Offener Brief an die kurdische Befreiungsbewegung

14.03.2004

Initiativ e. V.

Mit großer Besorgnis beobachten wir die letzten Entwicklungen der kurdischen Organisationen in ihrer Annäherung zu den Entwicklungen im Irak. Besonders bedauern wir die Erklärungen der Organisation, die sich selbst in der Tradition der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sieht und unserer Meinung in ihrer aktuellen Haltung zu der US-amerikanischen Aggression gegen die Völker der Welt einen historischen und folgenschweren Fehler begeht, der die fortschrittlichen Teile der kurdischen Bewegung objektiv gegen alle fortschrittlichen Bewegungen des Mittleren Ostens stellt.
In Erklärungen der kurdischen Organisationen (Yekom, Kadek, PJA) zum bevorstehenden Angriff auf den Irak 2003 nahmen diese eine äquidistante Haltung zu den Kriegsparteien ein. In mehreren Erklärungen1 wird 2003 verbreitet, dass "weder die USA noch Ba…‘th der Demokratie dienlich sein werden". Als Alternative wurde das "Projekt" Abdullah Öcalans vorgestellt, das für den Mittleren Osten eine "Entwicklung der Demokratie auf der Basis des demokratischen Willens der Völker"2 vorsieht, ohne dabei zu benennen, was oder wer diese Basis konkret darstellen soll. Verwiesen wurde in den Erklärungen meist auf eine "demokratische Zivilgesellschaft", eine Kategorie, die im bürgerlichen Teil der Globalisierungsbewegung um Toni Negri entstanden ist und die heute dazu dient diejenigen Bewegungen zu denunzieren, die sich der neoliberalen Weltoffensive widersetzen. Mit der Erklärung des Kadek vom 11. April 2003 wurde aber aus der vor dem Krieg eingenommenen Äquidistanz eine eindeutige Positionierung für den US-Aggressor: "Diese Regimes (des Mittleren Ostens, d.A.) haben letztendlich der Intervention den Boden bereitet, in dem sie sich dem demokratischen Wandel verschlossen haben. Mit der Schwäche des Kampfs der Völker für Demokratie blieb nur eine militärische Intervention als einzige Alternative." Gleichzeitig ruft der Kadek dazu auf "konstruktiv" an der Besatzung des Irak mitzuarbeiten und bietet den USA die Hilfe an im Irak ein "demokratisches Regime aufzubauen"3. Zwar folgert der Kadek in seiner Schlusserklärung4 richtig, dass "der Sturz des irakischen Regimes im Gefolge der US-Intervention einen Prozess angestoßen hat, der zu einer nahezu vollständigen Auflösung des Status quo im Mittleren Ostens führt. Angesichts dieses Prozesses, haben die führenden regionalen Mächte Anstrengungen unternommen, um diesen Wandel aufzuhalten", doch auf welcher Seite der Kadek und sein Umfeld sich dabei positionieren, halten wir für höchst bedenklich. Vor allem die Haltung zum irakischen Widerstand, der in der Abschlusserklärung im Kontext der Interessen des Iran, der Türkei und Syriens als eine "Allianz von Unterstützern des Saddam-Regimes" delegitimiert wird, lässt uns befürchten, dass die kurdische Befreiungsbewegung durch solche Manöver versucht sich als "konstruktive" Kraft innerhalb des Besatzungsregimes zu etablieren.
Die in der Abschlusserklärung des Kadek verbreitete Illusion, dass die Intervention letztendlich einen "Status Quo" beseitigt hat, der zu einer "Demokratisierung" nicht fähig war und dass nun – mit dem amerikanischen Kapitalismusmodell – unweigerlich die demokratische Entwicklung komme, lässt die kurdische Befreiungsbewegung zu einem Vorreiter für die "Amerikanisierung" der ganzen Region werden. Hinzu kommt, dass der Kadek in seiner Abschlusserklärung zu dem Schluss kommt, dass die "mittelöstliche Intervention der USA" eine "Demokratisierung" unvermeidbar werden lässt – "auch wenn dies auf Grundlage von Abhängigkeit geschieht". Damit stellt sich die Organisation ganz deutlich auf die Seite der USA und damit gegen die Völker und Bewegungen, die gegen die "Demokratie" der Weltbank und des IWF für ihre nationale Souveränität und Unabhängigkeit kämpfen. Auch der aus dem Kadek entstandene kurdische Volkskongress nimmt diese Linie im November 2003 wieder auf und gibt den USA im voraus grünes Licht für eine Intervention gegen Syrien und den Iran, falls diese von sich heraus keine "demokratischen Reformen" einleiten sollten.
Unserer Meinung nach kann eine solche Haltung nur zu einer Katastrophe für die kurdische Bewegung führen und stellt diese gegen alle antiimperialistischen Bewegungen der Region. Eine demokratische Republik des Mittleren Ostens kann als Basis nur eine breite demokratische und antiimperialistische Front haben, welche die Besatzung zurückschlägt und auf der Basis der wiedergewonnenen nationalen Souveränität einen demokratischen Staat aufbaut. Die kurdische Bewegung kann in dieser antiimperialistischen Front eine bedeutende Rolle spielen.
Der Widerstand heute im Irak ist die Voraussetzung für eine neue Dynamik in den Kämpfen der Völker und Klassen für ihre Befreiung. Mit jedem Tag, an dem das irakische Volk in seinem Widerstand den US-Imperialismus im Irak bindet, verhindert es neue Kriege, entlastet es die Fronten der Genossinnen und Genossen in Asien und Lateinamerika. Der irakische Widerstand steht heute stellvertretend für den Kampf um das Völkerrecht, die Demokratie und Menschenrechte. Vor dem Hintergrund, dass viele aus unseren Reihen viele Jahre an eurer Seite gearbeitet haben und selbst in der kurdischen Befreiungsarmee für ein freies und souveränes Kurdistan gekämpft haben, verurteilen wir eure Annäherung auf das Schärfste und fordern von der Führung der Befreiungsbewegung eine umfassende Neuorientierung ihrer Politik und Praxis einzuleiten.

Jörg Ulrich für Initiativ e.V.

1 Kadek (Kongreya Azadà® à» Demokrasiya Kurdistanàª, Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans), in: Presseerklärung vom 11. April 2003
2 PJA (Partiya Jina Azad, Partei der freien Frau), in: Presseerklärung vom 4. April 2003
3 Kadek, in: Presseerklärung vom 11. April 2003
4 Kadek-Präsidialrat, 26. Juni 2003