Konvergenz

10.10.2013
Von A.F.Reiterer
Der Anspruch, die Ideologie, die Wirklichkeit: Zentrum und Peripherie

Die Angleichung der Lebensverhältnisse in den einzelnen Mitgliedsstaaten ist angeblich ein Hauptziel der EU. Bereits im Römer Vertrag vom 25. März 1957 lesen wir in der Präambel: Man wolle "den Abstand zwischen einzelnen Gebiete und den Rückstand weniger begüns-tigter Gebiete verringern". Die Propagandisten der EU sind gegenwärtig etwas vorsichtiger geworden. Nach dem Absturz des Olivengürtels und des Musterschülers Irlands scheint ihnen dies wohl klüger. Einige wenige können es nicht lassen. Sie feiern den Erfolg und verweisen auf die mittelfristig geringer werdende Streuung im Pro-Kopf-Produkt.  

 

Graphik 1

 

Datenquelle: EUROSTAT Rechnen wir etwas gründlicher und im Detail nach! EUROSTAT liefert uns Zeitreihen, aber langfristig nur auf nationaler Ebene. Auf regionales Ebene bekommen wir sie nur in beschränkter Dauer. Wie immer, stellen sich darüber hinaus einige methodisch-technische Probleme. In welchem Ausdruck nehmen wir die Daten – zu KKP (Kaufkraft-Paritäten) oder in Kursen? Die EG / EU will ein Wirtschaftsverband als Handelsverband sein. Daher müssten die Kurse die maßgeblichen Verhältnisse abbilden. Übrigens ist der Unterschied nicht so beträchtlich, wenn wir KKP heran ziehen, vor allem, weil die eigentlich interessanten Prozesse sich ja, vorweg nehmend gesagt, innerhalb der nationalen Ebene abspielen. Die Daten in € haben gegenüber den KKP auch den Vorteil, dass sie etwas weiter zurück gehen. Man muss sich nach der Decke strecken. Die regionalen Zeitreihen gehen von 1995 bzw. teils von 2000 bis 2010, an den Anfang der €-Krise somit. Die neueren Verwüstungen sind also nicht berücksichtigt. Die Maßzahl ist einfach: Wir nehmen die Standardabweichung bzw., da sich ja das Niveau ändert, den Variationskoeffizienten (v=s/ẋ). Tatsächlich sinkt v in € auf EU-Ebene bzw. mit nationalen Durchschnitten von 2000 auf 2010 erst etwas von 0,636 (2000) auf 0,604 (2008) und steigt dann wieder auf 0,63 (2010). Rechnet man mit KKP, dann reicht der Zeitraum nur bis 2009, aber das Sinken ist etwas ausgeprägter, von 0,46 auf 0,422. Im Jargon einiger Ökonomen (Barro / Sala-i-Martin) hieße das die β-Konvergenz. (Die Konvergenz auf der persönlichen Ebene nennen sie σ-Konvergenz.) Haben die EU-Propagandisten doch recht?  

 

Graphik 2

 

Geht man weiter zurück und betrachtet die Entwicklung von 1960 weg, dann erscheint eine ausgeprägte Konvergenz bis 1972. Aber damals hatte die EWG nur 6 Mitglieder. Die damalige Konvergenz bildet also die schnellere Entwicklung der Nicht-EWG ab. In Zusammenschau mit der Entwicklung ab 1973 spricht dies direkt gegen die Konvergenz-These! Doch das ist im Moment nicht unser Hauptproblem und überdies eine komplexe Angelegenheit. Es geht hier um das Entwicklungsmuster. Wir brauchen dafür einen theoretischen Rahmen und haben auch die nötigen Konzepte. Es geht um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, um politische und wirtschaftliche Abhängigkeit. Dieses Problem stellt sich keineswegs nur zwischen Erster und Dritter Welt. Da es ein Machtproblem ist, finden wir auch im Rahmen der höchst entwickelten Welt Dependenz-Beziehungen. Darüber hinaus hat die Entwicklung der EU zur Anlagerung einer Reihe von Gebieten der bisherigen Zweiten Welt geführt. Die politische Klasse des Westens hat dazu die best entwickelten Gebiete des seinerzeitigen realsozialistischen Lagers ausgewählt und sie noch vor dem eigentlichen Anschluss einer ziemlich gründlichen Ummodelung unterzogen ("Beitritts-Prozess"). Das hatte zuerst einen tiefen Absturz, dann aber eine rasche Erholung laut Indikator BIP zur Folge. Wer von dieser Erholung profitiert hat, ist freilich eine ganz andere Frage, die hier nicht gestellt wird bzw. nur in einem Spezialaspekt, mit Blick auf die Regionen. Zentrum und Peripherie haben unterschiedliche Gesichter. Das politische Gesicht bilden die Nationalstaaten ab. Das ökonomische Gesicht hingegen findet man im Zentrum des Vereins, aber auch an den Rändern. Er bemüht sich mit Macht, nationale Grenzen zu unterdrücken.

