54 Jahre nach Deir Yassin

23.05.2002

Der israelische Vernichtungsfeldzug gegen den palästinensischen Widerstand

Die am 29. März 2002 begonnen Offensive der israelischen Armee gegen die besetzten Gebiete sucht ihresgleichen. Die Bilder der massenhaften Zerstörungen, Bombardierungen, der Absperrungen, der Vertreibungen von obdachlos Gewordenen, der Behinderungen der medizinischen Notdienste, der Massenverhaftungen und Brutalitäten und schließlich dessen, was vom Flüchtlingslager Jenin übriggeblieben ist, gingen um die Welt. Was bleibt, sind unsichere Zukunftsaussichten für das palästinensische Volk, doch auch die Gewissheit, dass der Widerstand weitergehen wird.
Was in der offiziellen Diktion als "Antiterrorkrieg" deklariert wurde, war nichts anderes, als eine der schärfsten militärischen Offensiven Israels gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, mit dem Ziel, den Widerstand gegen die israelische Besatzung ein für alle Mal mit der Wurzel auszureißen. Dabei ging es Israel nicht nur darum, möglichst vieler Kämpfer der Widerstandsorganisationen habhaft zu werden, sondern auch, die Allianz der militanten Organisationen zu zerschlagen und ihre Strukturen zu zerstören. Die physische wie politische Vernichtung der Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde war ein weiteres vorrangiges Ziel. Damit wurde ein endgültiger Schlussstrich unter die Oslo-Verträge gezogen. Der sogenannte Friedensprozess hat somit nicht nur das Zeitliche gesegnet, sondern das, was in seinem Rahmen zaghaft an potentiellen staatlichen Strukturen aufgebaut worden war, ist vernichtet und damit die Entwicklung in Richtung staatlicher Souveränität rückgängig gemacht worden.
Die auch in der israelischen Presse (1) gezogenen Vergleiche mit dem Massaker im Dorf Deir Yassin im April 1948 und der Nakba, also der Vertreibung der Palästinenser aus ihren Heimatgebieten im Zuge der israelischen Staatsgründung, haben insofern ihre Berechtigung, als diese neuerliche Katastrophe alle Entwicklungen und Errungenschaften von zwei Generationen ungeschehen zu machen scheint und das palästinensische Volk in das Jahr 1948 zurückführt, vor die Trümmer seiner kollektiven Existenz.
Arafat – alter und neuer Verhandlungspartner Israels
Arafat, als Symbolfigur für den Oslo-Prozess, erlitt somit vor den Augen der Weltöffentlichkeit symbolisch die Demütigung, die dem letzten Rest der schon lange enttäuschten Hoffnungen der Palästinenser auf Eigenstaatlichkeit und Souveränität galten. Doch jenseits politischer Machtdemonstrationen schien sich hinter dem monatelangen Hausarrest des PNA-Präsidenten, der schließlich am 29. März in eine militärische Belagerung mündete, ein tatsächlicher Schwenk in der israelischen Politik zu verbergen. Arafat war während des gesamten Jahrzehnts des "Friedensprozesses" für Israel zweifellos der einzige akzeptable Verhandlungspartner und politische Führer der Palästinenser gewesen. Nur ihm war es möglich, Grundfesten der palästinensischen Befreiungsbewegung – den Anspruch auf die 1948 besetzten Gebiete und die Nicht-Anerkennung Israels – im Austausch für einen angeblichen Friedensprozess aufzugeben ohne den Volkszorn auf sich zu ziehen; nur ihm war es möglich, die Enttäuschung, die sich bald darauf unter den palästinensischen Massen einstellte, zu kontrollieren und das Volk letztendlich doch immer wieder an das in seiner Person verkörperte politische Projekt eines palästinensischen Rumpfstaates zu binden.
Während Arafat für Israel jahrelang die Garantie für eine relativ minimierte Widerstandsbewegung darstellte, so gelang es ihm seit Ausbruch der zweiten Intifada immer weniger, diese Rolle zu erfüllen. Einerseits konnte er den Zorn der Bevölkerung nicht im Zaum halten, andererseits kam ihm dieser auch gelegen, um seine Verhandlungsposition gegenüber Israel zu stärken. Mit der Zunahme der bewaffneten Widerstandsaktionen und vor allem der steigenden Zahl getöteter Israelis wurde es für die israelische Regierung offensichtlich, dass Arafat den Widerstand immer weniger zu kontrollieren im Stande war. Die jüngste Offensive scheint daher zunächst den Zweck verfolgt zu haben, Arafat das selbe Schicksal zuteil werden zu lassen wie seiner PNA. Für Israel schien die Zeit gekommen zu sein, sich nach einer Alternative in