Apartheid in den 1948 besetzten Gebieten

29.09.2005
Wichtiger Programmpunkt der Solidaritätsreise war der Besuch in den 1948 besetzten Gebieten, also im heutigen Israel.(1) Solidarität mit Palästina darf nicht auf die 1967 besetzten Gebiete beschränkt werden, wie dies oft in Verteidigung der Zwei-Staaten Lösung vor allem im europäische Raum geschieht.

Insbesondere zwei Organisationen, die wir im Zuge der Solidaritätsreise besuchten, beschäftigen sich mit der Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenserinnerhalb der grünen Linie: Abna El Balad und die Association for the Defense of the Rights of the Internally Displaced Persons in Israel. Beide Organisationen arbeiten in den seit 1948 besetzten Gebieten.

Dieser Bericht besteht aus zwei Teilen. Im ersten wird eine allgemeine Beschreibung des Apartheid-Systems des israelischen Staates gegeben, im zweiten wird genauer auf die Methode der Zerstörung ganzer Dörfer und der Nicht-Anerkennung von Dörfern und Städten eingegangen, ein Punkt, für den sich vor allem die Association for the Defense of the Rights of the Internally Displaced Persons einsetzen.

Apartheid - Allgemeine Situation

Shafar`arma – ein Beispiel unter vielen

Am 5. August reisten wir bereits zu zweit nach Haifa, eine Stadt in den 1948 besetzten Gebieten. Sofort wurden wir mit der Situation konfrontiert, was es bedeutet Palästinenser in Israel zu sein. Ein Tag zuvor schoss ein Soldat in Shafar`arma, einer kleinen Stadt in der Nähe von Haifa, in einen Bus und ermordete vier Menschen: Zwei junge Frauen, Schwestern, die eine Ausbildung zu Volksschulehrerinnen machten und auf Urlaub in ihrer Heimatstadt waren und zwei ältere Männer, einer von ihnen ein Ladenbesitzer in der Stadt. Der Bus kam von Haifa und passierte zunächst Dörfer mit überwiegend jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern. Der Soldat wartete bis der Bus nur noch rein arabische Städte und Dörfer passierte. In Shafar´arma dann schoss er in den Bus. Von staatlicher Seite wurde das Massaker dargestellt, als wäre es von einem verrückten Einzeltäter durchgeführt worden. Doch der Mord an Palästinenserinnen und Palästinensern gehört nicht nur im Westjordanland und im Gaza Streifen zum traurigen Alltag. Auch wenn es sich in diesem Fall nicht um ein staatlich geleitetes Manöver handelte, gehört nicht nur der Rassismus, sondern auch die Ermordung und Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser zum staatlichen Grundkonzept. Auf dem Begräbnis der Ermordeten wurde ein einziges Transparent gespannt mit dem Text: "Ein Mörder, viele Kriminelle!"

Israel – "ein jüdischer, demokratischer Staat"

Zur Zeit seiner Gründung lautete eine Losung des israelischen Staates "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land!" Dies war nicht nur eine Lüge, um die Besetzung des Landes besser verkaufen zu können, sondern mit der Naqba von 1948 wurde ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung vertrieben, das Land also für den Siedlerkolonialismus bereitet. Während der Naqba 1948 wurden 800.000 Palästinenserinnen und Palästinenser zur Flucht gezwungen oder aus ihren Häusern vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht. Nur 150.000 von ihnen blieben in den 1948 besetzen Gebieten, darunter wurden 25% aus ihren Häusern vertrieben. 85% der schätzungsweise 550 palästinensischen Städte und Dörfer, die vor 1948 existierten, wurden entvölkert.
Trotz alledem kann Israel vor der westliche Welt behaupten eine Demokratie, die einzige im arabischen Raum, zu sein, und kann somit im Westen und vor sich selbst Legitimität in Anspruch nehmen. So meint der israelische Botschafter in Deutschland: "Der Staat Israel [...] gewährleistet all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse oder Geschlecht völlige Gleichheit der sozialen und politischen Rechte. Ebenso gewährleistet er Religions-, Gewissens-, Sprach-, Bildungs- und Kulturfreiheit. Er schützt die Heiligen Stätten aller Religionen. Er steht fest zu den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen." (2)

