Kleine Anmerkung zu einer großen Versammlung in der autonomen Region Katalonien.

28.12.2015
Von Aug und Ohr, Gegeninformationsinitiative
Der vergangene Sonntag sollte ein entscheidender Tag für Katalonien und im besonderen für die Strategie der radikal antikapitalistischen und sezessionistischen CUP (Candidatura d´Unitat Popular, "Kandidatur der Volkseinheit") werden, die es nicht aufgibt, das erstarrte, aber übermächtige Machtkonglomerat Junts pel Sí ("Gemeinsam für ein Ja") zu konditionieren, bzw. deren Hauptkräfte, die rechte Convergència und die ERC (linksreformerische Republikaner) an der kurzen Leine zu halten.

Ohne die höchst umfangreiche Diskussion der letzten Tage hier zusammenfassen zu können: es betrifft dies unter anderem den pla de choc (spanisch plan de choque, Sozialen Notplan), also eine radikal sozialpolitische Perspektive, die hier programmatisch umgesetzt wurde, einen Set von die äußerste Not lindernden Sofortmaßnahmen, den die CUP als harte Verhandlungsmasse eingebracht hat, und ich möchte bloß erwähnen, daß die sonntägliche Abstimmung in Sabadell nordwestlich von Barcelona (die aus Platzgründen nicht, wie ursprünglich vorgehabt, in Girona stattfand) effektiv eine absolute Stimmengleichheit zwischen mit Konditionen verbundener Zustimmung zum Amtsantritt von Artur Mas (dem mit Korruption und Repression assoziierten Kandidaten für das katalanische Parlament von der reaktionären CDC, Convergència de Catalunya) und denen, die ihm eine Abfuhr erteilen wollen, gebracht hat. Eine definitive und majoritäre Ablehnung der Unterstützung Mas´ kam nicht zustande.

Nach der gut organisierten, erstmals breit sondierenden Massenabstimmung im nördlicher gelegenen Manresa vor zwei Wochen, wo die Mehrheit für eine Ablehnung war, stellt nun diese seit einiger Zeit anberaumte und vorbereitete Abstimmung politisch-verfahrensmäßig eine Erweiterung, Intensivierung und Verkomplizierung der Entscheidungsfindung der Bewegungspartei dar, was aber für die Basisdemokratizität der CUP spricht – welche den Kern ihrer Politik ausmacht. Daran könnten sich manche hiesigen Organisationen ein Beispiel nehmen. Insofern könnte die Basiskultur der CUP ein Modell für die verfaulte Linke hierzulande bilden.

Hier ist besonders zu bemerken, daß erstens einmal nur Personen abstimmen durften, die als CUP-Aktivisten registriert wurden, es konnten keine großsprecherischen Ichs ohne organisatorische Verantwortung und bewiesenes und langfristiges Engagement oder aus anderen politischen Bereichen Eingetrudelte und sich als Sympathisanten Maskierende aufspielen und Einfluß nehmen (500 „infiltrados“ wurden abgelehnt!), zweitens aber auch solche, die nicht CUP-Mitglieder sind, aber in Organisationen tätig sind, die ihre politische und historische Affinität zur CUP unter Beweis stellen können, und hiermit wird das dumme Prinzip der bloßen Parteienidentität durchbrochen, der Betriebspatriotismus – ich brauche nicht zu erwähnen, welche hiesige Gruppierung diese dumpfe Kadaveridentität mit der Partei am starrsten durchexerziert …

Damit wird dem grundlegenden Konzept unidad popular, "Volkseinheit", Rechnung getragen, das nicht auf eine bloße Reminiszenz im Sinne der Formation Allendes reduzierbar ist, sondern auf das Postulat, Organisationsaxiom von breiter Versammlung, Sammlung und Bündelung der Volkskräfte, also auf eine CUP über die CUP hinaus. - Anders kann man überhaupt heute keine innovatorische Politik machen.

Warum der – meiner Meinung nach – échec dieser Abstimmung? Weil die puren independentistas, die vordringlich für Unabhängigkeit kämpfenden cupaires (die, denen EU und NATO egal sind) zu ungeduldig geworden sind. Unbedingte Ablehnung der NATO wie der Europäischen Union steht aber im Programm der CUP, die CUP ist eine Anti-NATO-Partei (wie die Izquierda Unida, Vereinigte Linke) und eine Anti-EU-Partei, und nicht nur eine Partei der Abtrennung vom Gesamtstaat.
Aber leider sagen viele: Hauptsache Unabhängigkeit!

