Prozessverlauf gegen die Überlebenden des Massakers am 5. November 2001 in Kücükarmutlu-Istanbul

16.05.2002

von TAYAD

Die ersten Informationen über das am 13. Mai begonnenen Gerichtsverfahren gegen die Festgenommenen Hungerstreikenden, UnterstützerInnen sowie die BetreuerInnen und AnwohnerInnen des Armenviertels Kücükarmutlu:

Hintergrundinformationen:
Das Stadtviertel Kücükarmutlu wird seit 1987 von Menschen bewohnt, die an erster Stelle aus politischen und wirtschaftlichen Gründen ihre Dörfer verlassen mussten, um die Existenz ihrer Familien zu sichern. In Kücükarmutlu wurden damals die einfachen einstöckigen Häuser, die Strassen und Stromleitungen in kollektiver Arbeit mit Hilfe der revolutionären Linken aufgebaut. Dass diese Kollektivität und der Zusammenhalt der Anwohner dem Staat nicht recht war, ist gewiss. Deswegen hat die Regierung immer wieder Versuche unternommen, das Armenviertel abzureißen und dieGrundstücke an die Reichen zu verkaufen. Gegen die Abrissversuche gab es großen Widerstand, so dass ein Anwohner dabei von der Polizei erschossen wurde. Der Staat war so rigoros, dass sie sogar bei einem Übergriff auf das Viertel ein sieben jähriges Schulkind mit dem Panzer überrollte. Alle Menschen in diesem Stadtteil leben in armen Verhältnissen, sind stark politisch engagiert und wehren sich gegen die staatlichen Repressionen.

Es ist auch kein Wunder, dass die AnwohnerInnen seit Anfang des letzten Jahres sich dem Hungerstreik der revolutionären Gefangenen angeschlossen, sogenannte Widerstandshäuser errichtet haben, in denen die Forderungen der Todesfastenden durch Solidaritätshungerstreiks unterstützt wurden. Auch die bedingt entlassenen todesfastenden Gefangenen hatten ab Juni 2001 ihren Widerstandskampf hier fortgeführt. Da die Regierung den Widerstand der Todesfastenden in den Gefängnissen sowie draußen nicht beenden konnte, hat sie versucht, es zu isolieren.

Das Armenviertel stand von nun an unter militärischer Besatzung mit Panzern, Waffen und unzähligen Soldaten, die an den Ein- und Ausgängen Kontrollpunkte errichtet und Anwohner sowie Besucher terrorisiert haben.
Bis zum Tag 5. November 2001 gab es ständig Übergriffe gegen die Hungerstreikende und Besucher, auch bei den Beerdigungszeremonien, bei denen Dutzende Angehörige verletzt wurden. Am 5. November 2001 startete der Polizeipräsident Istanbul die Militäroperation, vier Menschen, eine Todesfastende, eine Betreuerin sowie ein Ex-Gefangener und Besucher wurden erschossen und vergast. Bei der zweiten Erstürmung am 13. November wurden alle Hungerstreikende festgenommen. Seitdem ist das Stadtviertel unter militärischer Besatzung, Häuser werden enteignet, Spielplätze werden abgerissen und in Panzerparkplätze umfunktioniert.

WER IST OPFER, WER IST TÄTER?!

Am 13. 05. 2002 war die erste Verhandlung des gegen die 18 Personen eingeleiteten Prozesses. 8 dieser 18 Angeklagten befinden sich seit dem in Untersuchungshaft. Zu der Verhandlung überführte man jedoch nur 4 weibliche Gefangene, die seit dem in dem Gefängnis Frauen und Kindergefängnis Bakirköy sich befinden. Männliche Gefangene wurden zur Prozessverhandlung nicht gebracht. Grund für das Nicht -Erscheinen dieser Angeklagten in Untersuchungshaft wurde angegeben, man habe angeblich ihnen die Vorladungen nicht zustellen können. GAMZE TURAN beschrieb ausführlich gegenüber dem Gericht, was sie bei diesem Übergriff erlebt habe, dass die Polizei gedroht habe, sie alle zu verbrennen und berichtete weiter über die eingesetzten Gasbomben und chemischen Substanzen. Auch die restlichen weiblichen Angeklagten EYLEM GÖKTAS, GÜZIN TOLGA, SELMA KUBAT berichteten von der gleichen Vorgehensweise der Polizei.

Die Angeklagten werden von 3 Rechtsanwälten/innen vertreten, die dem CHD (Verein zeitgemäßer Juristen/innen ), IHD ( Menschenrechtsverein ) und HHB (Rechtsbüro des Volkes ) angehören. Schriftliche Verteidigungen der Angeklagten wurden ebenso beim Gericht eingereicht.

Das Gericht hörte sich anschließend die Ausführungen der Spezialteam`s an.

Die nächste Verhandlung wurde auf den 28. August 2002 vertagt.

Ca. 80 Familienangehörige und Angehörige des Vereins TAYAD (Solidaritätsverein der Familienangehörigen von Gefangenen und Verurteilten ) sowie Anwohner aus dem Viertel Armutlu nahmen daran teil.

