteslästerung verwerfen. Gleichzeitig ist ihm die "Erez-Jisrael"-Orientierung immanent. Denn "Erez Jisrael" ist ein Synonym für Großisrael.

Die "Unvollkommenheit" des israelischen Staates äußert sich nicht nur im Fehlen einer geschriebenen Verfassung – ein Zugeständnis an die Orthodoxen -, sondern auch im Fehlen von klar definierten Grenzen. Will der Staat Israel seinen Anspruch, alle Juden heimzuführen, einlösen, muss er expandieren. Scharon erklärte unlängst, dass der israelische Unabhängigkeitskrieg noch nicht zu Ende sei, dass er noch hundert Jahre dauern könne. Das heißt, dass aus jüdisch-nationalistischer Sicht der Prozess der Staatswerdung noch nicht abgeschlossen ist.

Der DKP-Theoretiker Robert Steigerwald schreibt in einem Positionspapier: "Sozialisten müssen beachten, dass die Existenz des Staates Israel zu akzeptieren ist". "Zu akzeptieren", das ist kein glühendes Bekenntnis, immerhin. Doch auch hier wird a priori akzeptiert – unter Abstrahierung der konkreten Existenzweise dieses Staates. Das war 1948 falsch, als die Sowjetunion als erster Staat Israel anerkannt hat, ohne seine landräuberische, terroristische Entstehungsgeschichte zu beachten: Der Staat Israel entstand im Ergebnis eines ethnischen Säuberungsprozesses, der seinesgleichen sucht. Und das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem die rechtsextremen Tendenzen in der israelischen Politik deutlicher als je zuvor hervortreten, nicht minder falsch. Rechtsextremismus ist Rechtsextremismus, auch im Staat der Holocaust-Überlebenden. Und dennoch gilt im gegenwärtigen Diskurs die Benennung einer schlichten Tatsache als unstatthaft, als Relativierung des Holocausts. Als ließe sich der Völkermord an den Juden ernsthaft relativieren.

Ein Staat von Kolonisten

Nicht akzeptiert wird von Steigerwald die ursprüngliche al-Fatah-Losung eines volksdemokratischen Staates, in dem Juden, Christen und Muslime friedlich nebeneinander leben. Die palästinensischen Linken übrigens halten im Gegensatz zu den rechten Arafatisten an der Orientierung auf einen demokratischen säkularen Staat in ganz Israel/Palästina auch weiterhin fest, wobei sie die Zwei-Staaten-Lösung als Zwischenstufe im Kampf um eine demokratische Umwälzung der Verhältnisse in der Region betrachten. Man könne es den Juden, die dem Tod entronnen sind und ihren Schutz in ihrem eigenen Staat suchten, nicht verdenken, wenn sie diesen für ein bloßes Versprechen nicht preiszugeben bereit seien, begründet der Autor des Papiers seine Position. Im Klartext: Robert Steigerwald und mit ihm der DKP-Mainstream akzeptiert Israel in seiner zionistischen Existenzweise als exklusiv jüdischer Staat, eine andere Existenzweise liegt außerhalb dieser Vorstellungswelt.

Es ist freilich so, dass die Existenz Israels nicht von linker Anerkennung abhängt. Israel würde auch existieren, wenn es nur von den USA anerkannt wäre. Die DDR ist als weltweit anerkannter Staat untergegangen. Die Entscheidung fiel im Klassenkampf. Genau auf diesem Terrain wird auch die Entscheidung um den künftigen Charakter Israels/Palästinas fallen. Es geht nicht um ein abstraktes Pro oder Contra Israel. Es geht um den sozialen Charakter dieses Staates. Gegenwärtig ist Israel ein Apartheid-Staat, in dem die Überlegenheit der einen Nation die Inferiorität der anderen Nation zur Voraussetzung hat. Die Vorstellung, die jüdische Existenz in der Region wäre weniger gesichert, wenn auch die israelischen Araber diesen Staat als ihren Staat, als Staat der Juden und Palästinenser anerkennen könnten, wenn Israel und Palästina zu Synonymen würden, ist absurd.