Das sich das Konstrukt Israels als Demokratie halten kann, zeugt von der Arroganz breiter Teile der israelischen Bevölkerung und der Mehrheit der imperialistischen Staaten vor dem Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser.
Das Konstrukt Israels als demokratischer Staat fällt aber schon in seinen Grundsatzerklärungen in sich zusammen. Denn Israel wird nicht nur als demokratischer, sondern als jüdischer demokratischer Staat definiert. Es wird also schon in den grundlegenden Prinzipien eine Ungleichheit zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung festgemacht. Schlussfolgernd gibt es auch keine israelische Identität, sondern eine jüdische und eine arabische Identität, die auch im Pass so festgeschrieben werden. So hat auch der israelische Staat keine Verfassung, sondern wird mittels Notstandsgesetzen, die noch aus der britischen Mandatszeit stammen, regiert. Denn gäbe es eine Verfassung, müssten grundlegende Rechte für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger formuliert werden. Eine Unterdrückung eines Teiles der Staatsbürger, eben jener nicht-jüdischer Religion, kann in einem angeblich demokratischen Staat nicht festgelegt werden.
So müssen auch die einzelnen Parteien, um für die Parlamentswahlen antreten zu können, erklären, dass sie den israelischen Staat, der gleichzeitig jüdisch und demokratisch sei, anerkennen. Sie müssen also, um an der "Demokratie" partizipieren zu können, zuvor den Rassismus des Staates legitimieren. Dies schließt viele arabische Parteien aus, beispielsweise Abna El Balad, die ihre eigene Unterdrückung nicht unterzeichnen können.

Einzelne Aspekte des Apartheid-Systems

Die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung israelischer Staatsbürgerschaft dominiert alle Aspekte des Lebens, von denen hier nur einige beschrieben werden. Im Schulsystem beispielsweise gibt es jüdische und arabische Schulen mit jeweils eigenen Lehrplänen und Budgets. Arabische Schulen müssen mit einem Bruchteil des Geldes, das für jüdische Schulen ausgegeben wird, zurechtkommen. Für ein arabisches Kind wird im Bildungssystem nur halb soviel ausgegeben wie für ein jüdisches. Die Lehrpläne sehen für arabische Schülerinnen und Schüler ein geringeres Bildungsniveau vor. So wird beispielsweise Weltliteratur an arabischen Schulen üblicherweise nicht gelehrt. Auch sieht der Lehrplan an arabischen Schulen nicht vor, Kenntnis über die eigene Geschichte zu entwickeln. Er streift kaum die Geschichte Palästinas.
Eine weitere Benachteiligung arabischer Schüler ist mit der Sprache gegeben. Hebräisch muss bis zum Abitur als Hauptfach genommen werden. Die Note in diesem Fach ist für die Aufnahme an eine Universität entscheidend.
Palästinensische Schüler stellen fast ein Viertel der Schüler in den 1948 besetzten Gebieten, sie stellen aber nur acht Prozent der Studenten an den Universitäten.
Eines der Mittel, mit dem versucht wird Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft aus den Gebieten innerhalb der Grünen Linie zu vertreiben, ist die Selektion in der Vergabe von Staatsbürgerschaften. Während Menschen jüdischen Glaubens weltweit Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft haben, bekommen Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Westjordanland oder dem Gazastreifen diese nicht einmal, wenn sie einen Menschen mit israelischer Staatsbürgerschaft heiraten. Ihnen wird sogar das Aufenthaltsrecht verwehrt. Übernachtungen im israelischen Staat werden zu einer Straftat. In den 1948 besetzten Gebieten leben sie also in der ständigen Angst vor Kontrollen. Diese Angst ist begründet. Durchsuchungen und Überprüfungen außerhalb des Wohnortes, Straßensperren in arabischen Gebieten (ungesetzlich, aber mit Beteiligung von Polizisten durchgeführt) regelmäßig durchgeführt. Somit werden Familien oft gezwungen in die besetzten Gebiete von 1967 zu ziehen. Das Gesetz wurde erst dieses Jahr entlassen, schließt aber auch jene ein, die zu einem früheren Zeitpunkt heirateten. Ihre Einbürgerungsverfahren sind auf Eis gelegt und auch ihnen verbietet man in den 1948 besetzten Gebieten zu leben. Die Verweigerung der Staatsbürgerschaft bezweckt also die weitere Minimierung des arabischen Bevölkerungsanteils innerhalb der Grünen Linie. Das Gesetz hindert palästinensische Menschen nicht daran in Israel zu arbeiten. Als billige Arbeitskräfte können sie weiterhin ausgebeutet werden. Sich innerhalb der Grünen Linie niederzulassen wird aber ein weiteres Mal verunmöglicht. Begründet wird die Verunmöglichung die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten mit einer Gefährdung der Sicherheit des Staates. Gerade die zugezogenen Palästinenser, so heißt es, würden mit einer größeren Wahrscheinlichkeit Selbstmordattentäter sein.
Um des Weiteren eine Trennung zwischen jüdischen und palästinensischen Staatsbürgern aufrecht zu erhalten sind nur kirchliche Ehen möglich. Somit können nur Angehörige der gleichen Religion heiraten. Um eine Konvertierung zur Religion des Partners oder der Partnerin auszuschließen, wurde ein staatlicher Ausschuss eingerichtet, der einer Konvertierung zustimmen muss.

