"Wir akzeptieren kein staatliches Gewaltmonopol"

14.05.2009

Interview mit Abdel Al-Halim Fadlallah:

Abdel Fadlallah ist Präsident des Dokumentationszentrums der Hizbollah, das sowohl Lehrgänge in politischer Strategie, Stadtplanung und Ökonomie abhält. Eine angeschlossene Bibliothek versorgt die Studierenden der Partei Gottes mit einer ausführlichen Datenbank sowie gedruckten Unterrichtsmaterialien. Das Büro des 40jähriger, in den südlichen Vorworten von Beirut gelegen, wirkt nüchtern und kahl. Die ansonsten in schiitischen Quartieren üblichen Nasrallah-Devotionalien fehlen. Stattdessen ziert ein Bild eines modernen libanesischen Malers die Wand hinter dem Schreibtisch. Hannes Hofbauer traf Abdel Fadlallah Mitte April 2009 in der libanesischen Hauptstadt. Eine kurze Fassung des Interviews ist Anfang Mai 2009 in der Berliner Tageszeitung „Neues Deutschland“ erschienen.


FRAGE: Seit Juni 2006 gilt die Hizbollah in der gesamten islamischen Welt als standhaftes Bollwerk gegen Israel. Wann und warum wurde die Partei Gottes gegründet?