Was macht es deutschen Kommunisten so schwer, einen demokratisch-säkularen Staat zu akzeptieren? Warum beharren sie auf dem Existenzrecht eines jüdisch definierten Staates? Weil die Juden anders nicht geschützt werden können? Doch nirgendwo ist jüdisches Leben so gefährdet, wie in dem Land, das den Juden eine exklusive Existenz verheißt. In der Exklusivität ihrer Existenz liegt ihre existentielle Bedrohung.

Natürlich ist Israel nicht das, was es sich dünkt. Es ist kein solidarischer Staat der Überlebenden, sondern ein Klassenstaat. Aber es ist auch ein Staat von Kolonisten. Es ist ein ideologisch hoch motivierter Staat, der die Sicherung jüdischer Vorrechte zur obersten Staatsräson erhoben hat. Die Schaffung privilegierter Siedlerexistenzen folgt nicht der Logik des Marktes. Sie folgt der Strategie der Eindämmung innerisraelischer Klassengegensätze und der Unterwerfung der Palästinenser.

Robert Steigerwald mahnt eine differenzierte Betrachtungsweise des Zionismus in seinen unterschiedlichen Strömungen an. Doch in der Hauptsache, die Existenz Israels als kolonialistischen Apartheid-Staat dauerhaft zu etablieren, gibt es keine Differenzen. Natürlich ist die israelische Gesellschaft nicht homogen. Natürlich herrscht in ihr nicht nur die Tendenz zur Gewalt gegen die Palästinenser, sondern auch jene andere, die auf einen historischen Ausgleich mit den Palästinensern gerichtet ist.

In Oslo ist dieser Kompromiss angedacht worden. Im Verlauf des Oslo-Prozesses hat sich aber eindeutig herausgestellt, dass die zionistischen Eliten, die rechten wie die "linken", einen souveränen palästinensischen Staat nicht zulassen wollen. Ein Staat mit beschränkter Souveränität als ein fremdbestimmtes Projekt der korrupten palästinensischen Oberschicht wäre zwar denkbar gewesen. Doch die israelische Besiedlungspolitik in den Autonomiegebieten bei gleichzeitiger Ablehnung des von der UNO verbrieften Rückkehrrechtes der Flüchtlinge machten sämtliche Voraussetzungen für einen Kompromiss zunichte. Die israelische Bantustanisierungspolitik befindet sich jenseits der von den Arafat-Leuten gezogenen roten Linien.

Unfrei und keine Demokratie

Natürlich wirkt die Hoffnung auf einen demokratischen Umsturz in ganz Israel/Palästina realitätsfern. Vielleicht ist sie deshalb die einzig realistische. Oslo hat in seinem Ergebnis das neokoloniale Regime Israels über die Palästinenser perfektioniert. Es wurde ein autokratisches Regime in Palästina etabliert, das als hässliches Gegenbild zur israelischen parlamentarischen Demokratie zu fungieren hat. Die Intifada hat den Kampf um demokratische Rechte erneut aufgenommen. Sie richtet ihre Forderungen nicht an Arafat und seine oligarchische Umgebung, sondern an die Besatzungsmacht: "End the Occupation!" Unter den Bedingungen der nationalen Unterdrückung kann es in Palästina keine Demokratie geben. Solange den Palästinensern ihre demokratischen Rechte vorenthalten werden, ist auch Israel kein demokratischer Staat. Ein Volk, das andere Völker unterdrückt, kann selbst nicht frei sein.

Derweilen latscht die deutsche Linke brav neben dem Mainstream. Es wird ersucht, der Gewalt auf beiden Seiten ein Ende zu bereiten. Vorgeblich radikale Linke verfallen in die Rhetorik von EU-Kommissaren. Von den antinationalen Schmuddelkindern des Neoliberalismus einmal ganz zu schweigen. Je rabiater der Irre von Jerusalem wütet, desto stärker wird der Bekenntnisdrang zum letzten verbliebenen Kolonialstaat. Jüdisch-palästinensische Koexistenz, in der sich die Existenz der einen aus der Existenz der anderen ergibt, wird jedoch nur durch die Überwindung dieses Staates möglich sein.

Werner Pirker
(Journalist in Wien)