Die Antriebskraft von Chávez wird der Revolution fehlen

13.04.2013
von Mustafa Ilhan
Interview mit Gernot Bodner (Antiimperialistische Koordination) für Özgür Politika über Venezuela und Lateinamerika nach dem Tod von Hugo Chávez.

Wie kann man Hugo Chávez als Mensch fassen?

Die westlichen Medien sind sich da einig: Chavez war ein Populist. Jeder der heute einen Wandel der Gesellschaft zugunsten der Armen anstrebt und sich nicht 100 % dem kapitalistischen Mainstream unterordnet gehört für die Medien in diese Kategorie. Für uns als Antiimperialisten und Sozialisten war Chavez ohne Zweifel ein Revolutionär. Er stammte aus dem Volk, war Sohn einer einfachen Lehrerfamilie und ging, wie in Venezuela viele Menschen aus der Unterschicht, zum Militär. Dort wurde er zum Kämpfer für die Revolution. Das Militär hat ihn stark geprägt. Er strebte eine straffe und effiziente Organisation an und versuchte das mit der PSUV auch umzusetzen. Das ist zweifellos für die Revolution nötig – gerade in Venezuela, wo Mangel an Disziplin und Effizienz ziemlich ausgeprägt ist – aber es ging oft zu stark auf Kosten der politischen und programmatischen Diskussion. Für viele revolutionäre und linke Gruppen in Venezuela, die Chavez im Grunde unterstützen, war das ein gewisses Problem und nicht alle fanden damit Zugang zur PSUV.

Chavez war die Inkarnation der venezolanischen Volksseele. Er war wie kein anderer in der Lage, die Gefühle und Hoffnungen dieses Volkes zum Ausdruck zu bringen. Ich denke auch, dass Chávez ein sehr offener Geist war und nicht, wie manche glauben, nur ein guter Redner mit wenig theoretischem Hintergrund. Chavez war nicht von Anfang an für den Sozialismus. Aber er konnte zuhören und beschäftigte sich auch theoretisch mit den Erfahrungen aus seiner politischen Praxis. So wurde er vom Antiimperialisten zum Sozialisten.

Nach den Worten des ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa muss sich der revolutionäre Prozess in Venezuela, Ecuador, Argentinien und Bolivien auch ohne Hugo Chávez fortsetzen. In einem Interview betonte er, dass niemand unersetzbar sei. Wir der Weg von Chávez auch ohne ihn fortgesetzt?

Die Veränderung in Lateinamerika ist nicht mehr rückgängig zu machen. Sie ist Ausdruck der internationalen Krise des US-Imperialismus. Lateinamerika ist heute viel selbstbewusster und unabhängiger vom US-Diktat. Chávez war dafür zweifellos sehr wichtig, aber es ist auch ein objektiver Prozess. In diesem Sinne hat Rafael Correa Recht, die Veränderung wird weitergehen. Aber wir dürfen nicht die Bedeutung der Persönlichkeiten in der Geschichte unterschätzen. Mit dem Tod von Chávez wird sich einiges verändern. Er war das linke, sozialistische Gesicht der lateinamerikanischen Veränderung, Brasilien ist zum Beispiel im Gegensatz dazu das moderate Gesicht, dem es mehr um seine geopolitische Stärke geht, denn um einen Bruch mit dem Kapitalismus. Eine solche treibende Kraft wie Chávez wird also fehlen, und zwar vor allem für die Kräfte der lateinamerikanischen Veränderung die mehr als nur wirtschaftliche Stärke und Eigenständigkeit von den USA wollen, für die Kräfte die eine sozialistische Veränderung anstreben. Es werden sicher neue Kräfte und Figuren hervortreten. Der Kampf um die lateinamerikanische Revolution ist erst in der ersten Etappe. Aber bis diese neuen Integrationsfiguren da sind, wird Chávez fehlen. Derzeit kann ihn hier keiner ersetzen, weder unter den linken Präsidenten noch aus der Volksbewegung.

Wie wirkt sich der Tod von Hugo Chávez auf das Auftreten der Opposition den Sozialismus des 21. Jahrhundert und gegen den bolivarischen Prozess aus?

