Fortschritt in der Geschichte?

28.05.2015
Von A.F.Reiterer
Ein zentrales Konzept emanzipativer Politik, Griechenland und die EU

30. November 2013: In Düsseldorf treffen sich Linke aus der BRD, auch aus Österreich sind einige gekommen. Sie diskutieren über die Haltung der Linken zu Euro und EU. Am frühen Nachmittag gibt es ein Podium. Lucas Zeise, früherer Journalist und heute kommunistischer Analytiker der ökonomischen Entwicklung, aktuell auch Spitzen-Kandidat der DKP für die EP-Wahlen, wendet sich gegen den politischen Slogan: Zerschlagt die EU! "Ich bin nicht für die Auflösung der EU. Die EU ist ein historischer Fortschritt gegenüber dem Nationalstaat."

Er drückt damit weitgehend die Haltung der reformistischen Linken aus. Und diese Haltung ist eines der gröbsten Hindernisse für eine konsequent linke Haltung zur Globalisierung i. A. und zur EU i. B.

Sie stammt direkt aus dem Repertoire des sowjetorientierten Marxismus. Sie ist in der Debatte schwer zu bekämpfen. Denn tatsächlich geht sie auf Marx und vor allem auf Engels zurück. Die wiederum haben damit ein Erbe Hegels angetreten. Dieser Philosoph des preußischen Ex­pansionismus und allgemein einer Hypostasierung des Staats sah den Weltgeist graden Schritts und zielgerichtet durch die Geschichte wandern. "Alles, was wirklich ist, ist vernünf­tig", postulierte er in seinen Vorlesungen zur Rechts-Philosophie. Die Haltung ist also ganz grundsätzlich affirmativ.

Damit fragt es sich vorerst einmal: Was ist Fortschritt?

Die Sklaverei war ein Fortschritt gegenüber der Urgesellschaft. Ein schlechter Witz? Man kann dies nachlesen im Lehrbuch der DDR zur (alt-) griechischen Geschichte (Kreißig 1978, 13). In der eigenen Formulierung des Buchs: "Die Produktionssklaverei [bildete] zwar nur das 'Piedestal' dieser Klassenkämpfe, aber wurde schließlich in ihrem allmählichen quantitativen und qualitativen Wachstum zur Voraussetzung der antiken Demokratie überhaupt. ... Damit war auch die Sklaverei in einer bestimmten Entwicklungsepoche eine progressive Insti­tution." Und warum? Weil in Sklavenhaltergesellschaften die Produktivität gegenüber Samm­lern und Jägern oder auch gegen neolithischen Ackerbauern stieg und überdies ein größeres Skalen-Niveau erreicht war, eine neue Qualität der sozialen Organisa­tion (der Staat nämlich).

Reflektierte Menschen wie Zeise würden dies heute wohl kaum noch so formulieren. Aber die Haltung hat sich nicht so grundlegend geändert. Sie blieb technizistisch, eindimensional und staatsfetischistisch. Die furchtbaren menschlichen Zerstörungen, die enorme Verschwendung des menschlichen Potenzials, die riesigen Umwege im Lauf des Prozesses, welche dieser spontane Vorgang unter der Bedingung unkontrollierter Macht mit sich brachte – dies Alles zählt offenbar nicht gegen den Produktivitäts-Fortschritt. Und was tat der Stalinismus in seiner Politik der ursprünglichen "sozialistischen" Akkumulation Anderes?

Wenn wir irgendetwas im Rahmen einer linken Anthropologie ablehnen müssen, dann ist es diese Eindimensionalität, diese neurotische Fixierung auf einen angeblichen technischen und organisatorischen Fortschritt, die bereit ist dafür Alles zu opfern.

