100 Jahre Oktoberrevolution

Abgeschlossene Geschichte oder bleibendes Lehrstück für Gesellschaftsveränderung?
Details
Date: 
Samstag, 4. November 2017 - 14:00
City: 
Wien
Amerlinghaus, Stiftgasse 8, 1070 Wien
Seminar für einen kritisch-revolutionären Gedankenaustausch, 4. November 2017, Wien

Die russische Oktoberrevolution 1917 prägte die Geschichte des 20. Jahrhunderts wie kein anderes Ereignis: 2. Weltkrieg, Kalter Krieg, Revolutionen in der Dritten Welt, 68er Bewegung. In allem hallt der Impuls und der Bruch nach, den Lenin mit seiner Kommunistischen Partei in den Oktobertagen 1917 in das Weltsystem gebracht hatte. Für die einen standen die Oktoberereignisse über Generationen für Hoffnung auf ein neues gerechtes System für die Armen und Ausgeschlossenen, für die anderen war es Sinnbild für Totalitarismus und Misswirtschaft.

Mit dem Ende der Sowjetunion 1989 könnte man die realpolitisch Bedeutung dieses Kapitels der Geschichte als abgeschlossen ansehen und dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution höchstens, je nach Standpunkt, eine nostalgische oder warnende Gedenkminute zuteilwerden lassen.

Und doch hat man den Eindruck, dass immer dann, wenn es Erschütterungen im gewohnten Lauf der Dinge in einem Land gibt, der „rote Oktober“ sich wieder in Erinnerung bringt. Heute nicht mehr wie früher als direkte ideologische Bezugnahme, aber doch in Fragen, die sich immer wieder von neuen stellen, wenn irgendwo der Status quo durchbrochen wird: „Revolutionäres Subjekt“, „Inhomogenität und Hegemonie“, „Partei“. Zwei Ausschnitte der jüngeren Geschichte, um die Hypothese zu begründen:

1) Im arabischen Frühling 2011 scheiterte die revolutionäre Flut von Menschen, die nicht mehr weiterleben wollten wie bisher und die alten Autokraten in Kairo und Tunis weggeschwemmten. Ihre heterogene demokratische Macht der Straße fand keine gemeinsame Hegemonie, die sie zu einem neuen Staat führte. Statt Revolution folgte dem Frühling der düstere arabische Herbst.

2) Der Crash des sich frei wollenden Marktes in der Wirtschaftskrise 2008 hatte kurzfristig sogar Mehrheiten in der Gesellschaft daran zweifeln lassen, dass die Marktwirtschaft das Modell der Zukunft sein könne. Gewollt oder nicht: der Staat war als wirtschaftlicher Akteur sofort wieder zurück. Doch wurde daraus kein weitergehendes Nachdenken über neue Wege der gesellschaftlichen Produktion. Dagegen war der erhobene Finger der Eliten und ihrer Medien schnell wieder da, der das historische Scheitern staatlicher Wirtschaftslenkung einmahnte.

Wer sich mit etwas historischem Gedächtnis in die aktuellen Fragen gesellschaftlicher Konflikte im vielerorts instabilen Weltsystem mit seiner heute kaum prognostizierbaren Zukunft hineindenkt, der stolpert in den neuen konkreten Kontexten mit ihren veränderten, modernen Form beständig über Diskussionen, die vor 100 Jahren schon Lenins Kommunisten bewegten. Probleme die sie in der Hitze der Ereignisse, die dem Oktober 1917 folgen, versuchten zu lösen und oft auch (in historischer Sicht 1989 definitiv) daran scheiterten.

Das Seminar „100 Jahre Oktoberrevolution“ versucht, Konstanten herauszuarbeiten, die sich auch für heutige und künftige Versuche der Gesellschaftsveränderung stellen, und diese anhand der Geschichte der russischen Revolution zu bearbeiten.

Programm

Plan und Markt: wirtschaftliche und politische Implikationen einer Diskussion damals wie heute
Albert F. Reiterer, Sozialwissenschaftler, Autor und Aktivist für eine neue linke Bewegung

Der Marktfundamentalismus feiert einen durchgreifenden Erfolg: Selbst Linke wagen es kaum mehr, über Wirtschaftsplanung nachzudenken. Vor fünf Jahrzehnten dagegen war unter Linken der Markt ähnlich tabuisiert. Ausgehende von der Bearbeitung der vielfältigen Ansätzen in der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, soll gezeigt werden, dass Planung eine fundamentale Notwendigkeit in hochkomplexen Gesellschaften ist; dass Marktprozesse aber keineswegs hauptsächlich eine Frage der Effizienz sind, sondern ein politischer Hebel gegen eine unverzichtbare, aber politisch gefährliche Planungs-Bürokratie.

