Ägypten bereit für Tahrir III

12.06.2012
Pro-revolutionäre Kräfte gewinnen fast die Hälfte der Stimmen, werden aber von der Stichwahl ausgeschlossen
Von Wilhelm Langthaler
Wären die Wahlen vom 23./24. Mai für ein proportionales Parlament gewesen, die die Tahrir Bewegung unterstützenden Kräfte wären mit etwa 40% der Stimmen als die stärkste Kraft hervorgegangen.

Dies ist ein großer Schritt vorwärts verglichen mit den Parlamentswahlen vom letzten Herbst. Die Stichwahl findet dennoch zwischen den zwei anderen Kräften des Machtdreiecks statt: nämlich dem alten Regime - unterstützt von der Armee - und der Moslemischen Bruderschaft (MB). Die Tahrir Kräfte werden darauf angewiesen sein, auf die Straße zu gehen. Die jüngsten Freisprüche von den Söhnen Mubaraks und hochrangingen Polizeioffizieren gießen weiteres Öl ins Feuer. Große Mobilisierungen auf den Straßen sind möglich.

Linker Kandidat als Shooting Star

Die Überraschung der ersten Runde der Präsidentenwahlen war das Ergebnis des linken Nasseristen Hamdeen Sabbahi. Er wurde Dritter mit 20,7%, das sind etwa 4,8 Millionen Stimmen. Sabbahi gewann in den meisten städtischen Zentren; in den zwei größten Städten, der Hauptstadt Kairo und in Alexandria, sogar mit etwa einem Drittel der Stimmen, weit vor seinen Gegenspielern.

Symbolisch ist der Fall des Armenviertels Imbaba in Kairo, welches in den 90ern eine Hochburg der Salafisten war und später von der MB übernommen wurde. Die Ergebnisse: Sabbahi am ersten Platz (32,2%), gefolgt von Shafiq (23,2%), Mursi (18,3%), Abul-Fotouh (14,7%).

Aboul-Fotouh, ein eher liberaler pro-Tahrir Islamist, der von der MB ausgeschlossen worden war, bekam insgesamt etwa 17,1% - das entspricht ca. 4,1 Millionen - der Stimmen. Zusammengenommen zeugt das von einem deutlichen Ruck in Richtung der revolutionären Kräfte, der Linken und des demokratischen Milieus insgesamt. In den städtischen Zentren können die pro-Tahrir Kräfte als absolute Mehrheit angesehen werden. (Man muss in Rechnung stellen, dass es einen großen passiven Sektor gibt, da die Wahlbeteiligung nur bei etwa 46% lag.) Bestimmt gewann Fotouh auch einige Stimmen der Salafiten (die Salafiten unterstützten ursprünglich Mubarak gegen die demokratische Bewegung). Aber auch diese Tatsache selbst kann als ein Linksruck interpretiert werden. Denn diese Leute stimmten für einen Kandidaten der mit den Tahrir Kräften kooperieren möchte, etwas bislang nicht Gekanntes von den Salafiten.

Die pole position für den Kandidaten der MB, Mursi, war nicht von vornherein klar vorherzusehen. Genauer betrachtet zeigt das Resultat einen bedeutenden Absturz. Von 10,1 Millionen Stimmen verloren sie fast die Hälfte und erhielten nur 5,8 Millionen, bzw. 24,8%. Wenn man miteinbezieht, dass der Kandidat der Salafiten ausgeschlossen worden war und einige aus dem salafitischen Milieu für Mursi gestimmt haben werden, schneidet die MB noch schlechter ab, da der salafitische Block bei den Parlamentswahlen allein 7,5 Millionen Stimmen erhalten hatte. Einerseits zeigt dies die Enttäuschung der Volksmassen über die Allianz der MB mit dem SCAF (Supreme Council of Armed Forces), andererseits zeigt es aber auch, dass der Apparat der MB und der Kern ihrer Wählerschaft intakt und noch immer mächtig sind. Sie repräsentieren die islamische Bourgeoisie mit wichtigen Wurzeln im Volk. Aber ihre ursprüngliche Überheblichkeit ist unangebracht, da sie jetzt auch die Tahrir Bewegung und Teile des liberalen Milieus gegen Shafiq und das alte Regime umwerben müssen. Aber die Ablehnung der sie sich gegenüber sehen ist groß, angesichts ihres bisherigen Umgangs mit den Forderungen der Tahrir Bewegung. Und diese wird nicht weniger, da sie nachwievor nicht bereit sind im Kern die Forderungen zu erfüllen.

