Modell Berlin gegen Modell Brüssel

26.05.2015
Von A.F.Reiterer
Schäuble und Merkel, Draghi und Juncker – worum geht es?

 

Warum hat die deutsche Bundesregierung Mitte der 1990er derart gezögert, bevor sie sich doch entschloss, das Projekt Euro aufzunehmen und voranzutreiben? Es ist schließlich die BRD, welche ihren Exporteuren damit die meisten Vorteile verschafft. Trotzdem hält sich hartnäckig das Narrativ, dass Deutschland von Frankreich zu seinem Glück gezwungen wer­den musste; dass Mitterrand mit der Verweigerung zur Einvernahme der DDR drohte, falls sich Kohl und Konsorten nicht doch endlich für die Währungsunion entschließen würden.

Gehen wir eineinhalb Jahrzehnte von damals zurück. Der Werner-Plan mit seinen kurzfristi­gen Terminen für eine volle Einheitswährung hatte sich soeben als überambitioniert erwiesen. In der ersten Version der "Schlange", konzipiert als regionales Klein-Bretton Woods mit untereinander fixierten Kursen, werteten die Teilnehmer fast nach Belieben auf oder ab. Vielmehr, was auf dasselbe herauskam: Sie traten aus und ein und aus und ein. Das passte dem deutschen Kanzler Helmut Schmidt gar nicht. Er hatte sich eben in der eigenen Partei gegen Karl Schiller durchgesetzt, und dieser verließ die SPD und trat zur CDU über. Im Grunde ging es genau um dieses Thema: Schiller gehörte zwar der SPD an, war aber ein ziemlich klassischer Vertreter des Ordo-Liberalismus. Er wollte für die Industrie günstige Rahmen-Bedingungen schaffen, im übrigen aber eine Art Laissez-faire-Kapitalismus betreiben. Dazu gehörte, dass bei überproportionalen Produktivitäts-Gewinnen die DM aufgewertet gehört, weil dies so in den Lehrbüchern steht. Und eine Aufwertung treibt die Unternehmen schließlich zu neuen Leistungen an.

Helmut Schmidt nannte sich in seiner Arroganz "Weltökonom", weil er sich von der misera plebs der "Nationalökonomen" absetzen wollte. Das zeigt auch seine politische Richtung. Er strebte eine übernationale Wirtschaftsordnung an, die nicht nur dem deutschen Export zugute käme, sondern welche die Welt am deutschen Wesen genesen lassen wollte. Mit anderen Worten: Er strebte eine von der BRD und vielleicht auch noch von Frankreich gesteuerte europäische Ordnung an. Also rief er seinen Freund Giscard d'Estaing, gerade noch neolibe­raler französischer Staatspräsident, nach Hamburg. Zusammen, und ohne Beiziehung von Fachministern oder auch Ökonomen, schnapsten sie dort ein neues EWS (Europäisches Währungssystem) aus. Es war im Grund wieder die alte Schlange mit einem Paritätengitter, jedoch diesmal ergänzt um den Embryo einer EZB. Die hieß damals EFWZ (Europäischer Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit) und hatte noch kaum was zu sagen. Ihre Möglichkeiten waren noch mickrig.

Ein Beitrag in der Wirtschafts-Zeitschrift der österreichischen Bundeskammer der gewerb­lichen Wirtschaft beurteilte damals das Ergebnis so: Das stärkste Interesse an dieser Lösung hat die BRD. "Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft würde sicherlich verbessert, wenn die anderen EWG-Staaten gezwungen wären, auf Abwertungen weitgehend zu verzichten" (Clemenz 1979, 53). Es kam anders. Auch das EWS funktionierte einfach nicht. Man fragt sich: Wie konnte die politische Klasse nach diesem eklatanten doppelten Fehlschlag eine volle Währungsunion ins Auge fassen und konkret planen? Es ist sehr aufschlussreich für die politische Stimmung Anfang der 1990er. Man beschloss, das Funktionieren zu erzwingen. Mit einer echten Währungsunion, inklusive gemeinsames Bargeld, sollte das ständige Auf- und Abwerten einfach nicht mehr möglich sein. Und als flankierende Maßnahme beschloss man die "inneren Abwertungen".

