Ägypten: Verfassungsfrage spaltet die Opposition

19.03.2011
Regime durch Volksabstimmung über kosmetische Verfassungsreformen verankert
Ali Nasser
Am Samstag, 19. März 2011 gingen die Ägypter zu den Wahlurnen, um über die vom Militärrat vorgeschlagenen Verfassungsänderungen abzustimmen. Egal wie das Ergebnis ausschauen wird, das Regime hat die politische Initiative wieder erlangt und bestimmt die politische Agenda.
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Das ägyptische Regime, gestützt auf dem Apparat des ältesten Staates der Welt, beweist von neuem seine Fähigkeit, sich zu reproduzieren. Schon nach dem erzwungenen Abgang Mubaraks war das Regime in der Lage, die Opposition zu spalten. Ohne den aufständischen Kräften irgendwelche Legitimität anzuerkennen, setzte der Militärrat eine neue Regierung aus alten Gesichtern und ein juristisches Komitee zur Veränderung der Verfassung ein. Die Armee kündigte sich als Schützer der Demokratie an, während sie Straßendemonstrationen brutal unterdrückte. Am Samstag, 19. März 2011 gingen die Ägypter zu den Wahlurnen, um über die vom Militärrat vorgeschlagenen Verfassungsänderungen abzustimmen. Egal wie das Ergebnis ausschauen wird, das Regime hat die politische Initiative wieder erlangt und bestimmt die politische Agenda.

Überlebensstrategie des Regimes

Die Opposition ist sich darüber einig, dass es sich bei den Verfassungsänderungen um kosmetische Reformen handelt, die dem Fortbestehen des Regimes dienen. Diese betreffen nur das Wahlsystem hinsichtlich Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Jedoch ist die Opposition über die Vorgangsweise gegenüber dem Regime nicht einig.

Die Initiatoren des Volksaufstands verlangen eine neue Verfassung, die einen Bruch mit dem alten Regime darstellt. Diese soll von einer konstituierenden Versammlung verabschiedet werden, die demokratisch repräsentativer ist. Pragmatische Befürworter der jetzigen Verfassungsänderung sehen in neuen Wahlen, einer zivilen Regierung und der Abschaffung des dreißig Jahre alten Ausnahmezustands einen Etappensieg der Bewegung.

Ausdruck der politischen Konjunktur

Da der Aufstand über keine Kräfte verfügte, die in der Lage waren, die Macht zu ergreifen, intervenierte der Staatsapparat selbst und entfernte die verhassten Regimespitzen. Die Moslemischen Brüder sind trotz langen Verbotes die Oppositionspartei mit der größten Infrastruktur und Verankerung. Sie sind bei keiner Konstellation zu übergehen. Keine andere politische Kraft ist in der Lage, Hegemonie innerhalb der Massenbewegung zu erlangen und der inhärenten antagonistischen Position zum Regime politischen Ausdruck zu verleihen.

Ziel des Regimes ist jetzt, seine Existenz mit einem Minimum an politischen Verlusten zu sichern, das heißt ohne fundamentale Veränderungen in seiner Abhängigkeitsbeziehung zum Westen sowie in der neoliberalen Marktwirtschaft. Daher gilt es, Sozialproteste zu isolieren und ihre Politisierung zu unterbinden, und die linken Kräfte zu marginalisieren.
Die liberalen Kräfte sind für das Regime ebenso eine Bedrohung. Denn auch wenn diese unter der Forderung nach moderner Demokratie auch liberale Marktwirtschaft verstehen, stellen sie für das Regime in seiner Rolle als Agenten der USA eine Konkurrenz dar. Auf diese setzen auch die USA, falls das alte Regime nicht mehr in der Lage ist, das Land am Zügel zu halten.
Hingegen sind die Moslemischen Brüder eine pragmatische politische Kraft, welche keine große soziale Reformen verlangt und bereit ist, die Macht mit dem Regime zu teilen und den kleineren Teil zu akzeptieren. Sie sind auch weit davon entfernt, eine Konkurrenz in der Beziehung zum Westen zu sein.
Dessen bewusst einigten sich der Militärrat und die Moslemischen Brüder auf baldige Volksabstimmung und Wahlen.

Neue Bündnisse

Die Polarisation über diese Frage spaltete das Bündnis, das sich gegen den Diktator Mubarak gebildet hatte und brachte das Regime und die Staatspartei wieder in die Offensive: Bis auf die Moslemischen Brüder sind durch die jahrelange Repression keine der Oppositionskräfte organisatorisch und infrastrukturell in der Lage, einen Wahlkampf zu führen. Entsprechend sind sowohl die Moslemischen Brüder und die Staatspartei (Nationale Demokratische Partei, NDP) mit den Verfassungsänderungen und baldigen Wahlen einverstanden. Diese werden erwartungsgemäß in eine Machtaufteilung zwischen den Moslemischen Brüdern und dem Staatsapparat münden.