Der Zweite, Shafiq, mit 5,5 Millionen Stimmen, bzw. 23,6%, ist klar der Kandidat des Militärs und des alten Regimes, die sich mit den Schlagwörtern Sicherheit und Stabilität reorganisieren konnten. Shafiq kündigte an die Revolution zu beenden. Diese offene konterrevolutionäre Position ist neu, nachdem in der Folge des Sturzes von Mubarak die Überreste des alten Regimes versuchten pro-revolutionär zu erscheinen. Diese Wende scheint der Grund für die Niederlage von Amr Mousso zu sein, der das demokratische Feigenblatt repräsentierte. Diejenigen die das alte Regime unterstützen, wollen ihrer Forderung nach einem neuen starken Mann Gehör verschaffen. Shafiq kann sich, neben dem Militär und dem alten Staatsapparat, auf die Wirtschaftseliten stützen, sowie einige der säkularen Mittelklassen und einem Teil der Kopten. Es gab sogar so etwas wie eine kleine Kampagne, welche die Christen als Unterstützer der alten Diktatur denunzierte. Die Realität jedoch ist, dass ein großer Teil der Kopten aus den unteren und Mittelklassen massiv für Sabbahi gestimmt hat. Zusammengenommen, angesichts der Tatsache, dass der Staatsapparat und große Teile der Medien für ihn sind, bleibt das Ergebnis von Shafiq ärmlich.

Unfaire Wahlen

Es darf nicht vergessen werden, dass - von einem demokratischen konstitutionellen Standpunkt aus gesehen - die Wahlen absurd sind. Die Leute wurden an die Urnen gerufen unter der Herrschaft einer Militärjunta, während die Rolle und Funktion des Präsidenten ungeklärt bleibt. Aktuell ist die Verfassung von Mubarak noch gültig, nachdem das Militär gemeinsam mit der MB in einem Referendum unmittelbar nach dem Sturz von Mubarak dafür gestimmt hatten, sie mit nur geringfügigen Änderungen beizubehalten. Eine neue Verfassung zu entwerfen wurde an ein konstitutionelles Komitee delegiert, welches vom Parlament, das von islamischen Kräften kontrolliert ist, eingesetzt werden sollte. Nach dem Rückzug aller anderen Kräfte aus diesem Komitee, erklärte die Judikatur diese Körperschaft für nicht repräsentativ. So geriet der gemeinsame Versuch der MB und des SCAF, eine Verfassungsgebende Versammlung, gewählt vom Volk, zu verhindern, in eine Sackgasse. Es ist wieder an der Junta, eine Verfassungsgebende Versammlung nach ihren Interessen zu konstruieren.

Die MB wurde Opfer ihrer eigenen Politik. Auf Grundlage der alten Verfassung wurde ihr Spitzenkandidat el Shater von der Kandidatur ausgeschlossen, da er zuvor politischer Gefangener gewesen und daher vorbestraft war. Ebenso wurde der für die Salafiten so hoffnungsvolle Abu Ismail ausgeschlossen, gemeinsam mit Suleiman, der von Mubarak als sein Nachfolge vorgesehen gewesen wäre, um Shafiq ins Rennen zu schicken. Diese Bedingungen allein zeigen den unfairen Charakter der Wahlen.

