Krisen, lange Wellen und die Folgen

13/01/2011
von Albert F. Reiterer
Die Finanzkrise ist ein wesentlicher Schritt zu einer Umstrukturierung des wirtschaftlichen Weltsystems: Die hoch entwickelten Zentren werden und müssen sich – mit wichtigen Ausnahmen sowohl hinsichtlich der Produkte als auch was bestimmte Länder betrifft – noch stärker auf die profitable Rolle als Steuerungszentren zurückziehen.

Wir veröffentlichen hiermit Diskussionsbeiträge zur „Tagung der Ungläubigen: Krise, Weltordnung, Hegemonie“. Sie dienen dazu die Debatten anzustoßen und verstehen sich als Entwürfe, die als Ergebnis der Zusammenkunft noch verändert werden können.

Thesen
Generalthese

Die Finanzkrise war/ist ein wesentlicher Schritt zu einer Umstrukturierung des wirtschaftlichen Weltsystems: Die hoch entwickelten Zentren werden und müssen sich – mit wichtigen Ausnahmen sowohl hinsichtlich der Produkte als auch was bestimmte Länder betrifft – noch stärker auf die profitable Rolle als Steuerungszentren zurück ziehen. Die Subzentren und die Halbperipherie werden zu den eigentlichen Produzenten einer mondialisierten Welt. Die Peripherie (LLDCs, schlechtest entwickelte Länder) werden sich über mittlere Frist als verelendete Nischenproduzenten einrichten müssen.

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Das Gleichgewichts-Konzept hat das Denken über Gesellschaft und ihre Entwicklung grundlegend bestimmt. Das gilt nicht zuletzt für Marx. Seine gesamte ökonomische Analyse beruht auf ricardianisch geprägten Gleichgewichts-Vorstellungen. Interessanter Weise gilt dies für die allerdings weniger systematische politische Analyse nicht. Diese zentrale Funktion des Gleichgewichts-Begriffs ist fatal, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Entwicklungsprozesse werden, ganz plausibel, viel sinnvoller mit einem „Ungleichgewichts“-Ansatz erfasst. Allerdings zeigt sich hier der Pferdefuss auch noch im Wort: Das Gleichgewicht ist negativ noch vorhanden (s. u.). Dabei kommt es hauptsächlich auf die Form der Entwicklung an. Betrachtet man Entwicklung, wie etwa die ökonomische Wachstumstheorie nach dem Krieg, als linear, dann hat man nicht viel gewonnen. Tatsächlich suchte sie ja nach „gleichgewichtigen Wachstum“ (Harrod, Domar). Entwicklung geht aber gewöhnlich in Schüben vor sich. Die formal geeignetste Beschreibung sind (doppel-) logistische Kurven. Inhaltlich sind solche Schübe Änderungen der Klassenstruktur, auf der Eliten- wie auf der Massenebene. Sie stellen sich in der Folge bzw. in Kombination mit beschleunigten Entwicklungen der Technostruktur ein, also der Subsistenz-Techniken wie auch der Organisation von Produktion und Verteilung, inklusive des Anhebens des gesellschaftlichen Skalen-Niveaus und damit eines meist höheren Integrationsgrads.
Beschreibt man sie auf diese Weise, dann sind Krisen aber nicht mehr notwendig Sterbeszenen. Sie werden nun zu Transformationsereignissen. Die Konsequenzen aus dieser eher abstrakten epistemiologischen Feststellung sind radikal: theoretisch und politisch. Krisen führen (fast) nie zu automatischen Zusammenbrüchen.