Und damit sind wir wieder bei der Frage: Warum hat sich Kohl gegen die Währungsunion gewehrt?

Die triviale Antwort ist: Wie Mitterand, hat sich auch Kohl und seine Regierung geirrt. Mitte­rand glaubte, mit der Währungsunion eine Hand in der deutschen Politik zu haben, und über Deutschland das restliche EU-Europa steuern zu können. Und dies fürchtete offensichtlich Kohl als eine realistische Möglichkeit. Denn Kohl und in der Tendenz die CDU/CSU vertra­ten eine national-deutsche – man könnte auch sagen: deutschnationale – Politik. Sie hatten gerade nach der Einvernahme der DDR den alten klassischen deutschen Imperialismus als Ziel im Blick, soweit er sich eben heutzutage noch politisch vertreten und durchsetzen lässt. Helmut Schmidt dagegen und die SPD insgesamt vertreten die Programmatik der supra-ationalen Bürokratie. Sie versuchen, die Interessen des deutschen Kapitals in einer neuen Drehung der Entwicklung zu fördern. Sie wissen natürlich, dass sie diese Interessen nicht integral in Brüssel mit seiner irgendwie doch autonomen Bürokratie durchsetzen können. Sie glaubten und glauben, mit dieser Haltung das deutsche Kapital auf die Dauer besser zu stellen, und sie haben sicher recht damit. Das ist auch die Basis der Bofinger mit ihrem Euro-Manifest. In der Professoren-Szene der deutschen Ökonomie bildeten sie die Minderheit. Aber politisch haben sie sich rundum durchgesetzt.

Würde Mitterrand heute noch leben, so würde er sich vermutlich irgendwohin beißen. Denn die Entwicklung verlief ganz anders, als er es sich vorstellte. Kohl könnte man ja noch fragen, was er heute von der Geschichte hält. Ob aber der senile – doch noch immer brutale – Ex-Kanzler – die Gegenwarts-Realität noch zur Kenntnis nimmt oder überhaupt nehmen kann, ist nicht so sicher. Er könnte sich jedenfalls ins Fäustchen lachen.

Das deutsche Verfassungsgericht ist übrigens eher auf der Seite der National-Deutschen. Es hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Urteilen gefällt, welche die Selbstentmachtung der deutschen politischen Klasse zu bremsen versucht. Seine Möglichkeiten sind politisch-realistisch nicht so hoch, wie es sie sich eventuell vorstellt. In Wirklichkeit läuft es immer darauf hinaus, dass es sagt: Bis hierher, wohin gerade der nächste europäische Zentralisie­rungsschritt führt, und nicht weiter. Und beim nächsten Schritt heißt es wieder: Bis hierher und nicht weiter...

Dazu kommt noch ein gewisser Realitätsverlust durch den juridischen Blick. Am 30. Juni 2009 urteilte es über die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags. Da heißt es u. a.: Zwar sei das "Demokratie-Defizit in der EU tatsächlich gegeben. Aber das sei nicht tragisch. Denn bei der EU handle es sich ohnehin nur um ein internationales Bündnis und nicht um einen Staat (vgl. auch die deutschen EU-Ideologen zu dieser Legitimitäts-Problematik: z. B. Bieling 2015).

Und damit sind wir auch in der Gegenwart angelangt. Der deutsche Finanzminister Schäuble, so teilt der ORF am 20 Mai aufgeregt mit, habe den griechischen Staatsbankrott nicht mehr ausgeschlossen. Diese Rhetorik ist nicht mehr neu. Zwei Wochen zuvor hat er der FAS (8. Mai 2015) dasselbe gesagt. Mehr wegen der Systematik der Informations-Sammlung sieht man also im Interview im Wall Street Journal (20. Mai 2015) nach. Und da findet man aller­dings etwas, was der ORF nicht gebracht hat. Vermutlich hat er es nicht verstanden. Das aber ist wesentlich wichtiger. "Mr. Schäuble said London’s wish for looser EU ties could provide a vehicle for the tighter-knit eurozone economic governance that Berlin thinks is indis­pensable to the currency union’s long-term survival."