Weiters sind Palästinenserinnen und Palästinenser innerhalb der Grünen Linie (sowie auch in der Westbank und im Gazastreifen) von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen. Als billige Arbeitskräfte werden sie auch aus den 1967 besetzten Gebieten rekrutiert (nur tagsüber, Aufenthaltsgenehmigungen werden nicht vergeben – dies wird allerdings durch den Mauerbau nunmehr auch verunmöglicht.) Aus vielen Teilen der Wirtschaft sind sie aber gänzlich ausgeschlossen – als Begründung werden abermals Sicherheitsrisiken genannt. Aber nicht nur offizielle Ausschlussverfahren führen zu Unterbeschäftigung in vielen Teilen der Wirtschaft des israelischen Staates. Auch fehlende Kontakte in für den Staat wichtigen Strukturen sind ausschlaggebend. So sind zum Beispiel für eine Karriere Kontakte in der Armee, die während des Militärdienstes erworben werden, von zentraler Bedeutung. Palästinensische Israelis sind aber vom Militärdienst in der IDF ausgeschlossen.

Zerstörte und illegalisierte Dörfer

Teil der zionistischen Strategie einen rein jüdischen israelischen Staat zu schaffen, ist die Zerstörung von Häusern und ganzen Dörfern und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihrer Heimat. 85% der schätzungsweise 550 palästinensischen Städte und Dörfer, die vor 1948 existierten, wurden zerstört. Oft wurden auch die Einwohnerinnen und Einwohner dieser Dörfer ermordet.
Während der Solidaritätsreise wurden zwei zerstörte Dörfer besucht, Mujaibel und Maloul. Im einstigen Mujaibel steht nun eine Siedlung, in dem in erster Linie russische Jüdinnen und Juden leben. Diese profitieren von den staatlichen Zuschüssen und Vergünstigungen, die der Staat Israel bei Ansiedlungen auf ehemalig arabischem Gebiet leistet. Die Zuschüsse sind vergleichbar mit jenen, die Siedlern in den besetzten Gebieten von 1967 gegeben werden, auch wenn sie in einem geringeren Ausmaß stattfinden. Das zweite Dorf wurde nicht vom Staat neu besiedelt. Es befindet sich auf Militärgebiet. (Eine der Begründungen für Zerstörung und Vertreibung ist die Erklärung von arabischen Gebieten zu Militärzonen.) In diesem Dorf wurde seit der Zerstörung in den 1950er Jahren nichts verändert. Hier wird sichtbar, was die Zerstörungen bedeuteten und bedeuten. Das einstige Dorf ist nun ein Wald, in dem Steinbrocken liegen, selten größere Mauerreste. Mehr erinnert nicht daran. Es ist von einem meterhohen Stacheldraht umzäunt, von Kampfhunden bewacht.
Nach einigen Minuten der Besichtigung des zerstörten Dorfes kamen Soldaten um uns zu kontrollieren. So wird nicht nur verhindert, dass Menschen in diesen Dörfern leben können, in die Dörfer zurückkehren können, sondern es wird auch der Besuch dieses Gebietes verhindert.
Diese Menschen leben nun in der Diaspora oder als Internally Displaced Persons innerhalb der Grünen Linie. Hier stellen sie 25% der palästinensischen Bevölkerung. Internally Displaced Persons werden vom Internationalen Roten Kreuz unter anderem als Personen bezeichnet, die gezwungen wurden zu fliehen oder ihre Häuser zu verlassen um den Folgen eines bewaffneten Konfliktes zu entgehen, bzw. sich vor Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte zu schützen. Internally Displaced Persons sind Flüchtlinge ohne eine internationale Grenze passiert zu haben.
Vor allem die Association for the Defense of the Rights of the Internally Displaced Persons in Israel kämpft für die Rechte dieser Menschen und organisiert jährlich Märsche zu einem der zerstörten Dörfer.

