Nein zu neuerlichen US-Bomben auf den Mittleren Osten!

03.09.2014
Von Wilhelm Langthaler
Die Völker der Region können mit Diktaturen, Kalifat und Konfessionalismus nur selbst fertig werden
Jezidische Miliz in Lalesh, dem heiligsten Ort der Glaubensgemeinschaft

Abermals fliegen die USA Luftangriffe gegen den Irak und möglicherweise bald auch Syrien. Begründung: den Völkermord durch das Kalifat verhindern. Damit ist Washington die breitestmögliche Unterstützung sicher. Von Israel über die EU, Ägypten, Saudi-Arabien, den Irak (stillschweigend den Iran, Assad und selbst Moskau), alle Kurdenfraktionen einschließlich der PKK bis hin zu den europäischen Linken. Gysi versucht die Gunst der Stunde den antimilitaristischen Konsens zu brechen und fordert Waffenlieferungen an die Kurden. Die deutsche Regierung erfüllt ihm prompt sein Herzensanliegen. Angesichts des islamistischen Gespensts bildet sich eine monströse Querfront.

1) Der Bock als Gärtner – Irakisierung der Region

Zunächst muss man sich die Ergebnisse des amerikanischen Irak-Krieges vor Augen führen, um nicht allzu weit in die Geschichte des Kolonialismus und postkolonialen Herrschaft über die Region zurückzugehen.

Zwanzig Jahre lang hatte Washington den Irak mit einem Hungerembargo belegt, um einen ausgehöhlten Restposten des einst stolzen arabischen Nationalismus nieder zu halten. In gewissen Sinn handelte es sich um eine Fortsetzung des Dual Containment, der US-Strategie des gegenseitigen Ausblutens und Kleinhaltens des Irak und Iran im Krieg 1980-88, welche sich blendend bewährt hatte.

Doch in ihrem Größenwahn gingen die Neokons aufs Ganze und wollten es wissen: Regime change und Demokratieexport mittels direkter imperialistischer Invasion. Ergebnis: der iranische Erzfeind stieg als lachender Dritter siegreich aus dem Ring und verfügt in Bagdad nunmehr über entscheidenden Einfluss. Damit war nicht nur das bewährte Dual Containment im Eimer.

Überdies errichteten Maliki & Co Schritt für Schritt ein konfessionelles Regime, das die Öl-Rente unter den Fraktionen des schiitischen politischen Islam verteilte und so Konsens schuf, aber die Sunniten ausschloss.

Das Vorgängerregime der Baathpartei hatte selbst eine Geschichte der graduellen Transformation zu einem sunnitischen Konfessionalismus, dessen politische Konsequenz der Aufstieg des schiitischen politischen Islam gewesen war. (Dabei hatte auch der Erste Golfkrieg mit seiner ideologischen Kriegsführung gegen den Iran seinen Teil beigetragen). Der vorwiegend sunnitische Widerstand gegen die US-Besatzung bewältigte dieses konfessionalistische Erbe nicht, ja radikalisierte es noch weiter – und scheiterte schließlich daran. 2006/7 versank das Zweistromland in einem ersten konfessionellen Bürgerkrieg, der Modell für den heutigen Konflikt in der gesamten Region stand. Das kristallisierte Ergebnis ist der Islamische Staat. (1)

Die USA waren pragmatisch genug, um die sich aus dieser Niederlage eröffnenden Möglichkeiten zu ergreifen. Sie banden einen Teil des sunnitischen Widerstands mittels der Sahwa-Milizen ein. Doch Maliki passte das nicht und setze die Kooperation nicht fort. Gegen die zunehmenden Proteste dieses ursprünglich kooperationsbereite sunnitische Milieu ließ er die Armee aufmarschieren. So trieb er es gekonnt in die Arme des IS und half politisch das Kalifat vorzubereiten.

Mosul könnte man als baathistische Hochburg bezeichnen. Dort leben hunderttausende ehemalige Soldaten, Beamte, Lehrer etc. Auch die Moslembrüder gab es dort. Angesichts ihres fortgesetzten Ausschlusses benutzte dieses Milieu die Gelegenheit für einen sunnitisch-konfessionellen Volksaufstand, dessen militärische Führung in der Hand der radikalen Takfir-Dschihadisten der IS liegt. Für die Masse der Bevölkerung scheint das Kalifat das kleinere Übel gegenüber dem schiitischen Regime in Bagdad zu sein. Anders ist nicht erklärbar, dass ein paar zehntausend Dschihadis im Handumdrehen den halben Nordirak einnehmen – und das ist noch erstaunlicher – auch halten können.

