Der Bauernkrieg, die Unterdrückten und die Intellektuellen

28.09.2013
Von A.F.Reiterer
"Achtung! Im Zuge der politischen Neuorientierung sind diverse Umbenennungen zu erwarten!" Im Baedeker Deutschland von 1992 finden wir diesen entwaffnenden Hinweis auf S. 241 neben dem Stadtplänchen von Eisenach.

Die Konsequenzen hat eine Nachbarstadt gründlich gezogen, Mühlhausen in Thüringen. In der DDR führte die Gemeinde den Ehrentitel "Münzer-Stadt". Sie stellte durch ihre bloße Existenz eine Erinnerung an den Großen deutschen Bauernkrieg von 1524/25 und an Thomas Münzer dar: für viele Jahrhunderte der konsequentesten Sprecher der Unterdrückten, der in seinen Gedanken weit voraus griff. Man hat dies die erste Proklamation der Menschenrechte genannt (Bickle 2012). Sie wurde in Strömen von Blut ertränkt. Nach 1990 war diese Erinnerung offenbar nicht mehr erwünscht. Der Ehrentitel Münzer-Stadt musste weg. Die Mühlhausener Gemeinderäte, jedenfalls ihre Mehrheit, nickten dazu gehorsam. Die Stadt, so ihre Sicht, dürfe sich doch nicht "auf einen einzigen Vorfall" reduzieren lassen.

Was sollen wir also mit dem Bauernkrieg, den Bauern und mit Thomas Münzer ein halbes Jahrtausend nach ihrer Vernichtung?

Der deutsche Bauernkrieg ist, zusammen mit 1848 und vielleicht auch noch dem Spartakus-Aufstand von 1918 / 19, im deutschen Sprachraum der bedeutendste Versuch, die übergroße Mehrheit der Bevölkerung zu befreien. Er hat eine Fülle von politischen Ansätzen gebracht. Sie sind mehr als nur von historischem Interesse. Einige sind brandaktuell, selbst heute. Die Kurzatmigkeit der Alltags-Publizistik soll uns nicht darüber hinweg täuschen. Wir haben zu lernen: Geschichte ist keine eherne Abfolge in unveränderlicher Entwicklungs-Tendenz. Wir haben an jedem Punkt die politische Wahl, auch wenn die Erfolgsaussichten oft dünn sind.

Eine Reichs-Reformation zählte zu den interessantesten Entwürfen dieser Zeit.

Der Staat soll von unten her aufgebaut werden, eine Assoziation von Städten und Gemeinden. Die Reichsgewalt dürfe lediglich dem Schutz der Bevölkerung dienen, und zwar dem Schutz gegen Innen, gegen Übergriffe von Mächtigen. Die "großen Hansen" müssen in Schach gehalten werden.

Gegen die Fugger, Welser und Hofstetter, das damalige Finanz- und Monopol-Kapital, richtet sich eine Vermögens-Beschränkung: 10.000 Gulden dürfe ihr Geschäfts-Kapital betragen, nicht mehr; sie sollen nicht mehr die politischen Mächte, den Kaiser vor allem, kaufen können, und auch nicht "too big to fail" werden.

Aber hier interessiert ein anderer Punkt.

Man steht den Intellektuellen der Zeit mit äußerstem Misstrauen gegenüber. Das betriff vor allem zwei Klassen: die höhere Geistlichkeit mit ihrem Tross von Mönchen; und die Juristen.
Ein Hauptgrund für das Scheitern war die lokale Beschränktheit der Bauern. Der Adel und das größere Bürgertum war bereits überregional organisiert. Die Unterdrückten leben in einer fast ausschließlich lokalen Lebenswelt. Ihnen stehen Gegner gegenüber, die nicht nur lokal über unvergleichlich größere Ressourcen verfügen. Die Eliten und die oberen Mittelschichten, wie klein diese Gruppe auch war, hatten damals schon ein Netzwerk, und sie können stets darauf zurück greifen. Damit vervielfachen sie ihre Ressourcen zur Unterdrückung (Besitz, kommunikative Mittel, damals nicht zuletzt auch Verwandtschaftsnetze). Aber das ist ein Mangel aller Unterdrückten und Ausgebeuteten in allen ihren Kämpfen bis in die Gegenwart. Die mangelnde Organisation ergibt sich aus ihren Lebensumständen. Sie formt natürlich auch ihr Bewusstsein und ihre Mentalität. Aber darin endet es nicht. Die Eliten sind immer auf einer höheren Stufenleiter organisiert und institutionalisiert.

Das begründet die Notwendigkeit eines revolutionären Verbunds. Ein solcher Verbund, der noch keine Partei ist, muss immer auch, zusammen mit der zumindest potenziell revolutio¬nären Gruppe, Schicht oder Klasse, eine Gruppe von Intellektuellen umfassen. Das ist eine der schwierigsten Dialektiken der Geschichte.

