Indien: Das schwindende Licht der Demokratie

01.01.2010

Auszug aus der Rede von Arundhati Roy "Das schwindende Licht der Demokratie"
Rede zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin September 2009

 

 

Ganzer Text:

http://www.literaturfestival.com/upload//pdf/EroffnungsredeArundhatiRoyDeutschneu.pdf

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Ich habe mein ganzes Leben in Indien verbracht, dem Land, das sich als die größte Demokratie der Welt vermarktet. (Die Selbstbezeichnung ‚die größte’ ist der Tatsache geschuldet, dass andere Adjektive, wie die ‚großartigste’ oder ‚älteste’ bereits vergeben sind.) Bitte sehen Sie mir nach, dass ich meine Kritik an der Demokratie daher heute aus dieser Perspektive vorbringen möchte. Vor ein paar Wochen verkündete die indische Regierung, sie wolle 26.000 paramilitärische Sicherheitskräfte in den Kampf gegen maoistische ‚Terroristen’ in den dichten, an Bodenschätzen reichen Wäldern Zentralindiens schicken. Die Armee ist seit Jahrzehnten bereits in den Bundesstaaten Nagaland, Manipur, Assam und Kaschmir stationiert, wo die Menschen um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Die offene Ankündigung der Militarisierung des indischen Kernlandes durch die Regierung bedeutet die offizielle Anerkennung des Bürgerkriegs.

Die Operation - und so werden Kriege heute ja genannt - soll im Oktober beginnen, wenn der Monsunregen endet, die Flüsse weniger reißend und das Terrain besser zugänglich sind. Die Bewohner der Wälder, darunter die Maoisten, die sich als im Krieg gegen den Staat Indien begreifen, 3 sind Stammesvölker, die Ärmsten der Armen im Land. Sie leben dort seit Jahrhunderten, ohne Schulen, Krankenhäuser, Straßen, fließendes Wasser. Sie leben, und das ist ihr ebenso so altes ‚Vergehen’, auf Land, das reich an Eisenerz, Bauxit, Uran und Zinn ist. Diese Rohstoffe sind es, an denen die großen Bergbauunternehmen Tata, Vedanta, Essar, Sterlite und andere, hochinteressiert sind. Die Regierung stehe, so der Premierminister in einer Erklärung, in der Pflicht, den Mineralienreichtum Indiens auszubeuten, um die boomende Wirtschaft anzukurbeln. Die Maoisten nennt er die ‘größte interne Sicherheitsbedrohung Indiens’. ‚Ausrotten’ und ‚vernichten’ sind die Begriffe, mit denen die Wirtschaft in diesem Zusammenhang operiert. Wie die Sicherheitskräfte in den Wäldern zwischen Maoisten, Sympathisanten und Unbeteiligten unterscheiden sollen, weiß jedoch niemand.

Interessanterweise blockierte – unter anderem - Indien einen europäischen Antrag bei den Vereinten Nationen, die im Rahmen der jüngsten Offensive der Regierung Sri Lankas gegen die Tamil Tigers verübten Kriegsverbrechen zu untersuchen. Für die Regierungen Asiens ist Israels Blaupause in Gaza eine brauchbare Option im Umgang mit ‚Terroristen’: Die Medien fernhalten, den Gegner umzingeln und töten. Zwischen ‚Terroristen’ und ‚Unschuldigen’ muss dann nicht länger differenziert werden und die Empörung der internationalen Gemeinschaft angesichts eines solchen Vorgehens wird sich schnell wieder legen. Im nicht erklärten Bürgerkrieg niedriger Intensität [auf dem Subkontinent] mussten Hunderttausende in den vergangenen Jahren zusehen, wie ihre Dörfer zerstört und ihre Lebensmittelvorräte vernichtet wurden. Viele von ihnen flohen in die Städte, wo sie als ungelernte Arbeiter zu Hungerlöhnen ausgebeutet werden. Die übrigen leben versteckt in den Wäldern, ernähren sich von Gras und Wildfrüchten und hoffen, dem Hungertod zu entgehen. Nun haben die Vorbereitungen für den richtigen, den offiziellen Krieg, begonnen, in dem Bodenstreitkräfte, Kampfhubschrauber und Satellitenkarten eingesetzt werden sollen. Das militärische Hauptquartier befindet sich in Raipur, der Hauptstadt von Chhattisgarh. Der Wald wurde abgeriegelt, Journalisten haben nur eingeschränkt Zugang in die Zone. Neue Gesetze kriminalisieren jegliche - auch friedliche - Opposition. Zahlreiche Menschen sind bereits in Haft. Die Freilassung gegen Kaution ist nicht möglich.

Wenn es uns nicht gelingt, ihn zu stoppen, werden im Oktoberkrieg zwei unterschiedliche Arten von Krieg konvergieren, die seit Jahrzehnten in Indien geführt werden: der ‘Antiterrorkrieg’ der indischen Armee gegen die Völker von Kaschmir, Nagaland und Manipur und der Krieg um Rohstoffe und natürliche Ressourcen, ein Prozess, der auch gern als ‚Fortschritt’ bezeichnet wird. (...)