FADLALLAH: Unmittelbar im Anschluss an die israelische Okkupation 1982 wuchs der Widerstand dagegen an, was zwei Jahre später zur offiziellen Gründung unserer Organisation führte. Mit einem „offenen Brief“ wandte sich die Hizbollah an die Gesellschaft, wobei religiöse und soziale Belange von Anfang an miteinander verbunden worden sind.
 FRAGE: Mit welchem Ziel?
FADLALLAH: Oberste Priorität hatte und hat bis heute der Widerstand gegen die israelischen Attacken, darüber hinaus haben wir uns den Schutz der armen Viertel und der armen Klassen zur Aufgabe gemacht, die vom libanesischen Staat keinerlei Unterstützung erwarten können.
FRAGE: Auf welcher Seite stand die Hizbollah im 15 Jahre andauernden Bürgerkrieg, der erst 1990 beendet werden konnte?
 FADLALLAH: Wir haben uns von den inneren Kämpfen so gut es ging fern gehalten, um unsere gesamte Kraft gegen den israelischen Feind mobilisieren zu können. 1985 musste sich dann die israelische Armee aus Teilen der zuvor besetzten Gebiete zurückziehen.
FRAGE: Der im saudiarabischen Taif im Jahre 1989 ausgehandelte Akkord sollte die libanesische Gesellschaft nach Innen stabilisieren und hat ein politisches Proporzsystem nach Religionsgemeinschaften zementiert. Steht die Hizbollah dazu?
 FADLALLAH: Nach Taif haben wir unsere Strategie ausgefeilt. Seither spielt Hizbollah eine doppelte Rolle: als kämpfende Widerstandsgruppe gegen die Besatzung und als oppositionelle politische Kraft, die sich hauptsächlich gegen die fehlende Sozialpolitik von Rafiq Hariri gewandt hat und zudem die Regierung auffordert, den Widerstand stärker zu unterstützen. Mit der Präsidentschaft von Emile Lahoud besserte sich die Lage ein wenig. Zum Akkord von Taif stehen wir nach wie vor.
 FRAGE: Wie verhielt sich die Hizbollah zum von der Mehrheit der Christen und Sunniten betriebenen Rückzug Syriens aus dem Libanon? Damaskus war ja Ihrer Organisation freundlich gesinnt.
 FADLALLAH: Und umgekehrt. Nach dem 11. September 2001 und dem anschließenden Krieg gegen den Irak stellte sich die Hizbollah eindeutig gegen einen Rückzug der Syrer aus dem Libanon. Die UN-Resolution 1559 (aus dem Jahr 2004, HH), die den syrischen Rückzug forderte und ihn mit der Entwaffnung der Milizen verband, zielte einseitig auf unsere schiitische Miliz. Wir lehnten die UN-Resolution ab. Die Ermordung von Rafiq al-Hariri wurde von uns verurteilt. Für eine Schuldzuweisung an Syrien gibt es unserer Meinung nach keine Anhaltspunkte. Die Hizbollah hat dann am 8. März 2005 zu einer Demonstration aufgerufen, mit der wir Syrien für das, was es für uns getan hat, für die Unterstützung des Widerstandes und den staatlichen Zusammenhalt, gedankt haben. Dass dafür eine Million Menschen auf die Straße gingen, hat uns selbst positiv überrascht. Die Woche darauf, am 14. März 2005, demonstrierte dann die Hariri-Allianz.
 FRAGE: Das kam einer Zurschaustellung der entlang religiösen und sozialen Linien gespaltenen libanesischen Gesellschaft gleich.
 FADLALLAH: Diese Auseinandersetzung auf der Straße, auf der Hizbollah eindrucksvoll ihre Stärke beweisen konnte, hatte zur Folge, dass nach dem Rückzug der Syrer keine Entwaffnung unserer Miliz stattgefunden hat.
 FRAGE: Seitdem bildet die Hizbollah so etwas wie einen Staat im Staate. Ist das für den Libanon auf Dauer verkraftbar?
 FADLALLAH: Unsere Position war und ist klar: Niemand darf die Waffen des Widerstandes im Libanon angreifen, auch nicht die Regierung. Insofern akzeptieren wir das Gewaltmonopol des Staates nicht.
 FRAGE: Aber Israel war doch im Jahr 2000 abgezogen.
 FADLALLAH: Unsere Waffen dienten und dienen der Selbstverteidigung. Zu oft war der Libanon Ziel israelischer Attacken gewesen. Außerdem hielt die israelische Armee auch nach 2000 die Shabaa-Farm auf libanesischem Territorium besetzt. Im Juli 2006 war es dann offenkundig: die zionistische Aggression wollte den Widerstand im Libanon brechen.
 FRAGE: Mit klammheimlicher Unterstützung christlicher und sunnitischer Kräfte im Land?
 FADLALLAH: Nein. Israel hat diesen Krieg im Auftrag der USA geführt, nicht für irgendwelche Parteien oder Kräfte im Libanon. Freilich gab es vor allem von Seiten Walid Dschumblatts (dem Drusenführer, HH) Druck auf die Hizbollah und auch politische Kampagnen, die uns zum Einlenken bewegen sollten. Wir hielten stand. Und eine Umfrage mitten im Krieg hat gezeigt, dass 77% aller Libanesen den von der Hizbollah geführten Widerstand unterstützt haben.
 FRAGE: Gab es auch andere Kräfte, die gegen die israelische Aggression ins Feld zogen?
