Der kurze Frühling der Demokratie

21.04.2011
Revolten und Gegenoffensive im Arabischen Raum
Von Mohammad Aburous
Aus Intifada Nr. 33: Die Aufstände in vielen arabischen Ländern lösten eine Welle der Euphorie aus. Sie gaben den Volksmassen Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lebensumstände und auf die Einlösung ihrer demokratischen Rechte. Die baldigen Gegenoffensiven zeigen jedoch, dass die Freiheitsbestrebungen erneut an die engen Grenzen von Kolonialinteressen stoßen.

Ende 2010 war es noch unvorstellbar, dass die sozialen Proteste in Tunesien, die am 18. Dezember nach der Selbstverbrennung eines jungen Mannes ausgebrochen waren, den gesamten Arabischen Raum in Bewegung setzen würden. Die Entwicklungen überraschten nicht nur den Westen und seine staatlichen und außerstaatlichen Nachrichtendienste, sondern auch selbst die optimistischsten unter den arabischen Oppositionen. Die Geschwindigkeit, mit der zwei der schlimmsten Diktatoren gestürzt wurden, und die Tatsache, dass dies durch Volksaufstände gelungen war, wirkte inspirierend und löste in der ganzen Region ähnliche Bewegungen aus. In Jemen, Bahrain, Jordanien, Saudi Arabien, Algerien, Libyen und schließlich Syrien brachen ähnliche Proteste aus, die sich gegen den autokratischen Charakter des Staates richteten und für politische und wirtschaftliche Reformen eintraten.

Es ist jedoch eine Ironie der Geschichte, dass diese Dynamik gerade in Libyen und gerade von Mouammar Ghaddafi gestoppt wurde, der in seiner Zeit als Revolutionär solche Volksaufstände gegen die Tyrannen nicht nur prophezeit, sondern auch zu ihnen aufgerufen hatte. Sein Festhalten an der Macht wandelte den friedlichen Charakter der libyschen Bewegung in einen blutigen Bürgerkrieg um. Dies stoppte die gesamte Dynamik und überschattete die Repression in anderen Ländern, bis die tatsächliche Konterrevolution begann.

Die arabischen Diktaturen, All Different, All Equal

Ein unbemerkter Aspekt der jüngsten Volksaufstände ist die Tatsache, dass sie den Begriff „Arabischer Raum“ wieder ans Tageslicht brachten, nachdem dieser nur im Zusammenhang mit der Anerkennung des Staates Israel in der Region erwähnt wurde. Es war nicht nur eine neu entstandene panarabische Bewegung, sondern auch die westlichen Medien selbst, die vom Arabischen Raum statt, wie davor üblich, von „Nahost und Nordafrika“ sprachen. Dieser Reflex des Westens wird dem Charakter der Bewegung gerecht und erklärt auch, warum der imperialistische Westen die Bewegung um jeden Preis stoppen oder wenigstens unter Kontrolle bringen will: Er will eben keinen Arabischen Raum, sondern Marionettenregime in den Staaten von „Nahost und Nordafrika“.

Das Instrument der Konterrevolution bot sich auch aus dieser Ecke an: die Arabische Liga. Ein Fossil, das seinen panarabischen Charakter sowie seine politische Bedeutung längst verloren hat und nur aktuell wird, um einer westlichen Intervention eine arabische Maske zu verleihen oder um eine weitere Kapitulation der Palästinenser zu erzwingen.

Trotz der kulturellen Vielfältigkeit und den von Land zu Land unterschiedlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situationen in den arabischen Staaten haben die Bewegungen zahlreiche Gemeinsamkeiten. Erstens richten sich die Aufstände gegen sehr ähnliche autokratische Regime. Obwohl die koloniale Teilung und die unterschiedlichen Unabhängigkeitsgeschichten postkoloniale Staaten mit unterschiedlichen Charakteren und politischen Ausrichtungen ergaben, führte das Scheitern des modernen Staates in einer verblüffenden Weise zu absolutistischen Regimen. Diese beruhen auf traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhängen, die im arabischen Raum ähnlich sind. Darin unterschied sich ein „revolutionäres“ Baath (Irak, Syrien) oder das libysche Dschamahiriyya–Regime nicht vom reaktionären Regime der Sauds.

Ein weiterer gemeinsamer Nenner dieser Regime ist ihre Langlebigkeit. Bis auf wenige Ausnahmen blieb der arabische Staat angesichts der weltweiten Umwälzungen stabil. Die herrschenden Könige und Präsidenten sind die langjährigsten Regenten der Welt. Mubarak regierte seit 1981, Ben Ali seit 1987, Ali Saleh seit 1978 und Ghaddafi seit 1969. Die königlichen Familien regieren ebenfalls seit der „Unabhängigkeit“.

Wenn auch kulturell die Ähnlichkeit immer gegeben war, so ergaben sich in der neoliberalen Marktwirtschaft und globalisierten (und islamisierten) Kultur sowohl in den einst sozialistischen Staaten (Ägypten, Syrien, Algerien, Libyen, Sudan) als auch in den prowestlichen Staaten (Golfstaaten, Jemen, Tunesien, Marokko, Jordanien) sehr ähnlich Phänomene.

