Sozialstaat: Sozialabbau oder Pluralisierung der Gesellschaft?

04.11.2013
Von A.F.Reiterer
Die Debatte und das reale Problem

Unter Linken ist ausgemacht: Die neoliberale Politik baut den Sozialstaat ab. Aber sehen wir uns einmal die Daten an, wie wir sie in Österreich von der Statistik Österreich erhalten. Die Sozialausgaben aller staatlichen Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung; darüber hinaus auch Betriebspensionen) sind hier nach ESSOSS, einer EU-weiten Systematik, kategorisiert. Es ist ein weites und durchaus zweifelhaftes Konzept. Die gesamten Pensionen und Gesundheits­ausgaben sind hier z. B. enthalten. Warum sollen aber Leistungen aus einem Umlagensystem oder einer Versicherung "Sozial"ausgaben sein? Doch für eine erste Annäherung ist es trotzdem unentbehrlich, weil die Daten danach erhoben und präsentiert werden. Man will damit im Grund die Regulierung der Lebensumstände durch die öffentliche Hand erfassen, die "sekundären" Verteilungsprozesse nach dem Markt

Die Sozialquote stieg von 1990 auf 2000 von 26,1 % auf 28,1 % des BIP. Sie blieb dann bis 2007 etwa auf diesem Niveau und stieg bis 2011 nochmals erkenntlich auf 29,2 %. Der Anteil an den öffentlichen Ausgaben aller Ebenen blieb in dieser Zeit etwa gleich.

Sozialausgaben sind, wie öffentliche Ausgaben insgesamt, gewöhnlich eine träge Angelegen­heit. Die Struktur ändert sich wenig. Aber sie ändert sich. Hier ist es nun wesentlich, die Masse der Anspruchsberechtigten in Betracht zu ziehen.

Die Ausgaben im Bereich Alter machen mit Abstand den größten Betrag aus. Es ist also nur zu berechtigt, darüber zu sprechen. Doch der Anteil der Altersausgaben ist in geringerem Ausmaß gestiegen als die Sozialausgaben überhaupt. Der Anteil sank ab 2000 auf 2011 von 45,6 % auf 42,4 % aller Sozialausgaben. Rechnet man den Anteil vom BIP, so sank auch dieser leicht, von 12,8 % auf 12,4 %. Aber in dieser Zeit hat sich die Masse (Indikator: Über-60jährige) um 20 % erhöht. Rechnet man das mit, so ist der Pro-Kopf-Anteil der Alten seit 2000 deutlich gesunken. Um es vorweg zu nehmen: Dies ist der einzige Bereich, wo tatsächlich ein erkennbarer Sozialabbau stattfindet. Aber auch bei den Pensionisten ist die Ungleichheit hoch. Den vielen Alten mit einer Mindestpension oder wenig darüber steht ein gar nicht so kleiner Kreis mit einem komfortablen Einkommen gegenüber.

Auch die Leistungen für Familien und Kinder sind gesunken: Aber der Kreis der Begünstigten (Bevölkerung bis 15 Jahren als Indikator) ist noch stärker gesunken. Hier finden die wirklich interessanten Prozesse dort statt, wo sie in diesen Daten nicht erkennbar sind. "Familien­leistungen" bilden eine massive Begünstigung der mittleren und oberen Mittelklassen. Die Unterschichten haben ihre Kinder mit spätestens 17, 18 Jahren, nach der Lehre, außer Haus. Damit endet die Kinderbeihilfe. Die Mittelschichten, vor allem die oberen Mittelschichten aber lassen ihre Sprösslinge fast durchgehend studieren. Damit beziehen sie Kinderbeihilfe bis zum 24. Lebensjahr (seit 2011, früher sogar bis zum Alter von 27), um Jahre länger. Zusätzlich haben SPÖ und Grüne das einkommensabhängige Kindergeld beschlossen. Wer mehr verdient, bekommt mehr. Die SPÖ hat damit auch ihren früher mit solcher Emphase propagierten Grundsatz aufgegeben, dass jedes Kind gleich viel wert sei. Dieses Kindergeld hat sich im Vergleich zum Karenzgeld früher deutlich erhöht. Die sogenannten Familienleistungen sind also ganz eindeutig ein Umverteilen nach oben.

 Die Daten für 2007 und 2007 habe ich momentan im Detail nicht zur Verfügung, sie spielen aber keine Sonderrolle

 

Leistungen im Bereich Arbeitslosigkeit gehen nur zu einem schwachen Drittel ins Arbeits­losengeld. Ein größerer Anteil fließt in die sogenannte Aktive Arbeitsmarktpolitik. Das scheint auf dem ersten Blick nicht unvernünftig. Aber es ist, wie so häufig, viel Schwindel dabei. Ein Teil dient dazu, einfach die Arbeitslosigkeit zu verstecken. Die angeblichen Schulungen sind weitgehend für die Katz. Trotzdem könnte man hier sagen: Immerhin aktiviert dies die Arbeitslosen und verhindert ein Absinken in die Depression. Doch ein nicht geringer anderer Teil fließt einfach als Subventionen an die Unternehmen. Das wirft ein etwas anderes Licht auf diese aktive Politik.