Intellektuelle als Gruppe sind immer eine privilegierte Kategorie. Sie sind in der Mittelschicht gestreut von unten nach oben. Man wird also niemals seine revolutionären Hoffnungen auf die Gesamtheit oder eine Mehrheit von Intellektuellen setzen können. Ihr Großteil hat schlicht ein anderes Interesse als die Massen, und eine andere Identität sowieso. Im Grund widerlegt aber die Existenz von revolutionären Intellektuellen trotzdem jenen vulgären Marxismus, der in erdrückender, geschlossener Weise von der Interessenslage allein her argumentiert und die kulturelle Identität und die kulturelle Wahlfreiheit vernachlässigt, und oft verbissen bekämpft. Damit wären revolutionäre Intellektuelle von vorneherein unmöglich oder aber nur als Karrieristen zu denken. Die hat es oft genug gegeben. Und das ist das konkrete politische Problem schlechthin: Zu oft haben Intellektuelle i. S. von Pareto und Michels Unterschichten und revolutionäre Bewegungen benützt. Der Anti-Intellektualismus, in den Massen weit verbreitet und von der Rechten gern genützt, hat u. a. hier ihren Ursprung. Aber es macht wenig Sinn, den Intellektuellen ihre Existenz und ihre Lage zum Vorwurf zu machen!

Das ändert nichts an der Notwendigkeit – und damit an der Schwierigkeit – für revolutionäre Bewegungen, intellektuelle Gruppen einzubeziehen. Intellektuelle werden unterschiedliche Motivationen für ein Engagement in progressistischer Richtung haben. Ein tendenziell egalitärer und demokratischer Wandel wird aber für einige unter ihnen das große Ziel in der langen Frist sein können.

Intellektuelle allein sind zu geschichtsmächtiger revolutionärer Aktivität nicht fähig. Dazu mangelt es an Masse. Sie können es in dieser Rolle im konsequentesten Fall gerade noch zum individuellen Terror bringen. Und der hat im Allgemeinen nicht nur keinen Erfolg. Er dient meist auch zur Rechtfertigung stärkster Repression und ist daher gewöhnlich schädlich. Aber als Bestandteil eines revolutionären Schichtverbandes, einer linken Bewegung, sind Intellektuelle unverzichtbar.

Ein revolutionärer Verbund ist noch keine revolutionäre Organisation. Das wurde im Leninis¬mus ausführlichst unter dem Stichwort der revolutionären Partei abgehandelt. Im Prinzip und für die Moderne ist dies richtig. Aber der Begriff der revolutionären Partei wurde zu einem Fetisch. Was hätte in den Bauernkriegen eine revolutionäre "Partei" darstellen können? Der Bundschuh, der Arme Konrad waren im Grunde bereits revolutionäre Parteien. Aber ihre Organisation entsprach den Erfordernissen nicht. Hätte es eine bessere Form gegeben? Das ist höchst zweifelhaft. Dazu hätte es der Erfahrung bedurft, und es mangelte an Zeit.
Auch Engels versuchte, dem Scheitern des Bauernkriegs auf die Spur zu kommen. Er glaubt, sie in der mangelnden Zentralisierung zu finden. Das ist Engels, wie er leibt und lebt, und sein "Bauernkrieg" steht in schlechter Nachbarschaft zu den deutschen Nationalisten des 19. Jahrhunderts. Und doch hat er hier einen wunden Punkt berührt.

Es bleibt die Tatsache: Die einzige Möglichkeit einer Revolution, einer Emanzipations-bewegung, die mehr sein soll als eine lokale Rebellion, ist die überlokale, überregionale, übernationale, Organisation. Das gilt auch für die Gegenwart.

Damit stellt sich die Frage: Wie kann eine solche Organisation aussehen? Die Weltpartei ist es nicht. Sie ist nicht nur immer wieder zerfallen und gescheitert. Und sie hat sich stets leicht in ein Instrument der Unterdrückung umwandeln lassen. Sie wurde instrumentalisiert, um neuen Herrschenden externe Unterstützung zu schaffen. Doch eine Lehre ist zu ziehen: Von der KPChi bis zur FLN war es die nationale Organisation, verbunden mit einer internationalen politischen Vernetzung.

Die Eliten haben diese Lektion gelernt. Sie sind international organisiert. Klein-Gruppen und ihre Netzen machen dies möglich und sinnvoll. Nicht aber gilt dies für Massenbewegungen. Die Partei ist gegenwärtig zu Recht völlig in Verruf geraten. Aber was tritt an ihre Stelle?

26. September 2013