Der Baltische Tiger und seine Opfer

22.12.2013
Von A.F.Reiterer
Die Eurozone wird ab 1. Jänner ein neues Mitglied haben. Und Lettland ist ein würdiger Teilhaber dieses Klubs!

Auf dem HDI (Human Development Index) steht das Land knapp vor Argentinien, aber deutlich nach Chile; seit 2007 glitt es um vier Plätze ab. Das BIP pro Kopf machte 2012 (letzter erhältlicher Wert) 10.900 € aus, das wären 30 % des Werts der Nieder­lande (um nicht immer von Österreich zu sprechen) oder 63 % von Griechenland. Rechnet man in KKP, dann steigt der Wrt im Vergleich zu den Niederlanden zwar auf etwa< die Hälfte. Doch gerade mit der Übernahme des € wird dieser günstigere Berechnungsmodus ja weitgehend sinnlos.

Als die drei baltischen Staaten sich 1990 aus der damaligen Sowjetunion lösten, hatte Lettland 2.668.000 Einwohner. Es war seit 1959 in ansehnlicher Weise gewachsen. Mittlerweile hat das Land noch 2.024.000 Einwohner. Es hat also ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Wenn man weiß, dass die Bevölkerungs-Entwicklung auch heute der getreueste Spiegel dafür ist, wie sich die Menschen fühlen, bräuchte man nicht mehr allzu viel mehr zu sagen. Jahr für Jahr verlassen netto mehrere Zehntausend Letten ihre Heimat, und in den letzten Jahren tun dies besonders viele.

 

 

Wieso sollten sie auch bleiben? Die Wirtschaft hat in den Jahren um 2008 einen schweren Einbruch erlebt. Man redet sich aus: die Finanzkrise. Es war aber mindestens ebenso die brutale Regierungs-Politik. Die wollte um buchstäblich jeden Preis in die Eurozone, mit einem Bruchteil der Wirtschaftsleistung, die hoch entwickelte Länder aufweisen. Nun erzählt uns eine Reportage im Rundfunk: Die Bevölkerung ist in ihrer überwiegenden Mehrheit gegen diesen Euro-Beitritt. Frage: Warum wählt sie dann Parteien, die in der Regierung dieses Katastrophen-Programm durchziehen? Soweit man hört, gibt es in Lettland ein allgemeines Wahlrecht.

Das stimmt so allerdings auch nicht so ganz. Denn vorsichtshalber hat die neue Republik bereits in den 1990er Jahren einen erheblichen Teil ihrer Einwohner politisch entrechtet. Es waren vor allem russisch sprechende Letten, die es traf. Ein ziemlich großer Anteil wurde in der Folge vertrieben und wanderte nach Russland ab. Ein kleiner Teil bemühte sich um die russische Staatsbürgerschaft, blieb aber in Lettland. Das zogen sie noch immer dem Jelzin'schen und Putin'schen neuen Russland vor. Und ein noch recht großer Teil ist noch immer staatenlos.

Das Wirtschafts-Wachstum hat auch wieder eingesetzt, schon wieder schwärmen reaktionäre Zeitungen vom "baltischen Tiger". Aber es ist einerseits das Niveau von 2007 noch nicht wieder erreicht. Und andererseits sind die Nutznießers dieses neuen Aufschwungs nur in den Spitzengruppen zu finden. Eine solche Stop-and-go-Politik nutzt immer den Wohlhabenden und schädigt die unteren drei Viertel. Zuerst ein Einbruch um 15 %, 20 %, und dann wieder kurzfristig Wachstumsraten von nahe 10 %? Es sind einerseits die unmittelbaren ökonomi­schen Auswirkungen, die Armut und das Nichtwissen, wie man überleben soll. Und es sind danach auch die indirekten Folgen: Wenn jemand in fünf Jahren dreimal arbeitslos wird, dann wird er oder sie es sich wohl überlegen, ob er oder sie eine aufmuckt.

So hat denn auch die Ungleichheit Ausmaße erreicht, die selbst in den baltischen Ländern schon wieder ungewöhnlich sind. Die Verhältnisse sind nur mehr mit Ländern in Afrika und Lateinamerika zu zu vergleichen. Auch ein Erfolg: Der Austritt aus der einen Union und die Unterwerfung unter die andere hat direkt in die Dritten Welt geführt.

Wahrhaft ein passendes Mitglied dieses Euro-Clubs!

Noch etwas ist aus österreichischer Sicht anzumerken. Der ORF präsentiert uns immer wieder einen kritischen Ökonomen aus dem WIFO – sozusagen das non plus ultra dessen, was der Staatsfunk in Österreich an Kritik für erträglich hält. Und was sagt Herr Schulmeister zu dieser Rosskur, welche die Menschen dort nahe an die Verzweiflung bringt? Es war vor einem Jahr. Zuerst bedauert er die Leute – und dann meint er plötzlich: "Nun haben sie das schon durchgemacht, nun sollen sie den Euro auch haben." Ich muss gestehen: mir hat es die Sprache verschlagen.

Die politischen Analytiker sprechen von Pfadabhängigkeit und Sachzwang. Wenn die Politik einen Schritt gesetzt hat, dann folgt aus ihm fast schon logisch der nächste. Die Frage ist: Wie lange werden sich die Menschen diese Art von Politik bieten lassen, die ein Faktum nach dem anderen gegen die Bevölkerung setzt?

22. Dezember 2013