Oder in ein deutlicheres Deutsch übersetzt: Schäuble will sich mit Cameron koalieren, denn er möchte durch eine starke Zentralisie­rung der Eurzone ein für alle Male fixieren, dass die Deutschen in der Kern-EU ohne jede weiteren möglichen Widerstände das Sagen habe. Dafür kommt er gern London entgegen. Die Brüsse­ler Bürokratie stört ohnehin viel zu häufig die deutsche Politik durch ihre eigenmächtigen Einmischungen in Schäubles Kreise. Die EU außerhalb einer vielleicht geschrumpften Euro-Zone soll also auch formell auf eine politische Peripherie reduziert werden. Ihre Kompetenzen wären, entsprechen d auch den britischen Wünschen, deutlich einzuengen. Das Zwei-Kreise-Modell wird institutionalisiert. Weitere noch stärker peripherisierte Kreise ("Partnerschaften") sind möglich.

Schäuble nimmt damit die national-deutsche Linie von Kohl wieder auf, allerdings auf einer höheren Ebene. Denn mittlerweile hat sich gezeigt: Die Eurozone entspricht dem deutschen Export-Kapital in einer Weise, wie es sich das vielleicht nicht hat träumen lassen. Und wenn es Widerstände gibt, fast zum ersten Mal ernstlich seitens der SYRIZA-Regierung, dann stehen alle Regierungen auf Seiten der BRD. Die BRD hat also nahezu kostenlose Hilfstruppen, wie sie es sich nur wünschen kann.

Sieht man sich das im historischen Vergleich an, so ist es eine aktualisierte Neuauflage der Naumann'schen "Mitteleuropa"-Pläne vor genau einem Jahrhundert. Naumann (1915) entwarf einen deutsch dominierten Wirtschaftsraum von Trondheim und Stockholm bis Istambul. Schäuble hat diesen Raum inzwischen. Er muss ihn nur noch richtig organisieren. Denn es läuft nicht ganz so, wie er es sich wünscht. Man muss ihn straffen, und den Regierungen sagen, wo es lang geht. Die Instrumente dazu sind weitgehend geschaffen: der Fiskalpakt, das europäische Semester, etc., übrigens im Vereinfachten Verfahren nach Art. 48 AEUV, vorbei an den zu mühsamen Veränderungs-Prozeduren. Aber noch fehlt das volle Durchgriffsrecht. Noch müssen (z. B.) die Österreicher nicht bis 67 Jahren arbeiten, noch erhalten sie Pensionen, die häufig über der Armutsgrenze liegen – noch spuren also nicht alle.

Ob sich Schäuble mit seiner harten Linie durchsetzt, die Chaos im Süden im Gefolge eines Euro-Austritts nicht nur in Kauf nimmt, sondern möglicher Weise sogar wünscht, ist eine andere Frage. Diese Politik ist auch in der BRD umstritten. Ich meine nicht die SPD. Die zählt politisch nicht mehr. Wohl aber dürfte die Parteiführung der CDU mit Merkel an der Spitze diese Linie nicht ohne weiteres billigen. Die Kanzlerin steht halb und halb im Brüsseler Lager.

Dann gibt es schließlich auch noch die Brüsseler Zentral-Bürokratie. Sie will nicht nur den supra-nationalen Staat, sie ist vital an ihm interessiert. Sie hat in ihrer Gesamtheit, d. h. insbesondere inklusive EuGH und EZB, inzwischen erhebliche Macht.

Hier kommt überdies ein zweiter Widerspruch ins Spiel.

Das deutsche Wirtschafts-Modell betont gegen die sonstigen Trends in hoch entwickelten Ländern die Sachgüter-Erzeugung, die Industrie. Die hat ihm den sagenhaften Export-Erfolg beschert. Das ist in der Bevölkerung tief verankert. Denn die verbindet damit das "deutsche Wirtschaftswunder".