Die Ungleichheit drückt sich somit in der strukturellen Ungleichheit innerhalb der Nationen aus, noch mehr als zwischen den Nationen. Man strebt die Neuordnung des gesamten Territoriums jenseits der nationalen Grenzen an. Wir haben hier mit den NUTS-Einheiten (NUTS Nomenclature des unités territoriales statistiques) statistische Gebietsabgrenzungen, die eine Messung zulassen. Sie haben Reihe von groben Nachteilen, aber immerhin besser als nichts sind. NUTS-3 fassen in Österreich z. B. politische Bezirke zu Vierteln zusammen, teilen also z. B. Oberösterreich in 5 Einheiten. NUTS-2 wären die Bundesländer, NUTS-1 größere subnationale Einheiten, in Österreich der Westen, der Osten und der Süden. Das sind alles sinnvollen Größen für eine Strukturanalyse. Hier sieht es ganz anders aus. Vor allem müssen wir genauer hinsehen, nach Stand der Entwicklung der Region bzw. des Staats. Denn nicht nur ändert sich das Bild. Es bekommt vor allem jene charakteristischen Züge, über welche die neoliberalen Propagandisten der EU hinweg gehen. Die Unterschiede im Pro-Kopf-Produkt sind auf regionaler Ebene in den meisten Ländern erheblich größer geworden – aber nicht in allen. Insbesondere im Osten hat sich die Kennzahl für den Unterschied meist verdoppelt, in Rumänien von 0,176 (1995) auf 0,361 (2010); in Bulgarien von 0,163 auf 0,352; in Ungarn von 0,32 (2000) auf 0,36; in Tschechien von 0,202 (1995) auf 0,348; aber auch in der BRD von 0,366 (1995) auf 0,378 (2010). Im Westen dagegen hat es eher eine gewisse Angleichung innerhalb der Nationalstaaten gegeben: in Belgien z. B. trotz der Probleme zwischen Flandern und Wallonien von 0,368 auf 0,361; in Spanien von 0,193 auf 0,18 und in Griechenland von 0,294 auf 0,231 (wenn's wahr ist!); in Finnland von 0,193 auf 0,167. Aber auch im Westen gibt es durchaus eine Reihe von Ländern, wo die internen regionalen Unterschiede größer wurden: Dänemark, Irland, Frankreich, Niederlande, Schweden und natürlich Großbritannien. Es sind praktisch alles Länder, wo die neoliberale Wende besonders ausgeprägt war.

 