Die venezolanische Gesellschaft war in all den Jahren gespalten. Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist konsistent gegen die bolivarische Revolution und unterstützt die Rechte. Diese doch bedeutende rechte Opposition ist die Folge des Ölreichtums. Der hat über die Jahrzehnte eine privilegierte Mittelklasse geschaffen, die gegen jede soziale Veränderung ist und einen tiefen Hass gegen die armen Massen hat. Die mittlerweile seit 1998 dauernde bolivarische Revolution hat vieles verändert und auch eine neue bolivarische Mittelklasse geschaffen (deren Ideologie ist der Reformismus). Aber dennoch sind die alten privilegierten Klassen mit ihrer rechten Ideologie noch stark.

Politisch ist die Rechte aber derzeit wieder ziemlich geschwächt. Kurzzeitig schien der gemeinsame Kandidat Capriles Radonski mit seinem Bündnis MUD (Tisch der demokratischen Einheit) eine Vereinigung aller oppositionellen Gruppen zu schaffen. Die Niederlage bei den letzten Wahlen gegen Chávez im Oktober 2012 und dann auch noch bei den Regionalwahlen im Dezember 2012 hat das Projekt empfindlich geschwächt. Bei den nun anstehenden Neuwahlen wird die Opposition keine Chance haben. Aber der Kampf gegen die Rechte ist solange nicht gewonnen, solange die sozialistische Revolution nicht wirklich gesiegt hat.

Chávez hat viele fortschrittliche Reformen für die unteren Klassen eingeführt. Er einen sehr wichtigen Beitrag für die Vereinigung Lateinamerikas gegen die US-amerikanische Hegemonie geleistet. Was hat Chávez in Venezuela und Lateinamerika nicht erreichen können?

Chávez wollte einen neuen Sozialismus, das hat er nicht erreicht. Ich denke eine wichtige Niederlage in Venezuela war sein Versuch, die Verfassung 2007 zu ändern um den Umbau des Staates in Richtung Sozialismus zu beschleunigen. Es gab hier einige Fehler, die zu einer mehrheitlichen Ablehnung der Verfassungsreform beim Referendum 2007 führten. Aber in der Essenz waren die geplanten Reformen von großer Bedeutung, um den alten Staat in Richtung einer Volksmacht umzubauen. Das war wirklich eine Niederlage.

Auch ist es Chavez nicht gelungen, die Erdölökonomie zu überwinden. Ich denke, er hat einiges versucht, die Wirtschaft zu diversifizieren, die Industrie zu stärken, die Landwirtschaft wieder zu beleben, die Importabhängigkeit zu verringern. Aber das Erdöl ist Fluch und Segen Venezuelas gleichzeitig. Das weiß dort jeder Linke und Chavez war sich dessen vollständig bewusst. Der Reichtum hat dem Land viel Spielraum gegeben, aber eben auch einen sozialistischen Umbau der Wirtschaft extrem erschwert. Viele werfen Chávez vor, dass er die Leute nur mit dem Ölreichtum „gekauft“ hat. Das ist absolute Lüge. Wer Venezuela genauer kennt, weiß, dass es auf Initiative von Chavez viele Versuche gab, eine neue Ökonomie aufzubauen. Es gab sehr gute Ideen, wie die ökonomische Basis der Volksmacht aussehen sollte. Aber es ist viel zu wenig gelungen, diese Ideen umzusetzen. Die bolivarische Revolution beweist wieder einmal, dass der Umbau eines Landes zum Sozialismus auf wirtschaftlicher Ebene eine extrem schwierige Sache ist, eine Aufgabe, die programmatisch noch nicht gelöst ist.

Auf lateinamerikanischer Ebene hat Chávez viel erreicht, vor allem eine antiimperialistische Hegemonie. Man kann klar sagen: Chávez hat Bush besiegt und damit Lateinamerika einen neuen Anfang ermöglicht. Mein Eindruck war aber oft, dass Chavez gerne mehr jenseits der diplomatischen Zwänge getan hätte. Aber da war das Korsett des Staatspräsidenten sicher ein Hindernis, um sich offener für die revolutionären Kräfte auszusprechen. Kolumbien ist das beste Beispiel. Der Revolutionär Chávez hatte sicher Sympathie für alle kämpferischen Bewegungen, der Staatmann musste sich aber zurückhalten. Chávez sprach ohnedies für einen Präsidenten sehr häufig erfreulich klare Worte: ich erinnere nur an die Rede über den „Satan Bush“ bei der UNO oder auch die deutliche Verurteilung des israelischen Angriffs auf den Libanon oder auf die Gaza-Flotte.