Form einer den israelischen Interessen vollkommen hörigen Führungsgruppe umzusehen. Gerade dieses Vorhaben hat sich für Israel offensichtlich als schwieriger herausgestellt als erwartet wurde, schwieriger auch als die physische Zerschlagung des Widerstandes. Allem Anschein nach bevorzugt das israelische Regime Arafat letztendlich gegenüber einer unsicheren Führungsgruppe mit ungewissen Zukunftsperspektiven. Arafat dankte es ihm – und bewies mit der Verurteilung derjenigen Männer, die für das Attentat auf den israelischen Tourismusminister Ze´evi im Oktober 2001 verantwortlich gemacht werden, umgehend, dass er Befehle auch auszuführen weiß.
Was konservative Kommentatoren als einen politischen Ausbruchversuch werten (2), kann für das palästinensische Volk und vor allem für die unbeugsamsten Organisationen des Widerstandes nur als ein neuerlicher Beweis dafür aufgefasst werden, dass Arafat bereit ist, die Interessen seines Volkes im Austausch für die vermeintliche Anerkennung seiner Person und seiner Führungsgruppe durch den Westen aufzugeben und wenn nötig dem Widerstand in den Rücken zu fallen. Tatsächlich handelt es sich bei den Verurteilten um Mitglieder der PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas), einer der ältesten Organisationen des palästinensischen Befreiungskampfes und Teil der PLO, die mit dem Anschlag auf Ze´evi die Hinrichtung ohne Gerichtsurteil, die Ermordung ihres Generalsekretärs Abu Ali Mustafa durch die israelische Armee im August 2001 rächten. Es kann sich wohl um keinen Zufall handeln, dass Israels Forderung nach Verhaftung und Verfolgung dieser Männer, so ungleich bestimmter war, als bei einem der vielen Selbstmordanschläge, auch wenn bei dem Attentat auf Ze´evi keine unschuldigen Zivilisten zu Schaden kamen. Genauso wenig darf es als Zufall gewertet werden, dass Arafat dieser Forderung ohne zu zögern nachgekommen ist. Während die Selbstmordanschläge letztendlich ein Zeichen palästinensischer Schwäche sind, so drückte gerade die gezielte Tötung des rechtsextremen und für die Transferlösung (d.h. Deportation aller Palästinenser) eintretenden Ministers Ze´evi die Verwundbarkeit des israelischen Staates und die Schlagkraft des palästinensischen Widerstandes aus.
So sprechen viele kritische Stimmen davon, dass Arafats Durchhaltevermögen unter denkbar widrigsten Umständen nicht so sehr seinem Heldenmut zu verdanken sei, sondern vielmehr der Tatsache, dass auch ihm selbst die Ausräumung der radikalsten und unkontrollierbarsten Widerstandsstrukturen nicht ungelegen kommt, einerseits um seine Machtposition innerhalb Palästinas zu sichern, andererseits um seine abhanden gekommenen Glaubwürdigkeit als Verhandlungspartner des Westens wiederherzustellen.
Köpfung des Widerstandes
Inwieweit die israelische Vernichtungsoffensive ihr Ziel erreicht hat, lässt sich zur Zeit schwer feststellen. Fest steht allerdings nicht nur, dass Einrichtungen der PNA und zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen bis auf Grund und Boden zerstört wurden, sondern auch, dass bei diesem Zerstörungswerk mutwillig weit über das Ziel der angeblichen Terrorbekämpfung hinausgeschossen wurde (3): Archive, Datenbanken, Verwaltung, Administration wurden nicht nach gewünschten Informationen durchsucht, sondern sie wurden kurzerhand und systematisch vernichtet. Damit wurde die Arbeit von Generationen zunichte gemacht, die palästinensische Gesellschaft um Jahre zurückgeworfen und der potentielle Aufbau eines palästinensischen Staates für die kommende Zeit erfolgreich erschwert.
Mehrere hundert Personen wurden nach israelischen Angaben getötet und über 4.000 verhaftet. Palästinensischen Quellen zufolge ist die Opferzahl weitaus höher. Ob damit das Gros der Widerstandskämpfer tatsächlich ausgeschaltet werden konnte, kann nicht beurteilt werden. Es scheint allerdings außer Zweifel zu stehen, dass es der israelischen Armee gelungen ist, die Führer der Widerstandsstrukturen zu töten oder zu verhaften. Soziales Elend und militärische Unterdrückung lassen schnell Menschen heranwachsen, die sich dem militanten Befreiungskampf verschreiben. Es wird daher dem palästinensischen Widerstand auch in Zukunft nicht an Kämpfern mangeln. Schwerer sind hingegen die politisch erfahrenen Köpfe zu ersetzen, die auch die stärkste Unterdrückung nicht automatisch erzeugt. Insofern mag es gerechtfertigt sein, von einer Köpfung des palästinensischen Widerstandes zu sprechen. Die Auswirkungen für den Befreiungskampf sind noch nicht absehbar und hängen einerseits von den geopolitischen Entwicklungen, andererseits von der Regenerationsfähigkeit der palästinensischen Organisationen ab.