Aber die Geschichte ist dialektisch. Produktivität und Organisations-Niveau sind keine neben­sächlichen Faktoren. Sie ermöglichen erst ein Entfalten des menschlichen Bewusstseins und ein Herauswachsen aus der Natur, welche das biologische Gattungswesen homo (sapiens) aus der Linné'schen Systematik zum bewussten Menschen macht, der grundsätzlich selbst über seine Geschichte entscheiden will und kann. Nosce te ipsum(erkenne Dich selbst!) steht bei Linné anstelle einer anatomischen Beschreibung beim h. sapiens. Das aber vermögen wir erst, wenn wir über die Drohung des Verhungerns oder des Zugrundegehens in Epidemien hinweg sind.

Die Produktivität und ihr Wachsen ist also eine Bedingung, ein "constraint", aber nicht ein Ziel. Das "Reich der Freiheit" beginnt erst, wenn wir diese Beschränkung halbwegs gemeis­tert haben. Und dafür gibt es nicht eine einzige Möglichkeit, sondern viele. "There is no alternative" ist das Motto des Neoliberalismus. Es darf nie die Sicht emanzipatorischer Politik sein.

Die EU und die heutige Form der Globalisierung als "Fortschritt" zu sehen, heißt genau in jene Sackgasse zu gehen, die wir den Eliten und ihren Intellektuellen zum Hauptvorwurf machen.

Und wenn wir schon von Marx sprechen: Im Gegensatz zu Engels war er keineswegs ein­dimensional auf die Unvermeidbarkeit des Kapitalismus als Entwicklungsstadium überall fixiert, jedenfalls nicht in späteren Jahren. Es gibt da eine Episode, die fast schon berührend wirkt. Ist der westliche Entwicklungsweg in seiner Integralität einschließlich des Kapitalismus unvermeidbar?

Die russische Sozialdemokratie und ihr radikaler Flügel, die Bolschewiki, die „Mehrheit“ von 1903, entschieden sich resolut für den westlichen Entwicklungsweg. Es war kein Zufall, dass Lenins erstes größeres Werk (Werke Bd. 3) eine Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Russland war. Die Sozialrevolutionäre hingegen wurden zu „Volkstümlern“, zu „Narodni­ki“. Sie vertraten ein Programm, welches auf die Traditionen des Mütterchens Russland hin­hören wollte. Auch sie konnten eine Berufung auf Marx vorweisen. Dieser hatte sich 1881 in einem Brief an Vera Sassulitsch Gedanken über eine eigenständige Entwicklung in Russland gemacht. Vera Sassulitsch hatte ihn gefragt: Ist der Kapitalismus in Russland wirklich unver­meidlich? Müssen wir da durch? Wir haben doch in Russland eine Tradition der kollektiven Verantwortung, die Dorfgemeinschaft (Mir). Bestünde mit ihrem Gemeineigentums nicht die Möglichkeit, den kapitalistischen Entwicklungsweg abzukürzen oder zu überspringen (MEW 19, 242 – 243, 384 – 406). Marx antwortete ihr in einen kurzen Brief und meinte dazu: „Das Spezialstudium, das ich darüber getrieben und wofür ich mir Material aus Originalquellen beschafft habe, hat mich davon überzeugt, dass diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiederkehr Russlands ist“ (243). Wie ernst Marx diese Frage genommen hat, zeigt sich darin, dass er gleich vier teils umfangreiche Entwürfe für diese Antwort skizziert hat. Sie gelangten damals allerdings noch nicht an die Öffentlichkeit. Das belegt, wie unsicher er sich dieser Frage gegenüber fühlte. Marx argumentiert in dieser Problematik sozial-ökonomisch, nicht politisch. Doch nicht wenige Formulierungen in diesen Entwürfen könnten den Vertre­tern vieler Varianten eines indigenen Sozialismus als Stütze ihrer Argumentation dienen. Die Argumentation könnte ungewöhnlich erscheinen: Die russische Dorfgemeinde hat nicht zu­letzt Überlebenschancen, weil sie heute, gleichzeitig mit einer hochproduktiven und weit fort­geschrittenen westlichen Gesellschaft existiert. Sie braucht also nicht alle Schritte dieser Ent­wicklung nachmachen. Sie kann Technik, aber auch Organisationsformen importieren und sie im eigenen Sinn einsetzen: „Die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollekti­ven Arbeit“ (MEW 19, 405). Hier schreibt Marx gegen jeden historischen Determinismus an und für eine rationale menschliche Freiheit der Wahl seiner Entwicklungsalternativen.