Die Moslemischen Brüder hielten sich zu Beginn des Aufstands zurück, um danach tonangebend zu intervenieren. Sie schließen sich zwar den Forderungen nach politischen Reformen im Staat an und fordern ebenfalls Maßnahmen gegen die Korruption, sind jedoch nicht an sozialen Reformen interessiert. Gestützt auf das städtische Bürgertum sind sie am Bestehen der jetzigen Ordnung interessiert. Da sie die jedoch in der Lage sind, Teile der Bevölkerung zu bewegen (und auch nach Hause zu schicken), sind sie durch den Aufstand in eine bessere Verhandlungsposition gekommen: Sie werden zum ersten Mal zu einer legalen Partei und genießen politische Freiheiten, die sie seit 1949 nicht kannten. Sie werden ihre Kandidatur und ihren Einzug ins Parlament mit dem Regime so aushandeln, dass sie eine bedeutende, jedoch keine absolute parlamentarische Mehrheit bekommen.

Diese Haltung der Moslemischen Brüder zog einige bekannte Persönlichkeiten der säkularen Opposition mit, wie etwa Hamdin Sabahi, der populärste nasseristische Politiker oder Georg Ishaq, der ehemalige Sprecher von Kifaya. Diese Position kann als pragmatisch gesehen werde.

Dass die NDP ebenfalls zustimmt, das liegt in ihrer Natur als Apparat. Nach dem Abgang der Mubaraks und der Entfernung des Parteivorsitzenden Ahmad Izz produzierte der Apparat eine neue Führung. Im Staatsapparat präsentiert sich fast jeder als Opfer der Diktatur von Mubarak und als Befürworter des Aufstands!

Auch die traditionellen Salafiten, die sich während des Aufstandes neutral verhielten, riefen dazu auf, mit „Ja“ zu stimmen. Sie betrachten diese nun als „religiöse Aufgabe“.

Auf der „NEIN“-Seite stehen die säkularen Kräfte der Opposition: Nasseristen (Die Karama sowie die Nasserisitische Partei), Liberale (die Wafd und Ghadd Parteien der Präsidentschaftskandidaten Baradai und Amre Moussa) und die Kommunisten. Das sind auch die Kräfte von „Kifaya“, welche die demokratische Protestbewegung gegen das Regime initiiert hatten. Auch innerhalb der ägyptischen Christen bildete sich eine Mehrheit, die eine neue Verfassung auf säkularer Basis fordert. Die jetzige Verfassung, die 1971 im Rahmen der Liquidierung des Sozialismus von Anwar Saadat eingeführt wurde, betont den moslemischen Charakter des Staates. Ihre Forderung nach „Neue Verfassung“ als dritte Option in der Volksbefragung neben JA und NEIN, wurde ignoriert.

Demokratiebewegung in Kinderschuhen, Regime in Militärstiefeln

Dass eine Mehrheit gegen das Regime besteht, dass ist unumstritten. Die Differenz zwischen beiden Lagern besteht nur hinsichtlich einer sinnvollen Methode, die Verhältnisse zu demokratisieren. Die Mobilisierung um diese Volksabstimmung sowie das Ergebnis sind eine wichtige politische Prüfung für die radikalen Regimegegner. Es drückt die politischen Kräfteverhältnisse und die jetzige Mobilisierungskraft der säkularen Opposition aus.

Die ägyptische Volksabstimmung vom 19. März ist die erste Volksbefragung, die ohne Staatsterror und offene Fälschung läuft. Die Tatsache, dass sie auf dieser niedrigen Basis stattfindet, weist auf den begrenzten Etappensieg der ägyptischen Demokratiebewegung hin.
Nichtsdestotrotz findet in Ägypten heute ein Prozess voller Umwälzungen statt. Wo nach dem Abgang von Mubarak der Konsens der politischen Kräfte fehlt, kommen die unterschiedlichen Charaktere der politischen Kräfte an die Oberfläche und die politischen Allianzen verändern sich.
Die Schlacht um Demokratie, soziale Gerechtigkeit und nationale Souveränität hat begonnen und wird, so quecksilbrig das Regime und die Scheinopposition sind, keine kurze sein.

Ali Nasser, 10.03.2011

Verweise