Aus der Sicht Washingtons ist der Irak (und nicht nur dieser) sowohl auf der sunnitischen als auch der schiitischen Seite aus der Kontrolle geraten – der ganze Konfessionalismus, den die USA zeitweise sogar förderten, erschüttert nun auch ihre eigene Herrschaft. So bleiben als Verbündete nur mehr die Kurden übrig.

2) Kurden – Selbstbestimmung mit Hilfe des Imperialismus?

Indes verwandelte sich das KDP-Regime in Erbil zum wichtigsten Verbündeten der USA und schließlich auch der Türkei.(2) Der Ölreichtum erlaubt es ihnen auch eine gewisse Stabilität herzustellen. Bei den israelisch-amerikanischen Aufmarschplänen gegen den Iran war Erbil eine wichtige Rolle zugekommen. Für die Türkei wiederum stieg der kurdische Nordirak nach Deutschland zum wichtigsten Handelspartner auf und diente als politisches Gegengewicht gegen die PKK hinsichtlich der kurdischen Frage, um dessen Lösung sich Erdogan auf seine Weise bemüht. Im Gegenzug zur westlichen Unterstützung erklärte sich Erbil bisher dazu bereit formal den Rahmen des Iraks zu respektieren. Denn der Westen fürchtet die Konsequenzen der Aufhebung der kolonialen Grenzen und damit den Zerfall seiner Ordnung. Doch diese Zurückhaltung der KDP könnte bald zu Ende gehen.

Zuerst schien die Implosion des Maliki-Regimes im Norden zugunsten der KDP zu verlaufen. Während sich der IS ausbreitete, nahmen die Peschmerga das erste Mal die Ölstadt Kirkuk ein, die Araber und Kurden seit 100 Jahren jeweils für sich reklamieren.

Doch in der direkten Konfrontation mit dem IS erwiesen sich die KDP-Truppen als unterlegen. Sie verloren schnell den wichtigen Mosul-Staudamm. Das jezidische Sindschar-Gebiet gaben sie gar kampflos auf, wohl auch aus Ressentiment gegen diese ungeliebte konfessionelle Minderheit unter den Kurden.

Hier schlug die Stunde der PKK, die ihrerseits von der KDP in Syrien unter Embargo gestellt worden war. Sie kämpften einen rettenden Korridor für die Jeziden frei und ließen den Peschmergas militärische Unterstützung angedeihen, die jene in ihrer Notlage nicht ausschlagen konnten. (Überhaupt steht damit die Isolationspolitik Erbils gegen die PKK in Frage.) Bisher sind die syrischen Verbände der PKK, die PYD, die einzigen, die der IS trotz mangelhafter Bewaffnung im Territorium selbst erfolgreich entgegenzuhalten vermögen. Denn sie sind mindestens genauso motiviert wie die Dschihadis.

Wollen die USA tatsächlich gegen den IS vorgehen, werden sie die PKK brauchen, was wiederum für Ankara ein großes Problem darstellen wird. Überhaupt erweist sich die Türkei als jener Staat in der Region, der dem IS am wenigsten feindlich gesinnt ist. Sowohl Saudi-Arabien als auch Qatar ist das Kalifat schon zu heiß, sprich: unkontrollierbar geworden. Anders gesagt: Das AKP-Establishment erwägt auch eine Variante in der dem IS (wenn auch in etwas präsentablerer Form) eine gewisse Rolle in der Rekonfiguration der Region zukommen könnte, denn die Sykes-Picot-Grenzen werden immer brüchiger und scheinen nicht mehr lange haltbar. Hier ergäbe sich die Möglichkeit einer abgespeckten aber dafür konfessionalisierten Variante des Neoosmanismus, wie ihn Erdogan am Höhepunkt seiner Macht vor dem syrischen Bürgerkrieg vertrat.

3) Syrien – Assad als Geburtshelfer des Kalifen

Assad kann sich mit Fug und Recht brüsten, dem syrischen Tahrir, der demokratischen und sozialen Bewegung des syrischen Volkes, den Kopf abgeschlagen zu haben. Der Preis dafür: einerseits die weitgehende Konfessionalisierung seines eigenen Regimes, andererseits die Bereitung des politischen Bodens für das Kalifat. Und in letzter Konsequenz der Zerfall des Landes entlang konfessioneller Linien.