Friedrich Engels, mit seiner Unbekümmertheit und seiner Tendenz zu einem europäischen Suprematismus, hat diese Entwürfe vermutlich nicht gekannt und jedenfalls wenig ernst genommen. Er hat eine ganz andere Haltung vertreten: Der Kapitalismus mit allen seinen auch politischen Folgen ist in Russland unvermeidbar. Die Dorfgemeinschaft wird ihn je­denfalls nicht aufhalten (vgl. 1894: Nachwort zu Soziales aus Russland – MEW 22, 421 – 435). „Die Initiative zu einer solchen etwaigen Umgestaltung der russischen Gemeinde [kann] nur ausgehen nicht von ihr selbst, sondern einzig von den industriellen Proletariern des Westens“ (a.a.O., 426f.). Engels war hier zweifellos realitätsnäher, aber gleichzeitig auch phantasieloser – und brutaler.

Was Marx ganz übergeht, sind wesentliche Fragen der politischen Organisation. Die Ge­sellschaftsspaltung hatte bereits dazu geführt, dass in Russland miteinander unverbundene Inseln der Gemeinschaftlichkeit von Makrostrukturen beherrscht waren, welche vom Welt­markt und vom politischen Weltsystem abhingen. Lässt sich damit die Option auf eine alternative Entwicklung aufrechterhalten? Lässt sich Abhängigkeit vermeiden, wenn man Technik und Institutionen einführt? Marx dürfte seine Zweifel gehabt haben, denn keinen seiner Entwürfe schickte er ab; er begnügte sich mit einem dürren, kurzen Antwortbrief.

Die Frage wird in der Dritten Welt seit Langem mit großer Intensität geführt, ob um die „asiatischen Werte“, die „arabische Nation“ oder auch um das „lateinamerikanische Entwick­lungsmodell“. Die Grundfrage ist stets: Hat unsere eigene, indigene Tradition keinen Wert? Müssen wir die westlichen Werte und Strukturen übernehmen, wenn wir sozial oder sogar physisch überleben wollen? Ist es vielleicht möglich, unsere eigenen, und wie es ambitioniert und gleichzeitig ein bisschen arrogant und illusionär heißt: dem Westen überlegene – russische, indische, afrikanische – Spiritualität mit dem technischen Fortschritt und der hohen Produktivität des Westens zu kombinieren?

Und jetzt gehen wir zurück zu den höchst aktuellen Entwicklungen. Ist es für Griechenland denn so ein Fortschritt, "europäisch" zu sein? Nicht nur in Griechenland, in allen Ländern Osteuropas ist das für die Bevölkerung das Hauptmotiv für die dort noch immer vorhandene Unterstützung des Euros und der EU: Wir wollen zu "Europa" gehören!

Noch einmal leiste ich mir den Luxus eines historischen Exkurses. Der griechische Unab­hängigkeitskrieg seit 1821 führte nach seinen ersten Erfolgen zu mehreren Verfassungen; vielmehr: zu Verfassungs-Entwürfen. Und die waren radikaldemokratisch orientiert, wenn auch viele Tendenzen einer engen Ausschließlichkeit nicht übersehen werden dürfen.

