Neue Heroen des Neoliberalismus: von Rürup bis Van der Bellen

13.10.2012
Der verhüllte Klassenkampf
Von A.F.Reiterer
Und wieder wird „Alterskampf“ gespielt. Dass Leute wie Tomandl und sein früherer Assistent Mazal oder Rürup und Marin die Pensionen drücken wollen, ist nicht neu. Aber diesmal sind unter den „Experten“ auch Namen, die ein wenig überraschen – oder auch wieder nicht. Unter die Vorkämpfer des Neokonservativismus hat sich auch Van der Bellen eingereiht – Ex-Vorsitzender der Grünen, noch immer politisch für sie aktiv.

Der Vorschlag läuft auf das persönliche Pensions-Konto hinaus. Dieser Vorschlag ist im Grund mit der Schüssel’schen Pensions-Kürzungsaktion ohnehin schon verwirklicht, allerdings zugegebener Maßen etwas abgemildert. Die Wahlniederlage hat es ihm trotzdem nicht erspart.

Die Alten ruinieren also wieder einmal Österreich, Europa und das Christliche Abendland überhaupt. Hunde, wollt Ihr ewig leben? Bevor wir auf den politischen Inhalt kommen, wollen wir mit Robert Fogel, Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1993, eine kleine Kalkulation machen. Er macht folgende Rechnung auf. Wenn wir 30 Jahre lang arbeiten, mit 55 Jahren in Pension gehen – 55, nicht 65 – und 15 % unseres Aktiv-Einkommens sparen, welches Lebens-Niveau können wir dann in der Pension für die nächsten 30 Jahre erwarten?

Die Antwort hängt vom Zinssatz ab. Und da passiert dem Nobelreisträger etwas. Er verwechselt Mikro- und Makro-Ökonomie und rechnet mit 3 %. Das erhält er als Professor einer angesehenen US-Universität für seine Altersvorsorge. Damit kommt er auf ein Lebensniveau von 60 % des Aktiv-Einkommens.

In den letzten 3 Jahrzehnten wuchs das BIP in Österreich 2,3 % bzw. pro Kopf 2,1 %. Im Schnitt 1,7 % in den nächsten Jahrzehnten ist somit hoffentlich nicht übertrieben, das ist realistischer als 3 %. Dann aber ist ein Zinssatz von 3 % nur erreichbar, wenn es eine Umverteilung von unten nach oben gibt, zu denen, welche durch die Geld-Anlagen 3 % erreichen können, wie Professoren. Aber es ist ganz ausgeschlossen, dass alle dies bekommen – das geht saldenmäßig einfach nicht. Rechnen wir etwas realistischer nach.
Nehmen wir also einen Zinssatz von 1,7 % und drehen wir die Frage um: Wie lange müssen wir arbeiten, um annähernd 60 % des Aktiveinkommens auch in der Pension zu erreichen?
Fogels sanguinisches Verhältnis von 30 Arbeits- zu 30 Ruhe-Jahren ist damit nicht erreichbar. Aber wir sehen zu unserem Erstaunen: Unter dieser Annahme müssten wir 44 Jahre arbeiten. Steigen wir mit 20 Jahren in den Beruf ein, dann können wir im Alter von 64 mit 57 % des Aktiv-Einkommens in den Ruhestand zu gehen und weitere 20 Jahre leben. Wenn die Wirtschaft schneller wächst, verkürzt sich entsprechend die Arbeitszeit oder erhöht sich das Niveau. Es gibt also keinerlei Anlass zum Alarm. Die einzige Voraussetzung ist: Es darf keine Umverteilung hin zu privilegierten Schichten geben. Das manche „Experten“ und ihre Journaille so beunruhigende Problem der „Finanzierung“ der Pensionen gibt es in der Realität nicht.

Überdies muss man Ökonomen an eine triviale Tatsache erinnern: Ob bei „Kapitaldeckung“ oder im Umlageverfahren – es geht immer um den Erwerb von Ansprüchen, nicht von realen Ressourcen. Ich spare schließlich nicht heute ein Packerl Milch, um es in 20 Jahren zu trinken. Auch beim „Ansparen“ erwerbe ich nur Ansprüche.