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Die Finanzkrise 2007 – 2010 entstand aus einer zeitweise nahezu vollständigen Ablöse des globalen Finanz- und Geldsystems von den (materiellen) Produktionsprozessen. Einzelvermögen können – wie seit langem bekannt – kurzfristig fast ausschließlich über Spekulationen im Finanzsektor erworben werden. Darüber ging die einfache Erkenntnis verloren: Werte und Profite müssen erst einmal erzeugt werden, bevor sie im Weg der Spekulation (real) verteilt werden können. Die Spekulationen waren reine monetäre Umverteilungen zwischen Banken und ähnlichen Akteuren. Selbst heute ist dies in vielen Gehirnen, vor allem von Ökonomen, noch nicht angekommen. Wir können also den Unsinn lesen, dass in der Finanzkrise ein Gesamtvermögen von 50 Billionen US-$ oder mehr „vernichtet“ wurden. Diese „Vernichtung“ war allerdings ihrerseits wieder eine Art Umverteilung potenziell realer Werte, vor allem zwischen unterschiedlichen Finanzkapitalien, aber auch zwischen Finanz- und Produktivkapital.

„Die Welt“, 9. März 2009 (sie beruft sich dabei auf ein Papier der Asiatischen Entwicklungsbank)
Die schlimmste Krise seit 80 Jahren hat laut einer Studie bereits Vermögen in Höhe von 50 Billionen Dollar – das sind 40 Billionen Euro – vernichtet. Besonders hart trifft der Vermögensverlust Asien. Und es wird noch schlimmer, sagen Experten: Laut Weltbank rutscht erstmals seit 1945 die gesamte Weltwirtschaft ab.

Für viele Volks- und Betriebswirte ist die Einsicht eine Überforderung, dass die Addition von spekulativen Einzelwerten nur zu einer fiktiven Summe führt, die nichts besagt. Die Verständnisschwierigkeit kommt daher, dass der Einzelne seine Gewinne mit ein wenig Fortune tatsächlich realisieren kann – aber nur der Einzelne, nicht alle Spekulanten zusammen.
Es gab aber eine Rückbindung an das Wirtschafts- und Produktions-System. Banken müssen sich die Basismittel aus diesem System besorgen, welche sie dann, durch Leverage-Effekte vielfach vergrößert, in ihrem eigenen nahezu geschlossenen System auf die Reise um die Finanzwelt schicken. Sie können sich als Teil dieses übergeordneten Ressourcen-Systems nicht abmelden, wenn sie davon in irgend einer Weise profitieren wollen. Dementsprechend wirken sie, die das Steuerungsmittel Geld kontrollieren, auch wieder darauf zurück, wenn auch auf eine perverse Weise.
Es war im Grund das Prinzip des Kettenbriefs, auf das die Investment-Banken setzten. Das wird besonders durchsichtig bei einem der Hauptauslöser dieser Krise: den „NINJA“-Krediten (NINJA = No Income – No Job – No Assets). Von ihren Verkaufsleitern und der eigenen Gier gehetzt, drängten „Berater“ in US-Banken Kunden Kredite für Hauskauf auf, die voraussehbar fallieren mussten, es sei denn, die Immobilienpreise stiegen unendlich weiter. Als die Blase platzte verloren nicht nur die Banken ihr Geld; die Kunden verloren ihre Wohnungen. Das System aber stockte plötzlich, weil die Banken vor allem einander, aber auch ihren produzierenden Kunden so gründlich misstrauten, dass sie ihre Funktion – die Geld- bzw. Kreditversorgung – einstellten.
Die Rückbindung an die wirtschaftliche Wirklichkeit soll nunmehr über verschärfte Eigenkapital-Vorschriften erfolgen („Basel III“). Doch zum Einen wurden schon Basel I und II umgangen. Zum anderen kann der künftige Geschäftsgang nur zum selben Ergebnis, wiederum einer Finanzkrise, führen, wenn diese Art von Geschäften nicht eingebremst werden. Und schließlich verzichtet die Politik wiederum zugunsten einer „Selbstregulierung“ seitens der Banken auf die Kontrolle, dankt also neuerlich ab.