Aber damit konnten sie gegenüber "Europa" nicht punkten. Die Mächte der damaligen Zeit sahen sowieso schon mit großen Misstrauen auf den Südosten, wo die Klephten ("Diebe") und die Armatolen (Banditen zwischen Griechen und Osmanen) sich anmaßten, einen eigenen Staat zu gründen. Unter den vielen Leichen in Habsburgs Keller finden wir auch, zwei Jahrzehnte zuvor, den aufgeklärten Nationalisten Rigas Pheraios-Velestinlis. Seine Bild-Plakette können wir heute am unteren Ende der Rotenturm-Straße bewundern, wo er seine Schriften drucken ließ. Die habsburgischen Behörden lieferten ihn und einige Gefährten 1799 an die Osmanen aus. Sie wussten genau: Das bedeutet den sicheren Tod für die Gruppe (vgl. u. a.: Woodhouse 1995). Aber auch die Briten und Franzosen waren nicht auf  ein eigenständiges Hellas neugierig.

So setzten sie zuerst einen venezianischen Grafen griechischer Abstammung als Präsidenten, in Wirklichkeit Diktator, hin. Joannis Kapodistrias verscherzte es sich schnell mit allen aktiven Kapitänen. Er führte einfach eine absolute persönliche Herrschaft ein. Er hat dies nicht lange überlebt. Einer jener Offiziere, die er tödlich beleidigt hatte, erschoss ihn im September 1831. An den Verhältnissen änderte dies freilich wenig. Die Briten setzten darauf eine andere Figur von Außen hin, einen unbedarften bayrischen Prinzen. Und der brachte eine Art von Troika mit, die Wawarokratie, die Bayern-Herrschaft, die man aber auch als Barba­renherrschaft interpretieren könnte.

Auf die Vorhaltungen des Makryannis, eines der wichtigen Offiziere im Unabhängigkeits­kampf: "Warum hast Du die Gesetze und die Nationalversammlung aufgehoben?" hatte Kapodistrias nur geantwortet: "Europa will sie nicht" (zit. bei Gyömörey 1970, 82; auch: Aridas 1982). Das kommt uns äußerst bekannt vor. Demokratie? Selbstbestimmung? Europa will sie nicht!

Schließlich verjagten die Griechen auch die Bayern-Kamarilla. Doch wieder muss man wiederholen: Die Verhältnisse änderten sich wenig. Der "fremde Faktor" (to xeno paragonta) wurde zur konstante der griechischen Politik und Entwicklung. Sogar die Parteien kennzeichneten sich durch die jeweilige Abhängigkeit von bestimmten Mächten – die französische, die britische, die russische Partei. Wird es weiter bleiben.

 

 Rotenturmstraße 21

 

Fortschritt ist ein linkes Konzept. Achten wir wohl darauf, dass wir weder einen Fetisch daraus machen, noch jede Umdeutung in eine neoliberale Perversion mitmachen. Wir kennen dies ja mittlerweile: Heute heißt "Reform" Demokratie und Sozial-Abbau. Und wenn wir das Vokabel "Solidarität" hören, so verstehen wir schon: Die Eliten fordern Unterstützung für ihre Gemeinheiten und Verbrechen ein.

Auf einige Vokabel können wir verzichten. Die "Reform" und "Europa" sollen sie behalten. Aber um andere müssen wir kämpfen. "Fortschritt" und "Solidarität" gehören dazu, auch unter den weit gestreuten Strömungen der Linken.

29. Mai 2015

 

Literatur

Aridas, Karin, unter Mitarbeit von Giorgos Aridas (1982), Freiheit oder Tod. Bilder des Panagiotis Zografos über den Kampf der Griechen gegen die türkische Fremdherrschaft 1821–1830. Mit Auszügen aus den Memoiren des Generals Makrygiannis. Leipzig-Weimar: Kiepenheuer.

Gyömörey, Lorenz (1970), Griechenland. Ein europäischer Fall. Wien: Zsolnay.

Kreißig, Heinz, u. a. (1978), Griechische Geschichte bis 146 v. u. Z. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften.

Woodhaouse, C. M. (1995), Rhigas Velestinlis. The Proto-martyr of the Greek revolution. Limne, Evia: Denise Harvey.