Aber es gab auch massive Probleme in der Durchführung der Wahlen selbst. Die geschlagenen Mitbewerber brachten fundierte Beschwerden ein: Etwa eine halbe Million Wahlberechtigte wurden in die Wählerregister aufgenommen, ohne Erklärung der Wahlkomission. Zugang von Beobachtern zur Auszählung wurde nicht sichergestellt. Entsorgte Wahlurnen wurden aufgefunden. Aber alle Fälle von Irregularitäten wurden ohne ernsthafte Untersuchung abgetan. Der Rechtsweg steht nicht offen. Somit kontrolliert der alte Apparat weiterhin das Gespinst der Wahlen. Damit erscheinen die Erfolge von Sabbahi und Fotouh in einem noch besseren Licht und es ist durchaus denkbar, dass Sabbahi unter fairen Bedingungen in die Stichwahl gekommen wäre.

Ausschluss von Shafiq

Gleich nach den Wahlen war die Tahrir Bewegung wieder auf der Straße mit zwei zentralen Forderungen:

Erstens, die Junta muss sofort ihre Macht an einen zivilen Übergangsrat, bestehend aus den wichtigsten Präsidentschaftskandidaten, manchmal inklusive El Baradei, abgeben. Radikalere Kräfte wollen in diesem Rat ausschließlich Vertreter der Volksbewegung, Führer der Tahrir Bewegung, sehen. Die Stichwahlen sollten verschoben werden bis der SCAF sich zurückgezogen hat und eine neue Verfassung entworfen wurde. Dieses Herangehen ist in völliger Kontinuität mit der Kernforderung nach einem Ende der Militärherrschaft, welche von der revolutionären demokratischen Bewegung seit Mubaraks Sturz aufgestellt wird. Die MB ist weiterhin sowohl gegen einen zivilen Übergangsrat, selbst wenn sie drinnen wären, als auch gegen eine Verschiebung der Stichwahlen. Sie besteht darauf einen Konflikt mit dem alten Regime zu vermeiden, etwas das die praktische Erfahrung bereits Lügen gestraft hat.

Zweitens, Shafiq muss von den Wahlen ausgeschlossen werden, gemäß eines Gesetzes welches vom Parlament verabschiedet wurde, jedoch von der SCAF-Exekutive nur willkürlich umgesetzt wurde. (Suleiman, Shater und Abu Ismail wurden ausgeschlossen, aber nicht Shafiq.)

Es ist schwer vorstellbar, dass Shafiq als Sieger bei den Wahlen ohne Wahlbetrug hervorgehen wird. Sollte er siegen, ist es wahrscheinlich dass Tahrir III "ausbricht". (Tahrir I stürzte Mubarak, Tahrir II versuchte die Militärherrschaft vor den Parlamentswahlen letzten Herbst zu beenden.) Ein solcher Versuch des alten Regimes sich selbst zu erneuern, indem es eine demokratische Maske benutzt, könnte zu einer neuen Explosion des Volkes führen, wodurch die revolutionären Kräfte weiter gestärkt werden könnten.

Der Prozess von Mubarak

Dann kamen die Freisprüche von Mubaraks Söhnen und hochrangigen Polizeioffizieren. Wissend, dass Mubarak geopfert werden muss, erteilte sich der alte, noch amtierende Apparat, die Absolution. Welch eine Provokation! Sofort wurde eine dritte Forderung der Tahrir Bewegung hinzugefügt: Volksgerichte für Mubarak und seine Henker. Sowohl Sabbahi als auch Fotouh schlossen sich der Masse am Tahrir Platz an, und selbst Morsi zeigte sich, um für Unterstützung zu werben, die er gegen Shafiq braucht.

Aus dem Regen in die Traufe?