(2)
Die Finanzkrise wurde in Europa auf der ökonomischen Ebene zur Industriekrise. In diesem Sinn ist sie der Auftakt zu einer Langen („Kondratieff-“) Welle neuer Art. Auf der politischen Ebene bildete sie den Anstoß zu einer neuen Runde der massiven Umverteilung.

2.1. Dort, wo im Eurogebiet der Sektor der materiellen Produktion besonders viel zur Wertschöpfung beiträgt, dort war der Rückgang der Produktion 2008/2009 besonders ausgeprägt. Der Befund, nämlich die Korrelation, ist eindeutig. Die Erklärung ist nicht ganz einfach. Passende Daten fehlen, und so ist das folgende eine versuchsweise Annäherung.
Nennen wir die Produktion von Gütern und das Anbieten bzw. Erstellen von Dienstleistungen Realwirtschaft. Bei den Diensten geht es sowohl um die Befriedigung von Letztbedarf, also Konsum, wie auch um produktionsorientierte Dienstleistungen, nicht aber um rein spekulativ-distributive Tätigkeiten (obwohl die Grenze schwer zu ziehen sein dürfte). „Realwirtschaft“ ist und bleibt stets die Basis ökonomischer wie auch sonstiger sozialer Aktionen und Beziehungen. Das ist der reale Hintergrund der Lehrbuch-Ideologie vom Konsum als Ziel der Wirtschaft.
In einer globalisierten Wirtschaft findet internationale, interkontinentale und interkulturelle Arbeitsteilung statt, und zwar entlang von politischen Grenzen. A. G. Frank und S. Amin haben dies vor vier Jahrzehnten plastisch so ausgedrückt: Die Produktion kommt nach Brasilien und in den Kongo – heute würden wir vielleicht eher China, Vietnam und Indien wählen; die Steuerung, Organisation sowie F/E findet hingegen in den USA und Westeuropa statt. Mit den personenbezogenen proletaroiden Diensten funktioniert dies (bislang) nicht so gut: Also lässt man die slowakische Pflegerin nach Wien kommen. Vielleicht wird man die ärmeren Alten und Kranken in Hinkunft auf die Philippinen oder nach Kerala exportieren.
Daneben gibt es einige wichtige Produktionsbereiche, wo dies nicht oder noch nicht zutrifft. Hochwertiger Maschinenbau findet noch immer eher in der BRD oder Österreich statt und die Anlagen werden nach China und Indien exportiert. Doch auch andere Produkte werden tendenziell wieder eher in der Ersten als in der Dritten Welt erzeugt, wenn es sich um besonders hoch mechanisierte und automatisierte Betriebsstätten handelt: So kehrte ein Teil der Textilindustrie aus Südostasien nach Westeuropa zurück.

2.2.1 Denn: Lohnkosten spielen in der hoch entwickelten Industrie keine große Rolle. Wenn der Lohnanteil an den Gestehungskosten z. B. 4 % ausmacht, ist es ziemlich gleichgültig, ob eine Lohnsteigerung z. B. 2 % oder 4 % betrüge. Im einen Fall würden, cet. par., die Kosten auf 100,08, im anderen Fall auf 100,16 steigen. Doch die Unternehmer nehmen ihre eigene Klassenkampf-Rhetorik ernst. Weiters, und das ist wichtig, macht es einen Unterschied aus, ob die Löhne bei gleicher Technologie in China und Indien nur 1/20 der europäischen Löhne ausmachen. Zwar ist die Produktivität auch bei gleicher Technologie nicht dieselbe (deswegen auch Entwicklungen, wie im vorigen Absatz erwähnt); aber nun wird der Einfluss auf die Kosten merkbar. Wir können daher davon ausgehen, dass es eine Tendenz zur Verlagerung von Industrie und auch bestimmten Diensten in solche Schwellenländer gibt (darüber noch später). Das ist der strukturelle Inhalt des neuen Kondratieffs.

