EP-Wahl und Pseudoparlament

22.05.2014
"Besitz und Bildung": Die Oligarchie und die Mittelschicht
Von A.F.Reiterer
Und wieder einmal stehen wir vor "EU-Wahlen", wie uns der ORF Tag für Tag in die Ohren dröhnt. Und? Ist das nicht wichtig?

Das EP, das Europäische Parlament, trägt nur die Maske eines Parlaments. Es ist aber kein Parlament; es ist Teil der EU-Zentralbürokratie.

Aber es wird doch gewählt! Warum ist es dann kein Parlament?

Vielleicht ist der Ausdruck ein wenig ungenau. Man müsste sagen: Das EP ist trotz allge­meinem Wahlrechts kein Parlament der Bevölkerung insgesamt, dessen, was man in der politischen Theorie den Demos nennt. Denn es gibt keinen allgemeinen europäischen Demos. Wenn hier gewählt wird, dann hat es die von den Grünen so gewünschte Qualität von EU-Volksabstimmungen: Dass also z. B. 10 Millionen Bayern und 700.000 Tiroler bzw. ihre Wahlberechtigten abstimmen, ob die bairischen LKWs ungehindert durch Tirol fahren dürfen. Diese Art von Demokratie wird am deutlichsten am Wahlkampf selbst und am rapiden Rück­gang der Wahlbeteiligung bei diesen Pseudo-Wahlen. Aber was soll's? Obwohl sich das EP im zähen Infight immer mehr Befugnisse aneignet, nicht zuletzt solche, die in den Verträgen gar nicht enthalten sind, nimmt man es doch nicht ernst: ein Parlament, dass den größeren Teil seiner Zeit damit verbringt, herumzufahren und sich seine Akten nachtransportieren zu lassen.

Die politische Klasse fürchtet die nationalen Wahlen und den nationalen Wahlkampf. Denn hier geht es für sie um etwas, und wenn dies nur ihre Pöstchen sind. Daher bemüht sie sich durchaus, den Wählern oder vielmehr ihrer jeweiligen Klientel in diesem Zusammenhang etwas zukommen zu lassen. Aber auch die paar Brotkrümmelchen sind ihr auf die Dauer zu teuer. So versucht sie, Wahlen und Wahlkämpfe so weit wie möglich zu vermeiden. Da dies nicht wirklich geht, dehnten sie zumindest die Fristen. Als man vor Jahrzehnten noch die Rhetorik der Demokratisierung pflegte, hat man z. B. in Schweden den Abstand zwischen den  Parlamentswahlen auf drei Jahre verkürzt. Es ist immer noch weit genug. Zum Unterschied vom Parlamentarismus würde ein Räte-System vor allem darin bestehen, dass Abgeordnete abrufbar und beauftragbar sind, dass sie also verhindert werden, systematisch gegen die Bevölkerung zu arbeiten.

In Österreich ging die Entwicklung in die andere Richtung. Im Juni 2007 dehnte die Regierung die Zeit zwischen den Wahlen auf 5 Jahre aus, und außer der FPÖ gingen alle mit, auch die "Demokratiepartei" GRÜNE (BGBl 27/2007). Es ist sehr kennzeichnend, wenn in einer längeren wahlfreien Zeit Politiker und Zeitungen aufatmen: Jetzt könne eine Zeitlang gearbeitet: also ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung Politik gemacht werden.

Dieses Problem hat das EP nicht, und es ist eines der kennzeichnendsten Züge dieses "Parla­ments", dass es nicht die geringste Rücksicht auf die Bevölkerungs-Mehrheiten nimmt. Es gibt, im Unterschied zu nationalen Strukturen ja keinerlei Kontroll-Mechanismen. Die Lobbys der Finanz und der Wirtschaft sind die einzigen Einflussgrößen. Die EP-Wahlen hingegen sind ein reiner Schönheits-Wettbewerb, eine Art sehr teure Mei­nungsumfrage. Die kann sich die Regierung nicht ersparen, weil sie vom EU-Zentrum beschlossen wurden. Es geht um nichts, außer für jene, welche ins EP möchten – und um das Prestige der Parteien. So gehen denn auch immer weniger Wähler hin, trotz Wut auf die Regierung. Die Wahlbeteiligung dürfte sich heuer in den älteren Mitgliedern gegenüber 1983, der erstmaligen Direktwahl, etwa halbieren. Und was weder die dominanten Politiker noch die Journalisten begriffen haben: Die einzige Legitimität dieser Abgeordneten leitet sich von dieser nationalen Rolle als Stimmungsmesser ab.