Strategische Allianzen
Die Schärfe der israelische Offensive mag die politisch interessierte Weltöffentlichkeit im ersten Augenblick verwundert haben, war doch der amerikanischen Außenminister Cheney kurz zuvor zu einer Reise durch die arabische Welt aufgebrochen um für den Irak-Feldzug der USA die Werbetrommel zu rühren. In diesem Zusammenhang schien es mehr als wahrscheinlich, dass er sich im Namen der Weltsupermacht auch zu dem einen oder anderen Lippenbekenntnis im Sinne palästinensischer Interessen herablassen würde, um die arabischen Verbündeten auch im Verbund zu halten. Bereits im Oktober 2001 waren zum ersten Mal aus amerikanischen Mündern Stimmen zu hören gewesen, die von einem palästinensischen Staat sprachen, als es darum ging, die Anti-Terror-Allianz zu schmieden. Im gleichen Kontext ist die jüngst mit maßgeblicher Hilfe der USA verabschiedete UNO-Resolution zu verstehen, die zwar die historischen palästinensischen Forderungen wie das Rückkehrrecht elegant übergeht, doch vom Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat spricht. Umso überraschender kam die israelische Offensive, da sie die amerikanischen Nahost-Pläne in einer Nacht über den Haufen warf. Obwohl es sich augenscheinlich um einen Alleingang Israels handelte, stellten sich Bush und seine Regierung bedingungslos und dem internationalen Aufschrei ob der israelischen Brutalität zum Trotz hinter ihren wichtigsten Verbündeten. Erst nachdem die israelische Armee die erste Phase ihres Vernichtungsfeldzuges abgeschlossen hatte, änderte die Bush-Administration zwar nicht ihre Politik, doch zumindest geringfügig ihren Ton und rief Sharon zur Mäßigung auf. Dies kann einmal mehr als Beweis dafür gewertet werden, dass die strategische Allianz mit Israel für die USA uneingeschränkt Priorität hat und sie bereit sind, sich diese sowohl finanziell als auch politisch einiges kosten zu lassen.
Auf der anderen Seite stehen die korrupten arabischen Regimes, die ihren scharfen Worten gegen Israel noch nie ebensolche Taten folgen ließen. Einzig Saddam Hussein sprach von einem Ölembargo, während Saudi-Arabien und die anderen pro-westlichen Golfstaaten in vorauseilendem Gehorsam wissen ließen, dass daran nicht zu denken sei. Zweifellos sehen auch sie ihre Allianz mit der imperialistischen Supermacht als strategisch an. Da ihre Bevölkerungen allerdings nicht direkt von der Unterdrückung und Ausbeutung der Palästinenser profitieren, sondern im Gegenteil die Intifada selbst als ein Signal zum potentiellen Aufstand gegen die eigenen Blutsauger verstehen könnten, sehen sich die arabischen Regimes vor ein Problem gestellt, das sie mit einer ausbalancierten Politik von brutaler Unterdrückung einerseits und scharfer anti-israelischer Rhetorik andererseits zu lösen versuchen. Die Konstante dabei ist die Unterwerfung unter die Interessen der USA, die strategische Allianz mit ihnen, auch wenn es den eigenen Massen immer weniger passt.
Weitgehend abseits westlicher Berichterstattung mehren sich Unmutsäußerungen auch gegen die blutigsten antidemokratischsten Regimes ebenso wie Anschläge auf amerikanische Einrichtungen. Der Befreiungskampf der Palästinenser hat in dieser Hinsicht entscheidenden Einfluss auf diese Protestbewegungen, in gleichem Maße wie umgekehrt die Unterstützung der arabischen Massen den palästinensische Befreiungskampf bedingt. Von der Entwicklung dieses Wechselspiels wird es letztendlich abhängen, ob sich in dieser zentralen Region der Erde die geopolitischen Kräfteverhältnisse qualitativ verschieben werden und die bei den Armen dieser Welt zu Recht verhasste Neue Weltordnung einen ersten, aber entscheidenden Riss bekommen wird.

Margarete Berger
Aktivistin der Antiimperialistischen Koordination in Wien

(1) "Between Jenin and Deir Yassin", in Ha´aretz, 25. April 2002
(2) vgl. NZZ vom 25. April 2002
(3) vgl. Amira Hass: "Operation Destroy Data", in Ha´aretz, 25. April 2002