2.2. Die schleichende Krise bestimmter Industrien in den hoch entwickelten Ländern wurde akut, als es plötzlich eine Kreditklemme gab. Überdies ließ der private Konsum auf Grund der Stimmung sowie auf Grund der Arbeitslosigkeit nach. Kurzarbeit mag einen Sinn haben, aber den Rückgang von Kaufkraft verhindert sie gerade eben nicht.

2.3. Die Eliten sahen ihre Chance. Die politischen Eliten zogen teils wissentlich, teils aus Unkenntnis mit. Das (Finanz-) System musste unbedingt gerettet werden. Dafür sprachen mehr ideologische als technokratische Gründe. Die Gefahr, dass in Österreich die ERSTE zusammenbrach, war nicht überwältigend. Aber wenn es passiert wäre, hätten die Großkunden Einiges verloren. Die Entschädigung der Kleineinleger, vom Gesetz her vorgeschrieben, wäre sicher billiger gewesen als die Kosten der „Banken-Rettungsaktion“. Vor allem aber wäre ein solcher Zusammenbruch ein schwerer Schlag für das Vertrauen in dieses System gewesen.

2.4. Man musste also die Krise, die in mancher Richtung gegeben war, zur Systemkrise der hoch entwickelten Länder und darüber hinaus des Wohlstands überhaupt machen. Auf diese Weise akzeptieren es dann die meisten Menschen, dass die Kosten für die Rettung der Großvermögen aus der Krise nun eingebracht werden. Der „Blut-und-Tränen“-Diskurs dient vor allem einem massiven Umbau der nationalen Systeme und auch des Weltsystems.
Ziel ist die Ein-Drittel-Gesellschaft. Die Oberschichten und die Oberen Mittelschichten sollen und werden die Gewinner sein. Die Unteren Mittelschichten versucht man mit dem Versprechen auf Aufstieg und mit einigen spezifischen sozialstaatlichen Anboten („Familienpolitik“, auch wenn man das Versprechen derzeit wieder ein wenig zurück nimmt; Pflegeversicherung; „Bildung für alle Leistungswilligen“; ...) zu ködern bzw. einzubinden. Über die Politik gegenüber den Unterschichten, etwa die Hälfte der Bevölkerung, bestehen in den Eliten, insbesondere auch den politischen Eliten, Meinungsverschiedenheiten. Die Harten Konservativen, verkörpert in den Christlichen und „New Labour“ (auch in Spanien, Portugal und Griechenland) sowie den sogenannten Liberalen Parteien, aber auch in solchen Gruppen, deren Sprecherin in der Schweiz z. B. die NZZ ist, wollen eine eindeutige Politik des sozialen und politischen Rückbaus. Die Schlagworte heißen „Lohnspreizung“, „Pensionsreform“, Arbeitszwang, usf. Die Sozialkonservativen, verkörpert am ehesten durch traditionelle Sozialdemokratien, teils auch die Grünen, wollen einen systematischen Sozialstaat auf niedrigem Niveau („Grundversorgung“). Seit die EU das Sagen hat, betreibt man denn auch nicht mehr Verteilungspolitik. Eine solche, auf klägliche Weise versteht sich, haben österreichische Gewerkschaften z. B. noch in den 1980 betrieben, wenn sie sich das Ziel einer Lohn- = Produktivitätssteigerung setzten. Jetzt betreibt man „Armutspolitik“. Das führt übrigens dazu, dass in gewissen Bereichen sozialstaatliche Leistungen systematisiert und sogar ausgebaut werden: Sie sollen Aufregung vermeiden helfen. In den Mitteln und den Ergebnissen unterscheiden sich die beiden Strömungen kaum voneinander. Der Sozialstaat als umfassende Politik soll zurück gefahren werden und wird es.
Die Wirtschaft in der BRD, aber auch in Österreich, also gerade jene mit hohem Industrieanteil, erholten sich seit einem halben Jahr nicht schlecht, wenn man nur auf die Wachstumsraten starrt. Und zwar geht dies, weil die Ausfuhren vor allem in die schlechter entwickelten sowie in die Schwellenländer, die produzierenden Subzentren, wieder stiegen. Auch wenn die Krise noch nicht gänzlich vorbei sein sollte, hat sie im Wesentlichen ihre Funktion erfüllt. der gefürchtete „double dipp“ wäre keine Katastrophe für die Nutznießer – er war schließlich das gewohnte Konjunkturbild in Westeuropa seit Mitte der 1970er Jahren.