Die ganze Wahrheit ist dies aber auch nicht. Es gibt keinen allgemeinen europäischen Demos. Aber es gibt einen Demos der europäischen Ober- und oberen Mittelschichten. Das sind jene 25 % - 30 %, die man im 19. Jahrhundert, zur Zeit des Zensus-Wahlrechts, also jenes Wahlrechts, das sich am Einkommen bzw. Vermögen ausgerichtet hatte, als "Besitz und Bildung" bezeichnete. Und genau das ist es auch heute. Die betrachten das EP tatsächlich als ihre Repräsentation und richten eine gewisse Aufmerksamkeit darauf. Das sind jene Leute, deren Kinder schon in ihrer Mittelschulzeit auf Exkursion nach Brüssel fahren. Dort bewund­ern sie die Herrschafts-Architektur in der rue de la loi / Wetstraat und hören andächtig den Damen und Herren Lunaček und Karas, Swoboda und Leichtfried und vielleicht auch sogar Stadler zu.

Gerade als Teil der Bürokratie ist das EP die authentischste Repräsentation der oberen Mittelschichten. Da macht es gar nichts aus, wenn dort hauptsächlich abgetakelte nationale Politiker sitzen: der Beinahe-Bürgermeister von Wien, den Häupl nicht mehr hier haben wollte; der Schwiegersohn des Herrn Waldheim, der hier das hohe Amt des JVP-Häuptlings hatte; die gescheiterte Generalsekretärin der Grünen; und der in Brüssel / Strassburg versorgte Ex-Dobermann des Jörg Haider; usf. Was Herr Faymann vom EP selbst hält, hat er durch die Auswahl des SP-Spitzenkandidaten zur Genüge demonstriert. Wer ihm allerdings eingeredet hat, dass Eugen Freund ein Zugpferd sein soll, muss schlichtweg dumpf auf der Platte sein.

Die Konflikte des EP mit der Kommission sind der typische bürokratische Infight zwischen unterschiedlichen Fraktionen der Beamtenschaft. Und sie sind auch inhaltlich höchst kenn­zeichnend. Denn die Kommissare fühlen sich vereinzelt noch bemüßigt, sich um eine Art von Konsens mit dem Rat zu kümmern. Der hat immerhin noch einen Schatten von Legitimität. Die Mandatare des EP sind frei von jeder Verantwortung. Als bei der letzten EP-Sitzung im April schließlich die seit der Währungsunion weittragendsten Beschlüsse, die über die "Bankenunion", doch noch durch gewunken wurden, und eine Menge anderer, da fühlten sich die Verhandler des "Parlaments" bemüßigt zu erklären: Sie hätte ihr Ziel erreicht, denn nun habe auf diesem Gebiet die Politik nichts mehr zu reden.

Wiederholen wir es: Das EP ist kein Parlament, zumindest wenn wir ein Parlament so ver­stehen, wie wir bisher nationale Parlamente verstanden haben. Es fühlt sich in keiner Weise der Bevölkerung verbunden, sondern dem Fetisch EU-Europa. Einige dieser Abgeordneten begreifen ganz gut, was das bedeutet. Das hat der Ex-Innenminister Strasser verstanden; aber er hatte nicht genug Intelligenz um zu begreifen: Das darf man nicht aussprechen! Manche aber fühlen sich aber nur ihrer Idee von der abstrakten Macht verpflichtet. Das dürfte auf den Großteil der Grünen zutreffen. Sie sind sozusagen die bürgerlichen Stalinisten.

Wie also diese Wahl ausgeht, ist ausschließlich von symbolischen Wert. Sollte die FPÖ wider Erwarten doch jetzt bereits an erster Stelle stehen, dann wird dies ein Schock für die anderen Parteien sein. Aber damit hat es sich. Und es ist auch ziemlich gleichgültig, wer von den größeren Fraktionen vorn liegt. Sie sind politisch-inhaltlich nicht auseinander zu halten. Als EU-Gegner wünscht man sich vielleicht, dass Martin Schultz Präsident wird. Nicht dass es inhaltlich einen Unterschied macht, wie gesagt. Aber dieser deutsche Herrenmensch würde wahrscheinlich noch mehr Menschen gegen die EU aufbringen, als der verbindlich-höfliche Juncker.

 20. Mai 2014