Assads Strategie war von Anfang an darauf ausgerichtet, die Demokratiebewegung als islamistische Revolte darzustellen und als solche zu bekämpfen. Er verweigerte nicht nur jede demokratische Reform, sondern auch jede Einbindung des historisch vorhandenen politischen Islam (nicht nur in Form der Moslembrüder). Nach drei Jahren der blutigen Repression, der Militarisierung und Konfessionalisierung steht nun tatsächlich das Monster vor ihm, das ihm der liebste Feind gewesen war – erschaffen als ungewollte Koproduktion mit den Golf-Diktaturen.

Die Geschichte des Baathismus endet im völligen Scheitern und der verbrannten Erde. Angetreten die arabischen Völker gegen das Sykes-Picot-Abkommen zu einigen, wurden sich irakische und syrische Baath spinnefeind und damit zum Garanten der kolonialen Grenzziehung. In ihrer finalen Degeneration konfessionalisieren sich beide, die einen sunnitisch die anderen schiitisch. Jetzt stehen sie sich abermals in einem konfessionellen Bürgerkrieg gegenüber. Der Machterhalt der syrischen Baath läuft auf einen konfessionellen Kleinstaat nach der französischen Kolonialverwaltung hinaus, gegen deren Pläne die Partei einst entstanden war. Das irakische Baathmilieu unterstützt oder duldet ihrerseits den offen konfessionellen Dschihad-Staat.

Die Idee zumindest Teile des politischen Islam einzubinden, sei es den schiitischen im Irak, sei es den sunnitischen in Syrien, ihn damit zu domestizieren und das Regime auf eine breitere Basis zu stellen oder gar zu demokratisieren, lehnten sie bis heute vehement ab. Einem solchen „Verrat“ ziehen sie den konfessionellen Bürgerkrieg vor.

Solange das Damaszener Regime nicht eine Hand Richtung politischen Islam ausstreckt und damit das Milieu zu differenzieren und zu spalten versucht, statt es durch militärische und notwendig konfessionell interpretierte Härte zusammenzudrängen, wird der IS weiter die sunnitische Seite des Bürgerkriegs dominieren. Denn dem Konflikt liegt mittlerweile eine konfessionell-militaristische Logik zugrunde. Das gleiche gilt sinngemäß für Bagdad, auch wenn das dortige Regime durch den Einfluss aus Teheran und Washington sich etwas flexibler zeigen könnte.

4) Israels Extremismus schadet der US-Herrschaft

Bald ein Jahrzehnt dauert nun schon die Hungerblockade gegen Gaza. Noch länger verweigert Israel ernsthafte Verhandlungen, die die Bereitschaft zu einem Kompromiss voraussetzen würden. In Israel herrschen nach wie vor die Neokons als wäre deren Projekt nicht an Größenwahn einer geschwächten Weltmacht und am Widerstand von Volksbewegungen gescheitert.

Die letzte Episode zur Illustrierung dieser Haltung war die Ablehnung der palästinensischen Einheitsregierung. Statt die Teilnahme der Hamas als Möglichkeit zu begreifen, die Kollaborationsbehörde PNA zu stärken , verteufelte die Zionisten Abbas gleich mit. Sie meinen sich das angesichts ihrer drückenden militärischen Überlegenheit leisten zu können. Kurz- und mittelfristig mag das sogar stimmen.

Aber für die US-Vorherrschaft in der Region wirkt es seit Jahren destabilisierend. Zwar ist der arabische Frühling weitgehend gescheitert und die Hamas durch die Erneuerung der Diktaturen in Ägypten und Syrien diplomatisch so isoliert wie schon lange nicht, doch gießen die Übeltaten des Zionismus Öl ins Feuer der dschihadistischen Revolte.

Es war mit die israelische Haltung, die die Einbindung des islamischen Impulses durch die arabischen Regime verhinderte, und so dem verallgemeinerten konfessionellen Bürgerkrieg Vorschub leistete. Der Krieg der Feinde Israels untereinander mag auf den ersten Blick für den Zionismus günstig erscheinen. Doch in letzter Konsequenz hängen Israels Geschicke von jener der US-Ordnung ab. Und diese erleidet auch durch den unkontrollierbaren Bruderkrieg einen Kontroll- und Stabilitätsverlust.