REPRESSALIEN GEGEN JURISTEN/INNEN

4 Tage vor dem Prozess von Kücükarmutlu, nämlich am 9. Mai des Jahres war der Prozess gegen die 27 AnwälteInnen von den angeklagten Gefangenen, die wie in Kücükarmutlu das Massaker des Staates in Ulucanlar-Ankara überlebt haben. Bei diesem Massaker wurden 10 Gefangene von militärischen Kräften umgebracht. Laut Anklageschrift sollen die überlebenden Gefangene ihre Mitgefangenen zu Tode geführt haben, in dem sie sich gegen den Staatseingriff in die Gefängnisse gewehrt bzw. Eingänge verbarrikadiert haben. Ein weiterer Anklagepunkt war die Beschädigung des Staateigentums. Den angeklagten Juristen wird nun im Zuge dieser Verleumdungskampagne Missbrauch der Verteidigerpflicht vorgeworfen, da einige von ihnen den
tätlichen Übergriff während einer Verhandlung durch Staatskräfte auf die Angeklagten protestierten. Angeklagte Juristen werden nun von der Vorsitzenden und 35 ihrer KollegenInnen der Anwaltskammer vertreten. Der Prozess wurde von einer internationalen Beobachter Delegation aus den
Ländern Philippinen, England, Belgien und Holland mitverfolgt.

REPPRESSALIEN GEGEN MEDIEN

Am gleichen Tag, 9. Mai 2002 wurde auch der Prozess beim DGM (Staatssicherheitsgericht) Istanbul gegen die Kolumnistin der renommierten Tageszeitung Radikal PERIHAN Magden geführt. Die Kolumnistin kritisierte in ihrem Artikel vom 01. August 2001 das Vorgehen der Militärs von 19.-22. Dezember 2000. Ihr wird vorgeworfen, in dem Artikel den Justizminister "Sami Türk zur Zielscheibe gemacht" zu haben. In ihrer Einlassung erklärte die Kolumnisten; " In dem Artikel ist das Drama eines Menschen wiedergegeben..... Wenn ein 20jähriges Mädchen bei der Operation verbrannt ist, muss der Schriftsteller dies schreiben." Weiterhin hieß es
dort, die Militäroperationen in den Gefängnissen sind außerhalb jeglicher Grundlage von " Logik, Wissenschaft und Politik" Der Prozess wurde für die Vorbereitung zur Erwiderung des Staatsanwaltes vertagt.

14 Personen waren es, die am 9. April 2002 auf den Bänken des Staatssicherheitsgerichtes Istanbul nebeneinander saßen und auf die Identitätsfeststellung als Angeklagte durch den Vorsitzenden Richter warteten. Ihre Beschäftigung bezeichneten sie als Schriftsteller bis hin zum Künstler, Theaterspieler, Fotograph, Übersetzer etc. Es handelte sich bei diesem Prozess um eine interessante Version von Staatswillkür; gegen den Photographenkünstler Mehmet Özer wurde zuvor ein Strafverfahren eingeleitet, da er sich an einer Aktivität gegen die F Typ Gefängnis beteiligt hatte. Der Staatsanwalt warf ihm vor, damit eine bewaffnete illegale Organisation unterstützt zu haben. Daraufhin beschlossen mehrere Künstler bzw. Schriftsteller, Intellektuelle sich selbst anzuzeigen, da sie genauso der Meinung gegen die F Typ Gefängnisse sind und auch an solchen Aktivitäten teilgenommen haben. Als der Prozess am 9 April 2002 begann, begriff schnell das Gericht, in welcher Lage es sich befindet und ließ durch den zuständigen Staatsanwalt verkünden;" ( die Angeklagten )
.... bekundeten schließlich die Meinung gegen die F Typ Gefängnisse, die sie aus humanitären Gründen für richtig halten. Die von ihnen erfasste Presseerklärung enthält keinerlei Straftatbestände. Es handelt sich bei dieser Aktion der Angeklagten um eine demokratische Reaktion. Sie sind in demokratischen Ländern jederzeit möglich."

SELBST VOR DEN HINTERBLIEBENEN DER TODESFASTENDEN MACHT DER TÜRKISCHE STAAT KEINEN HALT

Gegen den Vater von den Gefallenen des Todesfastens Zehra und Canan Kulaksiz wurde beim Staatssicherheitsgericht Istanbul ein Strafverfahren wegen Propagandatätigkeit durch Publikation und Unterstützung und Beihilfe für eine illegale Organisation eingeleitet. Der Vater AHMET Kulaksiz eröffentlichte ein Buch mit dem Titel " Das Leben zweier Schwestern; CANAN und ZEHRA " In dem Buch wird der lange Weg des Kampfes im odesfastenswiderstand ausführlich anhand der Beispiele von Canan und Zehra erzählt. Am 6 Mai 2002 fand der erste Prozesstag dieses Verfahrens statt. Der nächste Verhandlungstag ist der 6. Juni 2002...


Wichtige Mitteilung!!!

Wir sind immer noch bemüht, Beobachterdelegationen in die Türkei zu den Prozessen zu organisieren. Es ist, wie Ihr seht, von enormer Wichtigkeit, wenn wir auf diese Weise Öffentlichkeit schaffen können. Daher unsere erneute Bitte an Euch, teilt uns mit, wenn Ihr an einer solchen Delegation teilnehmen könnt!

Die nächste Delegation wird für den Prozess am 28. August 2002 gegen die Überlebende von Armutlu-Massaker sein.