Österreich gehört übrigens zu den Ländern, in denen bisher noch eine interne Angleichung stattfindet. Für jeden, der sich einmal mit Fragen der Dependenz sowie der Zentren-Peripherie-Verhältnisse auseinander gesetzt hat, kann dies nicht überraschend kommen. Die EWG begann als politische Organisation eines Teils des hoch entwickelten Europa. Großbritannien und Skandinavien blieben zwar vorerst draußen. Mit Italien kam ein fragmentiertes Land hinein. Eine wirtschaftlich hoch entwickelte Region (der Norden) stand der politischen Zentralregion (Metropolitangebiet ROM) mit seinen Aneignungen von Ressourcen ("Roma ladrone") und einer verarmten Peripherie (Süden und Inseln) gegenüber. Doch vorerst funktionierte das nicht schlecht. Die stillschweigende Einigung war: Die BRD bekommt ihren Außenhandels-Erfolg, muss aber dafür an die anderen zahlen, zuerst vorwiegend über die Agrarpolitik, mittlerweile in einer ganzen Anzahl von Zahlungsströmen. Das Kapital zieht dorthin, wo die Bedingungen besonders günstig sind. Das sind die jeweiligen Zentren auch innerhalb der Peripherien. Die Entwicklung zur Dienstleistungs-Wirtschaft hatte kurzfristig auch auf regionaler Ebene Bedingungen geschaffen, welche den automatischen Stabilisatoren der Konjunktur-Entwicklung entsprachen: Der Ausbau des Schulsystems in Österreich z. B., das Wachsen der öffentlichen Dienste u. ä. Prozesse haben den nationalen Raum stärker vereinheitlicht als früher und damit auch den Menschen Lebens-Möglichkeiten gegeben. Überdies heißt Tertiarisierung auch: Zentralisierung der Leitungsfunktionen. Nun aber wird dies durch zwei Gegenprozesse überlagert: Die Dienstleistungen bzw. ihr Ausbau verlagern sich immer stärker in den Niedriglohn-Sektor. Man denke etwa an die Altenpflege: Zwar gibt es nunmehr in jedem Bundesland einen Pflegplan bzw. Ähnliches. Aber die Pflegekräfte werden immer schlechter bezahlt. Dieses österreichische Beispiel zeigt, wohin es geht. Der zweite Prozess ist ein wenig abhängig von der Größe des Nationalstaats. Auch hier kann ein österreichisches Beispiel erläutern, um was es geht. Die Menschen haben dem Kapital nachzuziehen. Wir wissen, dass ein erheblicher Teil der nördlichen Burgenländer in Wien arbeitet. Solange die Distanzen so sind, ist das Problem nicht groß. Da wird dann eben mehr Verkehr erzeugt, sicher zum Vergnügen der Grünen, welche ja diese Entwicklung um jeden Preis befördern wollen, oder? Aber wenn man erwartet, dass die Pendler aus Tirol nach Wien kommen, ändert sich die Sachlage. In flächengroßen Staaten wie in Frankreich wird diese Homogenisierung also einen anderen Charakter annehmen und weniger vereinheitlichend wirken. Das Verhältnis Zentrum – Peripherie hat viele Ebenen, vom Zentrum zu einem Subzentrum zu einem Subsubzentrum usw. geht der regionalwirtschaftliche Prozess. Daneben gibt es noch einen zweiten, der noch immer etwas im Schatten steht. Die nationalen Grenzen verlieren im Prozess der nachdrücklichen Auflösung der Nationalstaaten immer stärker an Bedeutung. Das ist kein automatischer, quasi-spontaner Prozess. Das ist politisch gewollt und durchgesetzt seit mehreren Jahrzehnten. Dem steht schon seit langer Zeit ein Konkurrenz-Prozess gegenüber. Es bildet sich ein Netzt von Stadt-Kernen, welche politisch-ökonomisch den nationalen Flächenstaat aushöhlen. Diese Stadt-Kerne und ihr differenziertes Netz bilden den Alternativ-Entwurf des neuen Finanzkapitals zu den Flächenstaaten. Beides wird in den sogenannten Integrations-Prozessen bewusst politisch gefördert und angestrebt. Die EU-Integration ist nur ein regionaler Prozess dieser globalen Politik. Man braucht sich auch nur die Dokumente des Vereins bereits in den 1970ern ansehen. Die sogenannte Integration wurde stets im Rahmen eines weltweiten Prozesses gesehen, den es weiterzutreiben galt. Das Ziel war stets die Globalisierung, die ökonomische Deregulierung bei gleichzeitiger politischer Kontrolle der Welt durch die hoch entwickelten Zentren.

 

 

Literatur

  Alber, Jens / Holtmann, Anne Christine / Marquardt, Susanne (2011), Arte There Visible Accession Effects? Comparing Some Key Indicators of the Trajectories of the Central and Eastern European Countries Inside and Outside the EU since the 1990s. In: Sociologicky časopis 47, 473 – 506.  

Barro, Robert J. / Sala-i-Martin, Xavier (1991), Convergence Across States and Regions. In: Brooking Papers on Economic Activity I, 107 – 182.  

Barro, Robert J. / Sala-i-Martin, Xavier (1992), Convergence. In: J. of Pol. Economy 100, 223 – 251.  

Crespo-Cuaresma, Jesus / Dimitz, Marie Antoinette / Ritzberger-Grünwald Doris (2002), Growth Effects of European Integration: Implications for EU enlargement. In: OeNB Focus on Transition 1, 87 – 100. EC (2007), The Impact of European Integration and Enlargement on Regional Structural Change and Cohesion. Final Report. Brussels, EU Research on Social Sciences and Humanities. (100 pp.) OECD (2011), An Overview of Growing Income Inequalities in OECD Countries: Main Findings. In: Divides we Stand. Why Equality Keeps Rising. Paris, 21 – 45.