Die Anteile der Gesundheits- bzw. Krankenversorgung machen 2011 mit 7,2 % des BIP bzw. 24,7 % der Sozialausgaben den zweiten schweren Brocken aus. Er hat sich seit 2000 nur wenig geändert.

Ziehen wir daraus nun einige Konsequenzen:

Der Abbau des Sozialstaats findet bisher nicht statt. Im Gegenteil: Noch steigt die Sozial­quote geringfügig. Das muss keineswegs so bleiben. Speziell in der Altersversorgung sind die Weichen tatsächlich auf einen weiteren Abbau und weitere Kürzungen gestellt. Aber das Problem liegt im Wesentlichen anderswo: Mit dem Slogan gegen den Sozialabbau bauen wir uns einen Popanz auf und lassen uns auf eine falsche Fährte locken. Es geht um die Ungleichheit. Und es geht dabei um die Dualisierung, um die Gesellschafts-Spaltung.

Die Eliten bauen sich eine Gesellschaft nach ihrem Geschmack auf. Das oberste Prozent gewinnt massiv an Einkommen und Vermögen. Als Rekrutierungsfeld und gleichzeitig als Schutz nach unten bauen sie sich einen Bereich von tatsächlichen oder potenziellen Gewinnern auf, der vielleicht etwa ein Drittel der Gesellschaft umfasst. Diese oberen Teile der Mittelschichten sollen die eigentlichen Träger der erwünschten Gesellschaft sein. Die unteren zwei Drittel aber muss man ruhig stellen. Dazu muss der Sozialstaat erhalten bleiben, aber sie sollen ihn sich gefälligst selbst finanzieren. Eine gewisse Absicherung auf niederem Niveau und unter bestimmten disziplinierenden Bedingungen sollen sie haben. Aber die Umverteilung findet innerhalb der sehr breiten Unter- und Mittelschichten statt, innerhalb der unteren zwei Drittel.

Das hat weit reichende Folgen. Es geht auch um verschiedene Lebensformen. Für diese unteren zwei Drittel kommt man durchaus auf Vorschläge zurück, wie sie seinerzeit einmal die Progressisten entwickelt haben. Hier bietet man Sachleistungen in  steigendem Maß an, vom Kindergarten über die Schule und einer Basisversorgung in der  Medizin bis zu Pflegeheimen und Sachleistungen in der Sozialhilfe. Hier lehnt man eine gewisse Kollektivierung auch des Konsums und der Lebenshaltung keineswegs ab.

Ganz anders oben. Dort findet eine zugespitzte und oft perverse Individualisierung statt. Die sind ja auf Sozialleistungen nicht angewiesen. Den eigenen Kindern bieten man durchaus teure Schulen und Internate in der Schweiz oder anderswo. Die Medizin lässt sich abstufen: Die Unterschichten erhalten eine Basis-Versorgung. Die etwas besser Gestellten finanzieren sich über Zusatzversicherungen die Sonderklasse in den Krankenhäusern und mehr Leistungen. Für die wirklich Reichen stehen dann private Sanatorien und die Spitzen-Medizin bereit. In Ansätzen findet das ja heute schon statt. Und ihre Pensionen handeln sie sich mit den Kollegen vom Vorstand aus.

Sollte aber wirklich jemand auf die Idee kommen, dass die Verteilung, das Einkommen, das Vermögen, ein Problem ist – nun, den kann man auf eine andere Fährte lenken: Da spielt man dann Alterskampf. Die Pensionisten fressen Alles auf. Für die Jungen bleibt nichts mehr übrig. Dass bei einem jährlichen Produktivitätswachstum von rund 1 1/2 % im langjährigen Schnitt die Altersversorgung im Grund überhaupt kein Problem ist; dass es bei Pensionisten ebenfalls das eine hohe Ungleichheit gibt; dass die realen Probleme der Alterung und des Sorgewesens überhaupt nicht angesprochen werden – das Alles geht dabei unter. Gleichzeitig wachsen die Einkommen der allerobersten kleinen Schicht enorm, egal ob jung oder alt. Doch mit dem Alterskampf versuchen diese Gruppen ihren Klassenkampf von oben nach unten zu verbergen. Und sie haben einen gewissen Erfolg dabei – wenig verwunderlich: Haben sie doch die Hegemonie-Apparate in der Hand.

4. November 2013