5) IS – reaktionärer Volksaufstand

Es ist so einfach wie falsch den islamischen Staat schlicht als Terrorbande abzutun, wie das zum Medien-Kanon kodifiziert zu werden scheint. Dieses Herangehen entspricht der Methodik des Kalten Krieges und in der Folge des Kriegs gegen den Terror. Es ist die Position der globalen Herrschaft.

Kann man mit reinem Terror und einigen Millionen Dollar in der Tasche den halben Irak und halb Syrien einnehmen, die Sykes-Picot-Grenzen ins Wanken bringen und ein Kalifat errichten?

Die Dialektik von Besatzung, Widerstand und konfessionellem Konflikt im Irak auf der einen Seite sowie eine ähnliche Dialektik die Niederschlagung der demokratischen Revolte in Syrien, der Militarisierung und der Entwicklung eines konfessionellen Bürgerkriegs haben für die radikalen Dschihadisten und Takfiris ein weites politisches Feld eröffnet. Sie stellen unzweifelhaft die Führung einer Volksrevolte (gerade der unteren Schichten) gegen die regionale Ordnung des Imperialismus, auch wenn ihre Ziele reaktionär sind.

Vor allem aber hat der Dschihadismus keine Chance wirklich gegen den Imperialismus und seine lokalen Eliten zu siegen, denn statt zu einigen spaltet er die Volksmassen. Gegenwärtig und auch noch für eine gewisse Frist mag er die Situation des Vakuums und Bürgerkriegs nutzen können, aber irgend wann endet das in Form einer Implosion, einer Katastrophe.

6) Ist für einen demokratischen, sozialen und überkonfessionellen Antiimperialismus noch Platz?

Aus einer sozialrevolutionär-antiimperialistischen Sicht dürfen folgende Fehler keinesfalls begangen werden:

a) Im konfessionellen Bürgerkrieg darf keine Seite bezogen werden, auch wenn sich dieser da und dort mit legitimen Interessen von Teilen des Volkes vermischt.

b) Die alte, sich mit allen Mitteln zu retten versuchende Ordnung der kapitalistischen sozialen Eliten kann nicht als kleineres Übel unterstützt werden, denn der Islamismus ist in einer gewissen Weise eine Reaktion auf ihr Scheitern. (Das gilt sowohl für den prowestlichen Sisi, also auch für den mit Russland und Iran verbündeten Assad – beide sind sie Bewahrer der alten Ordnung.)

c) Keinesfalls kann der Imperialismus militärisch und politisch um Hilfe gerufen werden, denn das erfolgt nie gratis. Keine der Seiten war übrigens davor gefeit und praktisch alle versündigten sich.

Die revolutionär-demokratischen Kräfte haben eine herbe Niederlage erlitten. Ihr Bewegungsspielraum zwischen Konfessionalismus und alten Eliten hat sich sehr verkleinert. Die Tendenz zum verallgemeinerten Bürgerkrieg lässt noch kaum noch aufhalten auch wenn es durchaus noch Gegentendenzen gibt.

Dennoch, die vorhandenen Bürgerkriegsparteien sind nicht in der Lage Lösungen im Interesse der Volksmassen zu finden. Der Konfessionalismus spaltet das Volk und liefert es der kapitalistisch-imperialistische Ordnung aus. Doch Bürgerkrieg und Restauration können und werden nicht ewig dauern.

Ein wesentlicher Schritt ist ein Projekt der konfessionellen Deeskalation. Das erfordert zunächst die gegenseitige Anerkennung und damit paradoxerweise auch ein Stück weit die Anerkennung des Konfessionalismus als Realität.

Aus sozialrevolutionärer Sicht bedeutet das den politischen Islam zu differenzieren, die reaktionärsten Tendenzen zu isolieren und mit einem Teil gegen die alten Eliten die Kooperation anzubieten – mit dem Ziel eine solche tatsächlich zu entwickeln oder auch deren Anhänger auf die sozialrevolutionäre Seite zu ziehen.

Für antiimperialistische Gruppen im Westen heißt das weiterhin jede Einmischung des globalen Zentrums zu bekämpfen, das Selbstbestimmungsrecht zu verteidigen und die sozialrevolutionären Bewegungen zu unterstützen.

31. August 2014

(1) siehe: Die Rache des „irakischen Widerstands“, Malikis konfessionelles Regime provoziert konfessionelle Antwort
http://www.antiimperialista.org/de/Rache_des_irakischen_Widerstands
(2) Wer oder was ist die KDP?
http://www.antiimperialista.org/de/node/244574