Indien führt Krieg gegen seine Ureinwohner

02.02.2010
Von Felix Taal
Indien, das sich gern als "größte Demokratie der Welt" feiert, startet im November 2009 eine Militäroffensive mit 70.000 Soldaten gegen die "größte innere Bedrohung seit es das Land gibt" (Ministerpräsident Singh) - seine Ureinwohner.

Die Militäroperation „Green Hunt“ soll zwei Jahre andauern und betrifft weite Teile Ost- und Zentralindiens. Diese Regionen sind seit Jahrtausenden insbesondere die Heimat der 70 Millionen Adivasis, die Ureinwohner Indiens. Sie konnten wie insgesamt zwei Drittel der indischen Bevölkerung an dem wirtschaftlichen Aufschwung ihres Landes in keiner Weise teilhaben. Im Gegenteil: Bereits über zehn Millionen Adivasis wurden „umgesiedelt“, um Platz für die Staudämme, Bergwerke und Industrieanlagen der internationalen Konzerne zu machen. Die UNO berichtet von 300 Millionen Indern, die mit weniger als einem US Dollar am Tag auskommen müssen. Trotz eines Wirtschaftswachstums von neun Prozent kämpfen 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze ums Überleben. 47 Prozent der Kinder unter drei Jahren sind unterernährt. Die Hälfte der Schüler muss die Schule vor der achten Schulstufe verlassen, um hart zu arbeiten. (1)
Weitverbreitete, extreme Armut, fehlende medizinische Versorgung, eine hohe Kindersterblichkeitsrate, keine Schulen, das Land und der Reichtum in Hand weniger Großbauern – schon in den 1967 kam es aus diesen Gründen zu einem Aufstand landloser Bauern in dem Dorf Naxalbari in Westbengalen. Seitdem werden die Rebellen auch als „Naxaliten“ bezeichnet. Die Aufstände griffen schnell auf benachbarte Provinzen über und führten in einen langen Kampf der Unterprivilegierten, in dem die Regierung inzwischen Kontrolle über weite Gebiete verloren hat. Ende 2004 schlossen sich die wichtigsten Organisationen zur „Kommunistischen Partei Indiens – Maoistisch“ (CPI-M) zusammen. Der Staat verbot die Partei kurzerhand, verschleppte ihren Sprecher während einer laufenden Fernsehdiskussion ins Gefängnis und erklärt der Welt, es handele sich hier um Verbrecher, die gegen Entwicklung, Demokratie, Fortschritt und Frieden seien.

Was wollen die Maoisten?
Die Maoisten sagen: Wo Wahlen, Demonstrationen, Appelle und Aufrufe vor der Brutalität der Polizei, der Gier der Konzerne und der bitteren Armut nicht schützen können, müssen die Unterdrückten Massen (Landlose, Ureinwohner, Kastenlose, von „Umsiedlungsprojekten“ Bedrohte) sich organisieren, sich bewaffnen, sich verteidigen und selbst die Macht übernehmen. Nur so ist es möglich, grundlegende Rechte zu erkämpfen – alles Andere hieße, auf minimale Zugeständnisse zu hoffen und das stille Sterben fortzusetzen.
Eine Zusammenfassung der wichtigsten konkreten Forderungen:
* ein Ende der Herrschaft der Reichen, des Kastensystems, Diskriminierung wegen Geschlecht oder Religion;
* Selbstbestimmung und politische Autonomie für die Stämme;
* Land für die Armen und Landlosen, statt es einer korrupten Elite zu überlassen, die jede Landreform erfolgreich blockiert hat;
* die Wälder den dort lebenden Stämmen zusprechen, statt sie durch Konzerne zerstören und vergiften zu lassen;
* Errichtung eines Staates durch die Armen, für die Armen und mit direkter Demokratie (2)