Aber verlieren die Aktiven nicht ständig an Wohlstand, wenn sie „immer mehr“ Pensionisten erhalten müssen? Der Anteil der Alten nimmt doch zu.
Rechnen wir weiter, in ähnlicher Weise! Gehen wir von einer jährlichen Produktivitätszunahme von 1,5 – 2 % aus. Das ist die Regel der letzten Jahrzehnte. Dann könnte bei gleich bleibender Aktiv-Bevölkerung die Zahl der Pensionisten ceteris paribus um Satz steigen, ohne dass die Aktiven tatsächlich einen Wohlstandsverlust erleiden. Das ist aber bei weitem nicht der Fall.

Worum geht es also wirklich?
Das Alter und die „Pensionsfrage“, also die Pensionskürzungen für Unter- und Untere Mittelschichten wurden zu einem strategischen Zentralpunkt im neoliberalen Diskurs des letzten Jahrzehnts. Die politische Klasse in der EU betrachtet dies als ein Hauptanliegen. In einem Zentraltext der neuen „Wirtschaftsregierung“ kommt die „Rentenreform“ als einziges konkretes Politikfeld vor, und zwar gleich 3 Mal (S. 5, 11, 19). Die „Verordnung zur Veränderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der Haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken“ [so unauffällig heißen heute soziale Konterrevolutionen] beschließt die „Verlagerung von Beiträgen von der von der öffentlichen Hand finanzierten Säule auf die vollständig kapitalgedeckte Säule“ und nimmt dafür sogar kurzfristig erhöhte Defizite in Kauf, ansonsten Anathema.

Es geht ihnen um den zielführendsten Pfad zur Ein-Drittel-Gesellschaft. Dabei spielt nebenbei und nicht unwichtig auch das Kleingeld für die Versicherungsgesellschaften, einen relevanten Teil des Finanzkapitals, eine Rolle. Die Strategie ist komplexer, als man denken möchte. Die Umverteilung scheint vorerst nur die Pensionist/inn/en zu betreffen. Ihr Einkommen wird direkt gekürzt. Aber es betrifft Lebensplanung und -ablauf Aller. Die „Eigenvorsorge“ muss natürlich aus dem laufenden Einkommen bezahlt werden. Es ist faktisch eine Kürzung des Einkommens. Und es hat einen politischen Aspekt: Die Bevölkerung soll damit stärker diszipliniert werden. Wer erlaubt sich den Luxus einer Unterbrechung des Erwerbs, einer Auszeit, wenn dies das Risiko der Altersarmut stärkt? Und Arbeitslosigkeit wird noch stärker zur Bedrohung.

Es ist die Reduzierung des Sozialstaats von der umfassenden Vorsorge auf die Deckung nur mehr minimaler materieller Bedürfnisse. Mit dem europäischen Modell hatte man die breite Mittelschicht gewonnen. Diese Strategie ist nun offenbar überflüssig. Man will sie entsorgen.
Dabei gibt es wirklich schmutziger Einzelheiten. Die Lebensarbeitszeit jener, welcher besonders gegen die „Hacklerpension“ geifern, ist im Schnitt niedriger als jene aller anderen Schichten. In die Nähe von 45 Berufsjahren kommt ein Bernd Marin nicht annähernd. Diese akademischen „Experten“ arbeiten selbst höchstens 40 Jahre und meist weniger. Ihr Berufseinstieg erfolgt meist erst nach dem 25. Lebensjahr, und die Pensionierung im Mittel vor dem 65. Jahr. Und schließlich ist noch der Unterschied in der Lebenserwartung mitzubedenken. Wenn ein Unterschicht-Mann nach 44 Arbeits-Jahren mit 59 in Pension ginge, hätte er noch rund 16 Jahre zu leben und stirbt dann im Alter von 75 Jahren. Ein Akademiker aus der oberen Mittelschicht würde derzeit nach 38 Jahren Berufsleben mit 64 in Pension gehen, dann 18 Jahre im Ruhestand verbleiben und schließlich mit 81 sterben. (Die Zahlen stammen aus einer Rechnung von 2008, aber die Relationen haben sich mit Sicherheit kaum geändert.)

Der Klassenkampf verkleidet sich als Alterskampf. Aber es ist derselbe Kampf um Privilegien und gegen die Unten, wie seit je.

5. Oktober 2011