Werden die USA und ihr Verbündeter Kolumbien nun einen Politikwandel gegenüber Venezuela machen?

Ich denke unmittelbar nicht. Ihnen fehlt der organisierte innere Verbündete. Ich denke eher, sie hoffen jetzt auf eine Schwächung des Bolivarianismus von innen und warten ab. Das entspricht auch mehr der Linie Obama, der eine vorsichtigere imperialistische Politik macht. Ein Abenteuer in Venezuela wäre heute nicht möglich, da sind die Kräfteverhältnisse im Land und auch in ganz Lateinamerika für die USA viel zu ungünstig. Man wird abwarten müssen ob es den USA gelingt innerhalb der bolivarianischen Bewegung einen Verbündeten zu finden. Ich glaube sie haben immer gehofft, dass sich die Bewegung zwischen Reformisten und Revolutionären spaltet. Es gab ja auch tatsächlich einige Spaltungen im Laufe der Geschichte von Chávez‘ Bewegung. Die Gefahr, dass es mit dem Tod des Präsidenten zu einer Verstärkung der internen Flügelkämpfe kommt, ist durchaus vorhanden, wenn auch nicht unmittelbar. Ich denke, die USA werde das sehr genau beobachten. Mit Nicolás Maduro steht nun ein Nachfolger an der Spitze der Bewegung, der die Verbindungen des Staatsapparats (wo der Reformismus hegemonial ist) zu den Volkskräften und der chavistischen Linken sicher am besten gewährleisten kann. Er hat derzeit noch starken Rückenwind und kann auf geschlossene Reihen nach dem Tod des Comandante setzen. Das garantiert den Wahlsieg, aber wie lange dies die Bruchlinien im Prozess überdeckt, ist offen. Nicolás Maduro ist eben nicht Chávez und daher wird nun eine kollektive revolutionäre Führung wichtiger denn je. In diesem Prozess werden die politischen und ideologischen Unterschiede innerhalb der Bewegung unweigerlich zutage treten.

Was Kolumbien betrifft, so ist mit dem Ende Bush auch das Ende seines Pendant in Kolumbien, Alvaro Uribe, gekommen. Nach dem Paramilitärpräsidenten, der die ländlichen Großgrundbesitzer vertrat, ist mit Santos heute ein Vertreter des städtischen Unternehmertums mit langer politischer Tradition an der Macht. Er versucht eine Befriedung des Landes über Verhandlungen – natürlich ohne an die notwendigen, sozialen Veränderungen zu denken, aber zumindest gibt es ein Abrücken von dem reinen Militarismus unter Uribe. Die Aussöhnung mit Venezuela ist für den Verhandlungsprozess in Kolumbien zentral und hat bereits unter Chávez begonnen.

Aber natürlich gibt es in Kolumbien immer noch ein starkes paramilitärisches Potential. Diese faschistischen Söldner waren schon immer eine Stütze für die reaktionärsten Teile der venezolanischen Opposition.

Ich denke, dass Venezuelas größte Herausforderung es ist, die Revolution in Richtung Sozialismus zu vertiefen. Die größte Gefahr ist und bleiben die Bürokratie, die Ineffizienz und der Reformismus. Chávez war immer eine treibende Kraft, gegen diese Übel - die Mühlsteine am Hals der Revolution, wie er sagte - anzukämpfen. Er wird an dieser Front ohne Zweifel fehlen.

In jedem siegreichen Kampf des venezolanischen Volkes in Verteidigung seiner Revolution und für den Sozialismus lebt der Comandante Presidente, der Genosse Hugo Chavez weiter.

Das Interview führte Mustafa Ilhan am 12. März 2013. Abgedruckt wird hier eine in wenigen Passagen leicht aktualisierte Fassung.