Wird dem großen liberal-bis-rechten Unabhängigkeitsblock zugestimmt, dann könnte man beschwingt die Unabhängigkeit gleich in großem Stil einführen, mit einer großen Masse, die sich aus dem ja bedeutenden Elektorat der ERC speist und die man natürlich weiter bekneten muß. Dann sind wir wir und haben keine Sorgen mehr.

Aber damit macht man es sich zu einfach. Würde eine solche "unabhängige" Republik unter der Führung des gewieften Taktikers Mas nicht zu einem bürgerlichen und gleichgerichteten Modellstaat führen, in dem alle Politik eines radikal sozialpolitischen pla de choc, mit dem den Verarmten Strom, Wohnung, Mindesteinkommen garantiert wird, wieder erstickt wird und untergeht? Wo im Taumel der Unabhängigkeit der Anspruch des auf der Straße Liegenden keine Rolle mehr spielt – da wir ja nun alle unabhängige Katalanen sind? - - - Die in erster Linie an sozialen Veränderungen interessierten CUP-AktivistInnen haben bei dieser Abstimmung nicht genügend gepunktet.

Die jetzige Massenabstimmung war jedoch von der organisierenden Partei von Anfang an nicht als endgültiges, bindendes Votum konzipiert worden - eigentlich recht klug, denn so kann man die Gegenseite noch ein wenig an der Nase herumführen und gleichzeitig ungünstige Schnellschüsse, premature Konsequenzen vermeiden. Die endgültige Entscheidung wird auf den 2. Jänner verschoben, im Rahmen eines consell polític (politischen Ausschusses), an diesem Prozeß werden andere organisierte Instanzen der Partei beteiligt sein.

Aus der Not macht der derzeitige Sprecher Antonio Baños eine Tugend und fordert Junts pel Sí bei der an die Massenveranstaltung anschließenden Pressekonferenz mit sehr ernster Miene auf, „sich zu bewegen“ und einen neuen Kandidaten vorzuschlagen – ein Vorschlag, der nicht neu ist. Ein neuer Kandidat, da die Pro-Mas-Option bei der Abstimmung ja nicht die Mehrheit erreicht habe - was auch nicht ganz unrichtig ist.

Eine Vielzahl von unterschiedlichsten, aus der radikalen Vergangenheit der letzten Jahrzehnte hervorgegangenen parteiinternen Gruppierungen hatten bereits vor und während der Abstimmung in der Sporthalle von Sabadell eine Reihe von (einander zum Teil scharf widersprechenden) Statements und Grundsatztexten verbreitet, Zeichen für eine radikale interne Diversität, und es soll nicht verschwiegen werden, daß es auf der Konferenz zu einer offenen, harten, emotionalen Konfrontation zwischen einem „independència“ rufenden Block und einem lauthals „anticapitalistes“ rufenden gekommen ist – womit ja die zwei Grundtendenzen bezeichnet sind, die ohne Zweifel in der Zukunft noch weiter auseinanderdriften werden.

Die katalysatorische Funktion der radikal linken CUP hat für ganz Katalonien Bedeutung, und eine Radikalisierung der politischen Kräfte Kataloniens hat für ganz Spanien Bedeutung, und damit werden die Gegenkräfte, die sich überall gegen den mörderischen EU-Imperialismus richten, ein wenig gestärkt. Die CUP befindet sich in einer radikalen Koexistenz mit derjenigen - nicht-sezessionistischen! - Bewegung, genannt En Comú-Podem, die in Katalonien bei den Parlamentswahlen einen überragenden Wahlerfolg erzielt hat und die durch die genuine Politikerin, Feministin, Antikapitalistin und soziale Aktivistin Ada Colau repräsentiert wird, die jetzige Bürgermeisterin von Barcelona. Weite Bereiche der Basis von En Comú-Podem haben aber auch eine enge emotionale Bindung zur CUP, zumindest eine sehr hohe Akzeptanz erwiesen. Mit seinen zwei lebendigen Radikalismen ist Katalonien das Herz Spaniens.