Die Repression zerlegte erfolgreich die organisierte politische Opposition und die Zivilgesellschaft, die aus nunmehr vom Westen finanzierten NGOs oder islamischen Sozialeinrichtungen besteht.

Die Erdöleinnahmen ermöglichten eine gewisse Ausschüttung und somit eine gewisse soziale Stabilität. Die Angst vor Revolten in der Nähe der Erdölquellen zwang die Golfregime früh genug zu einer Rentenwirtschaft und den massiven Rückgriff auf ausländische Arbeitskräfte, die keine sozialen, geschweige denn politische Ansprüche stellen. Auch in Staaten ohne Erdöl sorgten Überweisungen von Gastarbeitern aus den reichen Ölländern für Stabilität. Die Repression war nur mit einer bestimmten sozialen Sicherheit möglich und erduldet. Der politische Islam diente zur Bekämpfung von sozialistischen und demokratischen Elementen und seine extremen Exzesse konnten noch nach Afghanistan exportiert werden.

Wenn 1991 und das Ende der Sowjetunion den offiziellen Beginn der neoliberalen Globalisierung darstellt, so bedeutet dieses Jahr eine andere Art Wende für den Arabischen Raum. Die Folgen des Kuwait-Krieges lösten in allen arabischen Ländern soziale Krisen aus, von der nicht einmal Saudi-Arabien verschont blieb. Massive Privatisierungen, Streichung von Sozialsystemen, Liberalisierung des Arbeitsmarkts und vollkommene Abschaffung der Planwirtschaft waren die Folge. Dies war von einer neuen Repressionswelle begleitet, die der islamischen Bewegung galt. Während die Repression der islamischen Opposition den antagonistischen Charakter austreiben konnte, liquidierten sich die Reste der Linke selbst, indem sie sich mit dem Staat gegen die Islamisten verbündeten.

Während sich die Wirtschaft allmählich verschlechterte, verschwand der soziale Protest von den Straßen. Die Mobilisierungsthemen der Massen blieben Palästina und der Protest gegen die zunehmende US-Intervention in die Region, die mit einem bedeutenden Verlust der nationalen Souveränität verbunden war. Das Elend ließ sich in Form von Immigration in den reichen Westen exportieren.

Die weitgehende Domestizierung der Opposition und das Entfallen eines Alternativprogramms ermutigte die Regime zu weiteren Einschränkungen der demokratischen Rechte und des Sozialwesens. In den „Republiken“ begannen langjährige Präsidenten ernsthaft mit der Vorbereitung auf die Vererbung der Macht an ihre Söhne. Die Liberalisierungspolitik zerlegte die letzten Posten staatlicher Industrie, privatisierte Rohstoffressourcen, baute Sozialsysteme ab und sorgte für eine Wiederherstellung kolonialer Verhältnisse. Eine wirtschaftliche Ausnahme bildete das Regime im Irak, das durch eine direkte westliche Invasion gestürzt wurde. Irdische Konflikte wurden durch die Islamisierung der Politik in den Himmel verschoben, bevor die Repression auch die islamischen Kräfte zu bescheidener Politik zwang.

Am Ende des Jahrzehnts stand das arabische Regime politisch so pleite wie nie zuvor da. Es war jedoch stabil, weil seine Opposition ebenso pleite war. Die Korruption und die mafiöse Struktur der Herrschaft hemmte schlussendlich die kapitalistische Entwicklung der Länder und der Kreis der herrschenden Oligarchie wurde dadurch enger. Mit anderen Worten: die Oligarchie verlor allmählich die Unterstützung der ihr nahe stehenden sozialen Schichten. Es stellte sich langsam ein nationaler Konsens ein, dass die Regime auszuwechseln seien.

Diese Entwicklung erklärt zwar nicht den Ausbruch und die Mechanismen des Massenaufstandes. Jedoch ist klar, dass sich im Moment, in dem die Mauer der Abschreckung und Angst durchbrochen wurde, alle Schichten gegen das Regime stellten.

Da sich der Konsens gegen die Spitze des Regimes richtete, war sein Ende durch deren Abgang vorprogrammiert. Es gelten die Klassiker der Klassenanalyse. Das Gemeinsame an diesen Regimen ist eben ihre Hartnäckigkeit und zugleich ihre Quecksilbrigkeit. Somit ist ein Saudi-Staat in der Lage, gleichzeitig die Opposition im Land und im benachbarten Bahrain und Jemen zu unterdrücken und die Demokratie in Libyen und vielleicht auch Syrien zu unterstützen. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten tritt das alte Regime als der Vertreter der Revolution und der Beschützer ihrer Forderungen auf und auf diesem Wege verbietet es weitere Protestaktionen und Streiks, die „dem alten Regime dienen“. Dafür bietet sich auch ein Teil der Opposition an, der seine Ziele des Aufstandes schon erreicht zu haben glaubt.