Verglichen mit Shafiq ist Mursi sicher das kleinere Übel. Es gab viele Vorschläge der Volksbewegung wie eine Niederlage von Shafiq sicherzustellen sei. Von Mursi wurde verlangt, er solle zurücktreten und das Feld Sabbahi überlassen. Es wurde argumentiert, dass für ein ganzes Jahr die MB betont hatte als stärkste Kraft keinen Kandidaten ins Rennen zu schicken um sich nicht selbst der Gesellschaft aufzudrängen. Jetzt sollte sie zu ihrem Versprechen stehen - eine Idee welche von Mursi abgelehnt worden war und von den Behörden als verfassungswidrig erklärt worden war. Dann kam der Vorschlag, dass Mursi Sabbahi und Futouh als seine Stellvertreter nominieren sollten. Es gibt keine Klausel in der Verfassung wodurch soetwas geregelt werden würde. Bislang vermied es Mursi sich zu dieser Sache zu äußern. Andere forderten Garantien für demokratische Rechte zu denen er stehen solle. Bislang zeigte sich Mursi nicht sehr offen für den Druck des Volkes. Angesichts des politischen Verhaltens der MB im letzten Jahr kann nicht viel erwartet werden.

Der größte Teil der Tahrir und der linken Bewegung scheinen für die Option eines Boykottes oder einer Abgabe einer ungültigen Stimme zu sein, mit dem Ziel sowohl Shafiq als auch Mursi die Legitimität abzusprechen. Es gibt nur wenig Vertrauen in Mursi, angesichts der systematischen Weigerung der MB bzgl. der Tahrir Forderung, sofort die SCAF-Herrschaft aufzuheben. Andere, wie beispielsweise der einflussreiche Journalist und ehemalige Führer der Oppositionsbewegung Kifaya, Abdulhalim Qandil, rufen dazu auf, Mursi zu wählen um Shafiq zu schlagen, der als die Hauptgefahr angesehen wird. Unabhängig von der Entscheidung ist die Hauptlinie klar. Shafiq muss besiegt werden. Druck auf Mursi ausüben, damit er die demokratischen Errungenschaften der Bewegung nicht verletzt und zerstört, in dem man ihm keine carte blanche serviert. Und schließlich die gesamte Stichwahl in Frage zu stellen aufgrund der zweifelhaften Bedingungen und konstitutionellen Unzulänglichkeiten.
Vulkan

Jeder Schritt des SCAF um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten und die Duldung der MB, was schmerzhaft letztes Jahr erlebt wurde, sieht sich mit der Tahrir Massenbewegung konfrontiert. Mehr als zuvor weiß die Tahrir Bewegung, dass ihre Stärke auf der Straße ist und dass sie fähig ist die ungleiche und wacklige Allianz zwischen SCAF und MB zu einem Ende zu bringen. Der Konsens im Volk der Tahrir Bewegung ist während des letzten Jahres größer geworden. Das Vetrauen in die hohlen Institutionen des SCAF, die einen demokratischen Anstrich mit Hilfe der MB verpasst bekamen, schwindet. Die Volksmassen sind knapp davor in eine dritte Tahrir Bewegung zu explodieren wenn der SCAF einen größeren Angriff wagt, wie beispielsweise Shafiq einzusetzen. Das könnte die revolutionären Kräfte weiterbringen.

Somit bleibt Ägypten das Zentrum der revolutionären demokratischen Bewegung in der arabischen Welt. Die Tahrir Bewegung war bislang erfolgreich darin, einen Wiederaufbau der imperialistischen Ordnung und des imperialistischen Regimes in Ägypten zu verhindern und sorgte dafür, dass die MB einen hohen Preis für ihren Weg in diese Richtung bezahlt. Damit wird für die gesamte Region ein Beispiel gegeben, das einen wichtigen Eindruck machen kann.

Aber ebenso klar ist, dass der Prozess in Ägypten und der Region nicht ruhig und
kontinuierlich sein wird. Die USA und der Imperialismus als Ganzes werden nicht ewig einem ernsthaften und tiefgreifenden Verlust der Region und seines zentralen Landes Ägypten zusehen. Früher oder später, sollte es der Tahrir Bewegung weiterhin gelingen auf dem Vormarsch zu sein, wird sie sich einem größeren Angriff, unterstützt durch den Imperialismus, gegenübersehen. Dieser Moment wird da sein, wenn die erste Welle des Umwerbens des "Arabischen Frühlings" vorüber ist und die Waffen sprechen werden.