 FADLALLAH: Mit uns waren Brigaden der Amal-Milizen, der Kommunisten und der Moslembrüder. Aber die Mehrheit der Kämpfer kam aus den Reihen der Hizbollah.
 FRAGE: Hizbollah gilt in Westeuropa als verlängerter Arm des Iran im Nahen Osten. Was sagen Sie dazu?
 FADLALLAH: Wir sind eine libanesische Kraft, die sich für Lösungen sozialer Probleme hier einsetzt. Gleichzeitig haben wir eine tiefe politische und religiöse Allianz mit dem Iran, dessen Revolution uns alle beeinflusst hat. Finanzielle und militärische Unterstützung diskutieren wir nicht öffentlich.
 FRAGE: Wie sind die Beziehungen der Hizbollah zu den Palästinensern, sowohl zu jenen, die als Flüchtlinge im Libanon leben als auch zu den großen politischen Gruppen Fatah und Hamas. Können sich schiitische mit sunnitischen Moslems vertragen?
 FADLALLAH: Für uns stellt das keinerlei Problem dar. In den palästinensischen Flüchtlingslagern genießt die Hizbollah große Popularität. Auf nationaler Ebene steht uns die Hamas näher als die Fatah, aber wir mischen uns in innerpalästinensische Belange nicht ein und stellen uns keineswegs gegen Präsident Abbas.
 FRAGE: Der libanesische Verteidigungsminister war kürzlich in Washington und ist von dort mit zwei Antworten zurückgekommen. Die USA sehen in der Hizbollah keinen Gesprächspartner sondern eine Terrororganisation, und Washington will die Bewaffnung der libanesischen Armee verbessern. Richtet sich das auch militärisch gegen die Hizbollah?
 FADLALLAH: In die libanesische Armee haben wir ein tiefes Vertrauen. Gleichzeitig ist natürlich klar, dass die US-Waffen nicht für den Widerstand gedacht sind. Washington handelt nicht im Interesse des libanesischen Volkes.
 FRAGE: Ein Waffenstillstand garantiert derzeit relative Ruhe. Wie stellt sich die Hizbollah einen möglichen Umgang mit dem Staat Israel in Zukunft vor?
 FADLALLAH: Unsere Aufmerksamkeit widmen wir dem Libanon. Wir verteidigen unser Land. Was Palästina betrifft, so werden wir Israel niemals anerkennen. Seit der Besetzung und Vertreibung des Jahres 1948 spielt Israel eine destruktive Rolle in der Region. Wir betrachten es als illegitime Einheit.
 FRAGE: In welcher Hinsicht ist die Hizbollah neben ihrer militärischen und politischen Schlagkraft auch eine soziale Organisation? Was wird von ihr betrieben?
 FADLALLAH: Wir haben ein Netzwerk sozialer Institutionen aufgebaut. Dieses ist nicht gratis verfügbar, je nach den Möglichkeiten des einzelnen werden dafür Kosten eingehoben. Wer keine Mittel hat, bekommt beispielsweise medizinische Hilfe entgeltlos. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Lebensverhältnisse in den armen Quartieren zu verbessern. Gleichzeitig wissen wir, dass das ohne staatliche Hilfe im großen Stil nicht machbar ist, weshalb unsere politische Forderung nach einer gerechteren Sozialpolitik bestehen bleibt.
 FRAGE: Wir haben von so genannten Märtyrer-Institutionen gehört, die von Hizbollah unterstützt werden. Was kann man sich darunter vorstellen?
 FADLALLAH: Die Angehörigen getöteter Kämpfer des Widerstands werden von uns großzügig unterstützt. Die Märtyrerorganisation ist eine selbständige Nichtregierungsorganisation, die ihre Mittel aus dem Iran erhält; sie ist selbst Teil der iranischen Märtyrerorganisation.
 FRAGE: Was unternimmt die Hizbollah in Richtung Bildungspolitik?
 FADLALLAH: Unsere Al Mahdi-Schule bietet Unterricht für jene Menschen, die sich teure Schulen nicht leisten können. Nicht nur Schiiten gehen in die Al-Mahdi-Schulen. An 15 Standorten werden etwa  20.000 Studenten unterrichtet, die zwischen sechs und 17 Jahre alte sind.
 FRAGE: Was unterscheidet die Mahdi-Schulen von anderen Schulen?
 FADLALLAH: Neben dem einfacheren Zugang für Arme ist es die religiöse Erziehung, der wir erhöhte Aufmerksamkeit schenken. Daneben werden wie überall sonst auch Fremdsprachen und alle üblichen Fächer gelehrt.
 FRAGE: Würden Sie Hizbollah als sozialpolitisch links definieren?
 FADLALLAH: Unser Drängen auf ein Ende der herrschenden liberalen Politik mündet in die Forderung, einen sozial fairen Staat zu kreieren. Das inkludiert ein gerechteres Steuersystem, Schutz vor Arbeitslosigkeit, soziale Versicherungsgarantien und Zugang zu öffentlichen Schulen und Universitäten für jedermann. Auch der daniederliegende Agrarsektor muss staatlicherseits unterstützt werden, um die Abhängigkeit von Importen zu reduzieren. Gleichzeitig stellen wir uns nicht gegen ein freies Wirtschaftssystem. Wir wollen eine soziale Marktwirtschaft, die freie ökonomische Subjekte kennt.
 Danke für das Gespräch.