Eine pseudo-rechtliche Struktur wird der Vertreibung verliehen, in dem Gesetze aus der Kolonialzeit aufgegriffen werden. Israel steht also in einer sehr deutlichen Traditionslinie zum Kolonialismus, denn es wird mittels Notstandsgesetzen, die noch von der britischen Mandatszeit stammen, regiert. Paragraph 125 der Notstandsverordnung besagt, dass ein Gebiet jederzeit zu einem geschlossenen Militärgebiet erklärt werden kann. Einst zu geschlossenen Militärgebiete erklärte Zonen verbleiben bis heute in diesem Status, um die Rückkehr den Geflüchteten zu untersagen.
Ein weiteres Gesetz, das geschaffen wurde um palästinensische Menschen an der Rückkehr in ihre Häuser und Dörfer zu hindern, ist das "Absentee property law", das 1950 implementiert wurde. Palästinenserinnen und Palästinenser wurden zu Abwesenden erklärt, obwohl diese oft nur wenige Kilometer entfernt lebten, aber gehindert wurden zu ihren Besitztümern zurückzukehren. Unter diesem Gesetz wurden palästinensische Besitztümer konfisziert und unter staatliche Kontrolle gebracht.

Neben der Zerstörung arabischer Dörfer liegt eine andere Strategie des arabischen Staates in der Nicht-Anerkennung arabischer Dörfer, auch wenn sie älter als der Staat Israel an sich sind. Das bedeutet, dass diese Dörfer keine Bau- und Planungsrechte bekommen, aber auch, dass ihnen infrastrukturelle Einrichtungen vorenthalten werden. Essentielle Lebensnotwendigkeiten wie Strom und Wasser werden ihnen verweigert. Ungefähr 260.000 Menschen leben in nicht anerkannten Städten und Dörfern (siehe Kasten).
Aber auch anerkannte arabische Dörfer und Städte können nicht erweitert werden. Denn an Palästinenserinnen und Palästinenser israelischer Staatsbürgerschaft wird kein Land verpachtet. Und auch in anerkannten arabischen Städten wird infrastruktureller Ausbau verhindert. Seit 1948 wurde kein Krankenhaus in einer arabischen Stadt innerhalb der Grünen Linie mehr gebaut.

Während weltweit jede/r Angehörige/r der jüdischen Religion Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft hat, gibt es kein Rückkehrrecht für die palästinensischen Vertriebenen – weder für die internally displaced, noch für jene, die in der Diaspora leben, obwohl die UNO-Resolution 194 dies bereits 1948 garantierte und diese Resolution jährlich erneuert wird.

Symbolisch behalten die aus ihren Häusern Vertriebenen ihre Schlüssel. Mit diesen Schlüsseln wird die Hoffnung ausgedrückt eines Tages wieder in ihre Häuser zurückzukehren. Dieser Schlüssel ist aber auch Symbol des Kampfes des palästinensischen Volkes. Denn ohne ein Ende der Besatzung, ohne ein Ende der Unterdrückung der arabischen Menschen in Palästina, wird ihre Rückkehr verunmöglicht.

Sonja Hirsch

Sonja Hirsch ist Aktivistin der Antiimperialistischen Koordination in Wien. Sie nahm an der internationalen Solidaritätsdelegation "Risse in der Mauer" nach Palästina teil.

(1) Um auszudrücken, dass der Staat Israel nicht anerkannt wird und somit auch nicht die Zwei-Staaten-Lösung wird oft nicht der Ausdruck "Israel", verwendet, sondern über die 1948 besetzten Gebiete oder die Gebiete innerhalb der Grünen Linie geschrieben. Hiermit wird der Forderung nach einem einzigen demokratischen Staat jüdischer und arabischer Mitbürgerinnen und Mitbürger Nachdruck zu verliehen.

(2) vgl. http://www.nahostfocus.de/page.php?id=1048