Was haben die Maoisten bisher erreicht?
Die Bewegung der Maoisten ist inzwischen in 20 von 28 indischen Bundesstaaten etabliert, die Geheimdienste gehen von 20.000 trainierten Kämpfern und 50.000 organisierten Mitgliedern aus. (3) Dies ist das Ergebnis eines beständigen und erfolgreichen Kampfes, in dessen Verlauf in verschiedenen Provinzen fruchtbares Land und zahlreiche Waldgebiete erobert werden konnten. Unter dem Schutz der Rebellen wurden lokale Regierungen gebildet, Land an Landlose und Arme verteilt, Frauen bekamen die gleichen Eigentumsrechte. Landwirtschaft wurde betrieben, es wurden neue Gemüsesorten (Karotten, Tomaten, Radieschen…) und Früchte (Bananen, Guaven, Mangos…) eingeführt, der Anbau erfolgt ohne Pestizide. Das von Industrieanlagen erheblich verschmutzte Wasser wurde durch das Anlegen von Brunnen umgangen, Bewässerungssysteme wurden gebaut. Ein Gesundheitssystem wurde entwickelt, sodass jedes Dorf Spezialisten und Medikamente bekommen kann, und Schulen konnten eingerichtet werden, wo doch die wenigen überhaupt funktionierenden Schulgebäude des Staates zur Unterbringung der Armee und Polizeikräfte genutzt werden. Bücher und Zeitschriften wurden erstmals in der Gondi Sprache gedruckt, als erster Schritt, diese sehr alte Sprache und ihre Kultur in Südindien zu bewahren. Es wurde ferner ein eigenes Justizsystem eingeführt, dessen Volksgerichte Konflikte zwischen den Menschen, aber auch gegenüber den Feinden regeln. Als Folge sind Diebstahl, Betrug und Morde erheblich zurückgegangen. Frauen können sich frei bewegen und müssen keine Vergewaltigungen, besonders durch das Forest Department und die Polizei, mehr befürchten. Überhaupt haben Frauen und Kinder in fast jedem Dorf ihre eigenen Organisationen, wie auch jedes Dorf eine Verteidigungsmiliz aufbauen konnte. Kulturelle Aktivitäten leben in diesem Klima des Aufbruchs wieder auf und zeigen sich in zahlreichen Tänzen, Liedern und Spielen. (4)

Warum eine Militäroffensive?
In dem Gebiet der Aufständischen sind wertvolle Bodenschätze gefunden worden, welche die indische Regierung und die Oberschicht an multinationale Konzerne versteigern will – und teilweise bereits hat. Zwischen dem Abschluss der Verträge und dem blinkenden Geld stehen nur diese armen, ausgestoßenen Stämme, und die Maoisten, die einen organisierten, erfolgreichen Aufstand gegen diese Zustände führen. Oder wie die indische Globalisierungskritikerin Arundhati Roy es erklärt: „die Regierung lässt ihnen [den Ureinwohnern] nichts anderes zuteil werden als Gewalt und Missachtung. Und nun will sie ihnen auch noch das Letzte nehmen, was sie haben: ihr Land.“ (5)
Der Kampf, der im November 2009 zwischen der indischen Armee und der maoistischen Guerilla begonnen hat, wird stellvertretend geführt für einerseits die indische Elite und ihre ausländischen Freunde, welche die Welt als Ware sehen und keine Skrupel dabei haben, mit dem Umsiedeln und Verhungern der Menschen fortzufahren, Flüsse zu vergiften und Wälder abzuholzen. Und auf der anderen Seite würdevolle Menschen, die in eine neue Phase ihres Kampfes für ihre Rechte gehen und dabei nicht nur ein erfolgreiches, alternatives Modell für Indien verteidigen, sondern auch die Hoffnungen von Millionen Indern.

(1) Unterernährung: [World Bank report, Undernourished children: A call for reform and action] Bildung: [Education Statistics, Ministry of Human Resource Development]
Siehe auch: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/indien6.html

(2) http://radicalnotes.com/journal/2009/11/19/war-against-the-maoists-but-w...

(3) http://img156.imageshack.us/img156/3237/naxalareas.jpg

(4) http://forumpunjab.wordpress.com/2009/11/18/stop-war-against-the-people

(5) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,660444-2,00.html

Verweise