Revolutionäres Subjekt – Partei – Konflikt und Hegemonie – Heterogenität
Wilhelm Langthaler, sozialrevolutionärer und antiimperialistischer Aktivist und Autor

Der Begriff der Arbeiterklasse hat sich als problematisch erwiesen. Nicht zuerst aus soziologischen Gründen, sondern vor allem wegen den ihm aufgeladenen Teleologie. Die Träger erfolgter Revolutionen waren Verbindungen verschiedener sozialer Schichten, zusammengeschweißt und repräsentiert durch von Intellektuellen geführte Parteien – so notwendig wie gefährlich. Die Oktoberrevolution der Bolschewiki unter Lenin zeichnete sich durch die Fähigkeit aus, einerseits Hegemonie herzustellen und andererseits mit stellvertretender Aktion gegen das ancien regime zu kombinieren. Doch wie kann in peripheren und heterogenen Gesellschaften diese Hegemonie, welche Demokratie und Dissens erfordert, erhalten werden, ohne sich der äußeren und inneren Konterrevolution zu ergeben?

Partizipation und Bürokratie: das Problem der Institutionalisierung revolutionärer Bewegungen
Gernot Bodner, Personenkomitee EuroExit, Aktivist in der Solidarität mit der venezolanischen Linken

Die große Hoffnung der Kommunisten war der Kommune-Staat: Eine Demokratie der bisher ausgeschlossenen Klassen mit aktiver Partizipation. Hinterlassen hat die Geschichte die tiefsitzende Assoziation des sowjetischen Systems mit Staatsbürokratie. Auch das junge Beispiel Venezuela wiederholt ein ähnliches Problem: die demokratische Massenbewegung findet keinen Weg, sich in einem partizipativen Staat zu institutionalisieren. Es gilt diese vielschichtige Herausforderung zu bearbeiten, die das Auf und Ab im partizipativen Enthusiasmus der Bewegung, die Schranken in den vererbten Rahmenbedingungen von Staat und Alltagsleben, und die Reichweite der revolutionären Elite mitdenkt, um so Umrisse einer Lösung zu finden.

Der Oktober 1917 - Fanal der Weltrevolution oder ein nationales russisches Ereignis
Boris Lechthaler, Solidarwerkstatt Österreich

Selbst im Zentralkomitee der Bolschewiki war es höchst umstritten, ob die Zeit reif sei, für den Sturz der provisorischen Regierung, für die soziale Revolution. Kathedermarxisten wurden nicht müde zu elaborieren, dass Marx die Revolution in Russland nie gewollt hätte. Zu rückständig sei das Land. Die soziale Revolution sei eine Sache für den höchst entwickelten Kapitalismus. Die Revolutionäre verbanden ihre Tat mit der Hoffnung, sie würde als Fanal für die Arbeiterbewegung in anderen Ländern wirken und punktuell schien dies auch einzutreten. Im Ergebnis blieben die Revolutionäre jedoch weitgehend alleine.
Bürokratisierung und stalinistische Verbrechen werden vielfach als Konsequenz dieses "isolierten" Ereignisses interpretiert. Doch ist es nicht die mangelnde Reflexion der Revolution als nationales Ereignis, die Fehlentwicklungen, Bürokratie und letztlich auch Verbrechen begünstigt haben? Das führt zu einer der größten Schwachstellen marxistischer Theorie; dem Verständnis von Politik und Staat im Allgemeinen bzw. der Nation im Besonderen.

Lenins Methode am Beispiel der Nationalitätenpolitik
Michael Wengraf, Historiker und Publizist

Die von Lenin geprägte Politik gegenüber den diversen großen und kleinen Nation(alität)en hat wesentlich zum Erfolg der Oktoberrevolution und zum Sieg im Bürgerkrieg beigetragen. Sie erlaubt ein Verständnis davon zu entwickeln, wie er verschiedene, widersprüchliche Momente unter unterschiedlichen Bedingungen gewichtete. Bei ihm stand die Analyse der realen Kampfsituation im Mittelpunkt. Das losgelöste Postulat einer Nation als Wert „an sich“ war ihm ebenso fremd wie jenes eines abstrakten Internationalismus: „Was ist darunter [Selbstbestimmungsrecht] zu verstehen? Ist die Antwort in juristischen Definitionen (Begriffsbestimmungen) zu suchen, die von allen möglichen 'allgemeinen Rechtsbegriffen' abgeleitet werden? Oder muss die Antwort im historisch-ökonomischen Studium der nationalen Bewegungen gesucht werden?“ Lenin erkennt Nationalität als Phänomen an, aber sie wird relativiert und entfetischisiert: „Um sie aber nicht in eine Apologie des Nationalismus zu verwandeln, muss sich diese Anerkennung strengstens auf das beschränken, was in diesen Bewegungen fortschrittlich ist…“

Gemeinsam veranstaltet von Antiimperialistischer Koordination und Solidarwerkstatt