Regime ergreift Initiative

Die Verlängerung des libyschen Konfliktes bot sowohl dem Westen als auch den bedrängten arabischen Regimen die Möglichkeit, die Initiative wieder zu ergreifen. Sie stellte den Konsens zwischen den in Nervosität geratenen Regenten und dem pragmatischen Westen, der bei den Bewegungen in Tunesien und Ägypten noch auf Schadensbegrenzung ausgerichtet war, wieder her. Libyen bot dem Westen eine Angriffsfläche, insofern als dort eine Unterstützung der demokratischen Bewegung leistbar war, ohne die eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen zu gefährden. Das wiederum bot den arabischen Nachbarn regional den nötigen Lärm, um die Unterdrückung der eigenen Oppositionen zu übertönen und international die Möglichkeit, ebenfalls als Beschützer der Demokratie aufzutreten. Während die Medien einen Tunnelblick auf Libyen richteten, wurden die Bewegungen in Jordanien, Bahrain, Saudi Arabien, Oman und Algerien niedergeschlagen oder sie wandelten sich selbst (siehe die Moslemischen Brüder) in Solidaritätsbewegungen mit Libyen um.

Auch in Tunesien und Ägypten begann die Gegenbewegung. In beiden Ländern stellt sich das Regime selbst als der Träger der von den Aufständen geforderten Reformen dar, wobei einerseits die Bürokratie und andererseits die Uneinigkeit der Bewegung tiefgreifende Reformen verunmöglichen. Staatliche Gremien sollen die Verfassungen reformieren, zu denen nur „Auserwählte“ eingeladen werden. Bis zu den Wahlen sollen Regierungen das Tagesgeschäft führen, die vom alten Regime gebildet wurden. Moderate Kräfte der Opposition konnten durch Teilnahme an Verfassungskomitees und Übergangsregierungen neutralisiert werden und dabei helfen, die tragenden Kräfte des Aufstands zu marginalisieren. Forderungen nach einer konstituierenden Versammlung für eine neue Verfassung wurden in beiden Ländern vom Regime beinhart ignoriert. Weitere Proteste konnten im Namen von „Ruhe und Ordnung“ und mit Zustimmung der moderaten Teile der Opposition niedergeschlagen werden.

Egal wie der libysche Konflikt ausgeht, der Westen hat die Initiative in der Region wieder erlangt. Es wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der bald Syrien als letztes „antiimperialistisches“ Regime ins Fadenkreuz bringen wird.

Stunde der säkularen Opposition?

Einen weiteren panarabischen Aspekt hat die Bewegung: Sie entstand wider Erwarten nicht aus der Moschee und warf keine religiösen Fragen auf. Im Gegenteil: die konfessionelle Karte wurde von Regimen ausgespielt, die sich bis dahin als Verteidiger des Säkularismus dargestellt hatten. Obwohl die islamische Bewegung als langjährige Trägerin des Widerstands gegen das Regime die politische Debatte in den Kulturkampf zu verschieben vermochte, waren die Forderungen der Massen nach Brot und Freiheit sehr irdisch. Der Zusammenhalt der arabischen Völker hatte diesmal einen nationalen und keinen religiösen Charakter. Die Massen zeigten ein spontanes Klassenbewusstsein und stellten soziale und keine kulturellen Forderungen. Es waren schlussendlich auch die Arbeiterstreiks, die etwa das ägyptische Regime zwangen, Mubarak zu entfernen.

Das ist einer der Gründe, warum sich die Moslemischen Brüder, bis dahin die größte oppositionelle Bewegung in mehreren Ländern, dem Regime als stabilisierende Kraft anboten. Während sie sich in Jordanien oder den Golfstaaten eher zurückhalten bzw. in Bahrain das Regime eher unterstützen, verhalten sie sich offensiv gegenüber ehemaligen sozialistischen Regimen (Libyen, Syrien), was auch der Westen tut. Der politische Islam nimmt daher wieder seine alte reaktionäre Haltung ein. Das kann jedoch von kurzer Dauer sein. Es ist noch sehr fraglich, wie weit das arabische Regime bereit ist, die Macht mit den Moslemischen Brüdern zu teilen.

Es ist zu früh zu behaupten, dass eine neue säkulare panarabische Linke im Entstehen sei. Vielmehr sind Jahrzehnte von Repression und Anhäufungen von Niederlagen sowie eine weitgehende NGOfizierung der Linken zu erwarten. Es ist im Moment jedoch wieder möglich, auf der Basis „irdischer“ Ideen Politik zu machen. Trotz Konterrevolution öffnete die Bewegung ein Freiheitsfenster, das gute Anfangsvoraussetzungen für neue progressive Kräfte schafft. Die kommende Zeit wird zeigen, ob Linke und panarabistische Kräfte in der Lage sind, die günstige Situation zu nützen, oder ob das Wasser dem Verdurstenden zu spät gekommen ist.