(3)
Diese Krise bedeutet einen erheblichen Schritt im Umbau des ökonomischen und politischen Weltsystems, wie schon erwähnt. Aber was heißt das?

3.1. Nach einer präzedenzlosen Dominanzphase scheint ein Verlust an hegemonialer Kraft für die USA einzutreten. Strukturell lässt sich dies gut verfolgen. Seit dem Beginn der 1950er verlieren die USA Anteile sowohl am Welt-BIP, noch mehr aber am gesamten Welthandel. Dieser ökonomische Bedeutungsschwund wird von einer Reihe von politischen Faktoren verdeckt und teils auch substituiert. Denn die wirtschaftlichen und politischen Eliten Europas starren fasziniert auf das Imperium jenseits des Ozeans. Dort schafft man ohne nennenswerte Widersprüche von unten eine massive Umverteilung nach oben. Zudem schätzen die europäischen Eliten den militärischen Machtapparat der USA. Im Einzelnen mögen sie mit seinem Einsatz oft nicht einverstanden sein. Im Großen und Ganzen aber sehen sie hauptsächlich Vorteile von der Tatsache, dass die USA langsam in die Rolle einer Söldnermacht für die hoch entwickelten Länder insgesamt schlüpfen. Die Dümmeren unter den US-Konservativen haben dies nicht begriffen: Sie schwadronieren von „Charakter-Unterschieden“ – Mars ist heute ein US-Amerikaner...
Politisch ist der Prozess also noch nicht wirklich zu greifen. Die Katastrophen-Ära Bush hat eine gewisse Entfremdung zwischen den USA und einem Teil ihrer europäischen Marionetten gebracht. Auch der sehr passive Widerstand großer Gruppen in der Dritten Welt – die auf ihre Weise ebenso fasziniert vom Machteinsatz und vom Wohlstand der USA sind – hat sich denn doch ein wenig akzentuiert. Der Grund der Entfremdung ist offenbar weniger die Politik an sich, sondern ihre offenkundige Erfolglosigkeit. Die Arroganz und Dummheit der dortigen Führung hat die fundamentale Tatsache nicht begriffen, dass man mit Militär zwar effizient zerstören, nicht aber stabile Institutionen aufbauen kann. Nach Bush ist der Friedenspreisträger Obama auf bestem Weg, denselben Kurs einzuschlagen.

