Dossier zum Vorwurf des "linken Antisemitismus"

01.07.2003
Seit einigen Jahren, insbesondere seit dem Beginn der Zweiten Intifada im September 2000, treten verstärkt politische Strömungen zutage, die Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzen. Lange Zeit blieb diese Tendenz auf die Gruppierungen der Antinationalen bzw. Antideutschen beschränkt, die vehement, dafür aber nicht unbedingt glaubwürdig Israels Rolle als antifaschistisches Bollwerk und folglich die antisemitische Natur jedweder Kritik an Israel postulierten.

Ihrer antinationalen Ausrichtung entsprechend wurde der palästinensische Kampf gegen die israelische Besatzung als "völkischer Befreiungskampf" verurteilt, der nicht gegen den Kapitalismus gerichtet sei und daher keinen "emanzipatorischen" Wert habe. Im Gegenteil, das Aufstreben islamischer Kräfte in Palästina sowie auf der ganzen Welt beweise die antisemitische und reaktionäre Natur dieser Befreiungsbewegungen, gegen die es den humanistischen Universalismus des Westens zu verteidigen gelte – und sei es mit Bomben auf Kabul und Bagdad. "So weit so gut", dachte man, "einige Spinner hat es, zumal in deutschsprachigen Landen, immer gegeben." Doch was lange Zeit auf einige wenige kaum relevante Gruppen beschränkt geblieben war, nahm im Laufe der Zeit durch seine Kompatibilität mit der offiziellen Diktion der deutschen und österreichischen jüdischen Vertretungsorganisationen (oder jenen, die den alleinigen Anspruch darauf erheben), eine gewisse gesellschaftliche Breite an. Tatsächlich hatten gerade in den deutschsprachigen Ländern – im Unterschied etwa zu Großbritannien – die Organe der jüdischen Gemeinden die Haltung angenommen, die offiziellen israelischen Positionen ohne Abstriche zu übernehmen und zu vertreten. Es wurde versucht das, was von vielen jüdischen Menschen weltweit abgelehnt wird, festzuschreiben, nämlich, dass das Judentum als religiöse und kulturelle Gemeinschaft bzw. Volk und der israelische Staat als administrative und politische Struktur ein und die selbe Sache seien; dass folglich jede Kritik an Israel eine Kritik am Judentum und somit Antisemitismus sei; und dass schließlich Menschen, die gegen Antisemitismus eingestellt seien, die israelische
Politik in ihrer Gesamtheit bedingungslos verteidigen müssten.

 

Mit der Positionierung des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW) zugunsten dieser Postulierungen nimmt die Angelegenheit nun gesellschaftlich relevante Dimensionen an. Denn das DÖW ist nicht eine der bedeutungslosen antinationalen Sekten, sondern eine quasi-staatliche Institution. Es scheint zwar wahrscheinlich, dass die antinationalen Positionen auch innerhalb des DÖW nicht unumstritten sind, doch kann es als signifikant angesehen werden, dass eine Aussendung wie "Die Antiimperialistische Koordination (AIK) - Antisemitismus im linken Gewand" genehmigt wurde. Die Bedeutung dieses Schritts ist nicht zu unterschätzen. Damit beurteilt eine offizielle und gesellschaftlich anerkannte Institution erstmals Solidaritätsaktivitäten mit den Palästinensern als antisemitisch. Es liegt auf der Hand, dass es hierbei nicht um die kritisierte Organisation "Antiimperialistische Koordination" geht. Es geht vielmehr darum, gesellschaftlich durchzusetzen was bisher auf Randgruppen beschränkt war: Kritik an Israel ist per definitionem antisemitisch. Eine Auseinandersetzung mit den Inhalten dieser Kritik soll so von vornherein verhindert werden. Die bedingungslose Identifikation mit Israel soll zur conditio sine qua non jedweden antifaschistischen und linken Engagements gemacht werden.

Wir halten es für unumgänglich dieser besorgniserregenden Entwicklung entgegenzutreten und den oben genannten Sichtweisen folgendes entgegenzuhalten: Antisemitismus ist eine Form des Rassismus. Er ist grundsätzlich und bedingungslos abzulehnen. Kritik an Israel ist Kritik an einem Staat, die sich auf Grundlage von dessen konkreter Politik bzw. dessen Charakter bildet. Das eine hat mit dem anderen begrifflich und konzeptionell nichts zu tun. Einsatz für die Rechte der palästinensischen Bevölkerung bzw. Kritik an der israelischen Politik steht für die meisten, die sie betreiben, in der Tradition antirassistischen und linken Engagements. Für sie alle besteht kein Zweifel, dass Menschen aus dieser Tradition sich dort, wo es um militärische Besetzung und Unterdrückung geht, für die Rechte der Besetzten und Unterdrückten einzusetzen haben. Nur die Aufhebung dieser Besetzung und Unterdrückung kann die Grundlage für eine gleichberechtigte Existenz aller im Nahen Osten lebenden Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit und/oder Nationalität sein. Diejenigen, die Israel tatsächlich aus antisemitischen Beweggründen kritisieren – und die gibt es – haben mit dieser grundsätzlich antirassistischen Haltung der Palästina- Solidaritätsbewegung nichts gemein. Man kann sie sehr leicht von dieser unterscheiden.

Wir alle sind also aufgerufen, der Mär vom linken Antisemitismus ein für alle Mal den Boden zu entziehen. Unser konkreter Beitrag soll es zunächst sein, Klarheit zu schaffen, bezüglich der Vorwürfe gegen die AIK.

Antiimperialistische Koordination
Juli 2003

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