Die Brüsseler Bürokratie ist stärker globalistisch orientiert. Das aber heißt: Sie folgt dem Paradigma des grenzenlosen Finanzmarkts und ist die eigentliche Interessens-Vertreterin des globalen Finanz-Kapitalismus. Nicht dass die Banken in der BRD Aschenbrödel wären. Ihre Macht ist gewaltig. Die Deutsche Bank sorgt schon dafür, dass die Regierung auf ihre Inter­essen nicht vergisst. Aber die hegemoniale Stimmung ist in Deutschland mehr in Richtung Produktion verschoben. Vielstimmig wie der Chor singt und diskordant, wie das Orchester spielt, blickt man in der BRD prinzipiell freundlicher auch die Sachgüter-Produktion als anderswo.

Und dies hat nun Alles auch mit den gegenwärtigen Konflikten eine Menge zu tun.

Das Aufbegehren Griechenlands gegen den Zuchtmeister Deutschland hat eine Reihe von Motiven. Auf der Ebene der Bevölkerung ist es ein Aufschrei und ein Protest gegen die Verelendung der Massen und den unmenschlichen Kurs der deutsch geführten Troika. Die SYRIZA-Regierung ist durch diese Rebellion an die Macht gekommen, so sie denn Macht hat. Wir dürfen aber nicht vergessen: Ihre Mehrheit stammt aus der eurokommunistischen Strömung. Sie wollten also ihren Grundirrtum: die Orientierung am Sowjet-Regime, durch eine Sozialdemokratisierung, eine Unterwerfung unter die westliche Hegemonie korrigieren. So übernahmen sie alle Illusionen der alten reformistischen Sozialdemokratie; die neue, die Sozialdemokratie der Blair, Renzi und Gabriel hat ja keine mehr, sondern will zielgerichtet die Elitenpolitik des Finanz-Kapitalismus. Zu diesen Illusionen gehört zentral auch das "soziale Europa".

So sind diese Kräfte völlig außerstande, die Grundwidersprüche in Gesellschaft und Politik von heute zu erkennen. Es ist, u. a., unsere Aufgabe, diese herauszuarbeiten. Fundamental ist der Aufstand der Bevölkerung in der Peripherie. Doch dürfen wir auch die Widersprüche im eigenen Land nicht missachten. Dazu gehört neben vielem Anderen die nationale Orientie­rung der Massen gegenüber der globalen und globalistischen der Eliten und eines Großteils der Intellektuellen. Diese Orientierung auf eine nationale Sicherheitsgemeinschaft fällt groß­teils zusammen mit einer sozio-ökonomischen und mentalen Ausrichtung auf ein Wirtschafts-System, in welchem die Produktion noch eine größere Rolle spielt als im reinen Finanzsystem.

Wie immer die Auseinandersetzung in und um Griechenland auch hinführt: Nicht nur Griechenland, nicht nur die südliche Peripherie wird nach dieser Erfahrung nicht mehr dieselbe Gesellschaft sein. Da mögen die Eliten und ihre Kettenhunde in den Medien noch so hetzen: Nach Griechenland, nach der Krise des südlichen Europas, nach der Euro-Krise werden auch Österreich, Deutschland und die anderen Länder des Zentrums verändert sein

25. Mai 2015

 

Literatur

BVerfGE 123, 267 – Lissabon: [Deutsches] Bundesverfassungsgericht. Urteil 30. Juni 2009.

Bieling, H.-J. (2015), Volkssouveränität und europäische Integration: Zur Transformation eines ehemals komplementären Spannungsverhältnisses. In: Abbas, N., et al., Hg., Suprnationalität und Demokratie. Wiesbaden: Springer, 63 ˗ 85.

Clemenz, Gerhard E. (1949), Politische und ökonomische Aspekte des bneuen Europäischen Währungssystems. In: Wirtschaftspolitische Blätter 26, 52 – 67.

Hellmann, Rainer (1979), Das europäische Währungssystem. Baden-Baden: Nomos.

Naumann, Friedrich (1915), Mitteleuropa. Berlin: Georg Reimer.