3.2. Der Wirtschaftswachstum ist in China – übrigens seit den 1950ern und nicht erst seit Deng – hoch, und in Indien seit einem Jahrzehnt auch. Doch für die mittlere Frist, also etwa bis 2030 dürften die weltsystemischen und politischen Auswirkungen stark überschätzt werden. Man erzählt uns begeistert, dass Ost- und Südasien in zwei Jahrzehnten einen jeweils höheren Anteil am Welt-BIP haben werden als die USA und West-Europa. Dies besagt an sich noch sehr wenig, wenn man nicht die Strukturierung dieser Welt miteinbezieht. Ein Ende der Dominanz der HICs im Sinn der Steuerung des Weltsystems ist derzeit nicht abzusehen. wie ich in der These 2 auszuführen versucht habe. Die Konfliktträchtigkeit und soziale Unverträglichkeit des chinesischen und indischen Wachstums-Modells lässt im Übrigen die Frage auftauchen, wie lange die Wachstumsraten gesichert sind. Im übrigen bedeuten solche Wachstumsraten noch keineswegs wachsenden Wohlstand, außer für eine sehr kleine Spitzengruppe. Hohe Außenhandels-Überschüsse erzeugen hauptsächlich wachsende, geradezu „brasilianische“ Ungleichheit im Inneren, nicht aber Wohlstand. Damit verschärfen sie Widersprüche und erzeugen Konflikte. Selbst die chinesischen Mittelklassen – die eigentlichen „Stabilitätsklassen“ und die Stützen des Regimes rund um die moderne Welt – wachsen nur sehr langsam.
Tatsächlich erzeugt das chinesische, indische und vietnamesische Entwicklungsmodell eher Stabilität in den HICs, im Westen, weil des dort durch die Möglichkeit eines Billigkonsums die Gesellschaftsspaltung unterstützt. In den produzierenden Ländern selbst ist es eher zerstörerisch. Die berühmten High Tech-Produkte, der Zug nach Tibet, und die Auslands-Investitionen á la Tata-Motors sind vorderhand mehr fürs Schaufenster („window dressing“) als dass sie strukturell etwas bedeuten.

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Auf mittlere Frist ist entscheidend, wie sich die Klassen- und politischen Verhältnisse im hoch entwickelten Westen ergeben. Jeder Tiersmondismus führt komplett in die Irre. Das soll nicht heißen, dass ein strategisches Bündnis mit den revolutionären Kräften der Dritten Welt nicht unabdingbar ist. Aber es ist eine höchst komplexe Angelegenheit.
Die gegenwärtige Transitions-Krise des Westens hat im Zentrum einen wichtigen Effekt gebracht: Ein wachsender Teil der Menschen ist nicht mehr gewillt, die Unverschämtheiten der Finanz- und Wirtschafts-Oligarchie widerspruchslos hinzunehmen und die Kollusion der Politik damit abzunicken. Aber wohl bemerkt: Das ist ein äußerst zahmes reformistisches Bewusstsein, das im Grunde in die 1980er zurück will. Was auf Widerstand stößt, sind die akuten Tendenzen der Gesellschaftsspaltung und die Art, wie diese befördert werden.
Doch damit kommt das gesamte Entwicklungskonzept der letzten zwei Jahrzehnte ins Rutschen. Denn damit wird – soweit es dies überhaupt bewusst gab – ein Gesellschafts-Modell und ein Entwurf der politischen Entwicklung in Frage gestellt, den man unterschiedlich benennen kann, der aber mit „Lissabon-Strategie“ schon einen passenden Namen hat.
Es dürfte übrigens die Ahnung von diesem Widerstand gewesen sein, welche die rasante „Osterweiterung“ der EU motiviert hat. Denn ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung des Ostens ist noch immer Trägerin dieser Politik, während ein immer stärkerer Teil der westlichen Bevölkerungen sie ablehnt.

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ANALYTISCHER UND EMPIRISCHER ANHANG
Ad 0)
Graphik 1: Eine allgemeine Entwicklungskurve?

Rondo Cameron hat das Konzept der „logistics“ als fundamentales Muster der Wirtschaftsgeschichte vorgebracht, und Immanuel Wallerstein und seine Gruppe haben es aufgegriffen und vor allem auch in der politischen Sphäre angewandt („Hegemonie-Zyklen“). Es ist kaum was anderes als eine Formalisierung (Geometrisierung) der Produktionsweise und allgemeiner, des Historischen Blocks. Die Idee ist: Beschleunigte Wandlungsprozesse etablieren neue Gesellschaftsmuster, die sich sodann über längere Zeit entwickeln und dabei ausreifen. In der wissenschaftlichen Publizistik spricht man dabei gern von „Revolutionen“: Neolithische Revolution, Industrielle Revolution. Ich ziehe den Begriff der Transition vor.
Wir können diesen Verlauf in den wichtigsten historischen und sozialen Bereichen und an den Wendepunkten der Entwicklung beobachten. Immer wieder wird zwar eine graduelle lineare Entwicklung auf den diparatesten Gebieten behauptet. Doch wenn man genauer hinsieht, stellt sich die Entwicklungskurve als logistisch heraus.
Diese Kurve ist fürs Erste ein heuristisches Mittel, um Unterschiede in der Auffassung von Entwicklung sichtbar zu machen. In bestimmten Bereichen kann sie aber zur modellhaft-formalen Beschreibung von Abläufen werden. Dies stütz beweiskräftig die Auffassung von Entwicklung in Schüben. Die Bevölkerungsentwicklung zählt dazu; auch die Entwicklung des Lebensstandards; die Reichtumskonzentration sowie auch die Phasen der stärkeren Gleichverteilung – bisher praktisch ausschließlich in Kriegen –sowie gegenwärtig auch einige Struktur-Indikatoren (Anteile von Landwirtschaft an Wertschöpfung und Beschäftigung; detto für Industrie und Diensten).

Ad 1)
Vergleich der operativen Geldmengen M0 und M3, der Umfang spekulativen Geldes ist damit noch keineswegs abgeschätzt.

Ad 2)
2.1.) a) Korrelation Kriseneindruck – Anteil der Industrie in allen hochentwickelten Ländern sowie der CIS:
Die Korrelation ist zwar eher niedrig, wenn man alle EU-Länder und Osteuropa einbezieht. Doch ergibt sich dies nicht zuletzt aus bestimmten Zurechnungen in den unterschiedlichen Systemen der VGR (z. B. werden in manchen Oststaaten die Energie [Erdöl] nicht in den Industriesektor einbezogen; man müsste also bei einer genaueren Analyse diese Kategorisierung sinnvoller machen. Sie wird durchaus ansehnlich, wenn man nur die Euroländer sowie die USA rechnet.

Graphik 2: Zusammenhang Industrialisierung – Krisenbetroffenheit (Datenquelle: Weltbank)

b) Entwicklung des Außenhandels Österreichs und der BRD nach Ländern und Produkten
Die österreichischen Ausfuhren sind seit 1996 stark gestiegen, und zwar noch stärker als die Einfuhren. Das ist allerdings keineswegs auf die EU zurückzuführen, wie es deren Propagandisten (u. a. Erhard Busek) darstellen. Der Außenhandel bzw. insbesondere die Ausfuhr hat in Drittländer viel stärker zugenommen als in die EU-Länder. Die derzeit nahezu ausgeglichene Handelsbilanz setzt sich aus einem Überschuss gegenüber Drittländern (und insbesondere Osteuropa) zusammen, und einem tendenziell steigenden Defizit gegenüber der alten EU, insbesondere der BRD.
Beide Ströme haben 2009 einen mächtigen Knick nach unten erfahren. Das ist von hohem theoretischem Interesse. Die nationale Wirtschaftsleistung, das BIP also, schrumpfte in Österreich 2009 um -3,9 %. Der Außenhandel aber nahm im selben Jahr viel stärker ab: die Ausfuhren um -20,8 % und die Einfuhren um -18,4 %. Die zur Industriekrise gewordene Bankenkrise mündete also in einen kurzfristigen Schub der Desintegration. Das wurde durch die Entwicklung im Jahr 2010 (Ausfuhren: ca. +14 %) noch nicht wettgemacht: um den alten Stand zu erreichen, wären 23,3 % erforderlich.
Besonders getroffen hat diese Entwicklung die Investitionsgüter, welche einen quantitativ wesentlichen und strategisch entscheidenden Anteil der Ausfuhren ausmachen und einen deutlichen Überschuss liefern. Der Rückgang hier war übrigens bei den Einfuhren stärker als bei den Ausfuhren, hat also im hoch industrialisierten Österreich stärker stattgefunden als in den Zielländern.
In der BRD fand eine ganz ähnliche Entwicklung statt. Vergleicht man Österreich und die BRD, so ist übrigens die Entwicklung in Österreich noch akzentuierter und der Anteil der hochwertigen Industrieprodukte hier größer. Allerdings hat auf Grund des Größenunterschieds (1 : 10) die BRD nicht nur größere öffentliche Aufmerksamkeit, sondern ist tatsächlich bedeutsamer.

Graphik 3: Österreich (Datenquelle: Stat. Jb. 2008 sowie Datenbank Statistik Österreich

Das Weltsystem dürfte sich, formal gesehen, inzwischen zu einem ultrastabilen Ganzen entwickelt haben, welches in Krisenzeiten einen multistabilen Aspekt annimmt. Aus dem Jargon der Systemtheorie übersetzt: Gerade in Zeiten kritischer Entwicklungen bleiben die nationalen Wirtschaften auch innerhalb der großregionalen (kontinentalen) Einheiten die ökonomisch maßgeblichen Untersysteme. In solchen Übergangsphasen steigern sie ihren inneren Integrationsgrad sogar ein wenig, während sie die Verbindungen zu den Übersystemen ein wenig herunter fahren. Zu erwarten ist allerdings, dass sie diese Links nach dem Ende dieser Entwicklung umso stärker knüpfen. Möglicher Weise hat dies allerdings insofern Folgen für die Gesamtsysteme, als damit die Flexibilität und Reaktionsfähigkeit stärker beeinträchtigt wird: Die Tiefe der gegenwärtigen (kurzen!) Krise wäre dann ein weiterer Hinweis darauf, dass die übernationale Integration bereits zu weit geht – was ja keine Überraschung ist. Sie wäre in diesem Sinn eine Krise der übernationalen Integration.

2.2.) Krise: Die Entwicklung und die Wahrnehmung
Wie sehr die Krise nicht nur strukturell vorhanden ist, sondern gemacht wurde, zeigt der Vergleich der Arbeitslosigkeit 2008/09 mit jener von 2005/06. Am 19. / 20. Oktober beschloss der Nationalrat mit den Stimmen aller Parteien (also z. B. auch der Grünen) den Haftungsrahmen der 100 Mrd. (zur Erinnerung: Der Bundeshaushalt 2010 enthält Ausgaben von nur 70,8 Mrd.). Die Arbeitslosigkeit blieb bis März 2009 unter jener von 2005 und 2006, und erst im April wurde die Zahl von 2006 überschritten. Damals, 2005 und 2006, sprach niemand von der größten Wirtschaftskrise seit 1930.

Graphik 4 (Datenquelle: Arbeitsmarktverwaltung)

Ad 3)
Die Verstärkung der Ungleichheit, die „Spreizung der Einkommen“, wie dies zugleich verhüllend und zynisch genannt wird, führte vor allem zu Gewinnen des obersten Centils (Hundertstel), und darin wieder insbesondere des obersten Promilles. Der Rest des obersten Dezils (Zehntels), also die 9 % Einkommensbezieher unter dem obersten Prozent, gewinnt auch noch, wenn auch nicht mehr im selben Ausmaß. Die darunter liegenden etwa 20 %, also etwa die obere Mittelklasse, hält den relativen Stand, gewinn aber grosso modo in den meisten Ländern seit 3 Jahrzehnten nicht mehr (absolut gewinnen sie noch im Ausmaß des Wirtschaftswachstums). Alle anderen, darunter liegenden Schichten verlieren relativ, und je weiter nach unten, umso stärker. Die von mir gern verwendete Bezeichnung „Ein-Drittel-Gesellschaft“ ist also keine polemische Phrase, sondern Realität.

Graphik 5: Einkommensentwicklung in den USA: oberstes Prozent und oberstes Promille mit ihren Anteilen seit einem Jahrhundert


Quelle: Piketty / Saez

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