Tulkarem

17.12.2004

von Hanan No-Shi

Ich bin gerade aus Tulkarem zurückgekommen, wo ich eineinhalb Tage verbracht habe. Das ISM-regional-commitee dort hat ein Programm organisiert für uns, mit welchem es uns möglich ist, die Gegend um die Stadt und sie selbst ein wenig kennenzulernen. Tatsächlich bin ich jetzt voller Eindrücke. Bald werde ich noch einmal hinfahren, wir konnten gar nicht alle Ausflüge unternehmen, da die Zeit zu kurz war. ( Morgen geht es nämlich endgültig nach Assira zur Olivenernte!)

Tulkarem ist eine kleine Stadt, welche fast unmittelbar an der grünen Grenze liegt, nun natürlich unmittelbar von der Mauer betroffen ist. Die Stadt selbst leidet ähnlich wie Nablus unter kleineren und grösseren Militärinvasionen, vor knapp 2 Jahren sind bei einem Grossangriff aus der Luft auf die örtliche Polizeistation, das benachbarte Gefängnis, die Unterkünfte der palästinensischen Soldaten und Polizisten, die Stadtverwaltung und Parteiräume der Fatah sowie eine angrenzende Moschee zerstört worden. Die Detonationen haben auch die umliegenden Häuser schwer beschädigt, manche der Steinbrocken flogen bis zu 500 Meter weit. Vor 2 Stunden noch bin ich in all diesen Trümmerhaufen umhergelaufen, habe fotografiert und das entsetzliche Geschehen für mich rekonstruiert.

Den Vormittag des heutigen Tages haben wir nicht in Tulkarem selbst verbracht. Nach einer ruhigen, komfortablen Nacht im Hause einer der im Commitee mitarbeitenden Frauen sind wir am Morgen aufgebrochen und haben zuerst eine Schule in einem benachbarten Dorf besichtigt. Die Klassen bestehen zum Teil aus 46 Schülern, bis zur dritten Klasse Jungs und Mädels zusammen, danach getrennt. Mit uns gekommen waren 2 Frauen vom örtlichen Gesundheitsministerium, welche Anti-Läuse-Mittel an die Klassen verteilt haben, nicht ohne die nötigen Erläuterungen zu geben. Ich fand die Kinder erstaunlich diszipliniert, ja geradezu hungrig, etwas zu lernen. Die meisten von ihnen kommen aus dem Dorf, einige müssen jeden Morgen einen 3 Kilometer-Fussweg in Kauf nehmen, auf dem sie täglich an Soldaten vorbei müssen, oftmals lange von ihnen aufgehalten werden, meistens zu spät zur Schule kommen. Diese kleinen Mädchen wirkten müde und in ihren Gesichtern sah man eine Reife, die nicht auf schöne Erlebnisse zurückzuführen ist.

Die Einrichtung war recht spärlich, obwohl das Schulgebäude neu ist. Es fehlt zum Beispiel ein Kopierer und Computer. Die Eltern müssen Schulgeld bezahlen, was für viele von ihnen nur unter grossen Mühen möglich ist. Seit Beginn der Intifada nämlich sind viele der Männer arbeitslos. Hatten sie vorher einen einigermassen bezahlten Job in Israel, so ist ihnen diese Quelle seit ca. 4 Jahren verwehrt.

Von diesem Dorf - Kufr Labad - fuhren wir weiter zu einem anderen, noch viel kleineren Dorf, dessen Häuser nicht wirklich beisammen, sondern über eine weite Gegend verstreut stehen. Zu diesem Dorf - Alhissab - führt keine ordentliche Strasse, des öfteren schon haben die Israelis den Bau verweigert und noch dazu auf dem bestehenden Schotterweg immer wieder roadblocks errichtet. Das Dorf hat keine Elektrizität, das Legen oder Spannen der Leitungen wird von den Israelis nicht gestattet. Jedes Haus hilft sich mit einem privaten Generator. Die Bewohner sind sehr arm, leben von der Hand in den Mund. Der Gipfel ist aber die Siedlung, die nur einen Steinwurf entfernt von der grössten Häuseransammlung munter vor sich hin wächst. Vor dreizehn Jahren gab es dort "nur" die Militärbasis, die Bewohner des Dorfes konnten einigermassen damit leben. Dann aber begann der Bau der schnuckeligen kleinen hübschen Häuser, der feinen Strassen mit ihren Blumenkübeln auf den Verkehrsinseln; wie eine Schnecke wächst dieses Ungeheuer von innen nach aussen, der sie umgebende Zaun muss immer weiter nach aussen verlagert werden, so langsam frisst die Siedlung die Ländereien und Grundstücke der Dorfbewohner. Wir stehen oberhalb von ihr, blicken auf das ruhige Treiben, das scheinheilige hübsche Gesicht dieser Heimstatt. Dann erzählen uns unsere Begleiter, das dies gar keine Heimstatt ist, die Siedlung ist so gut wie unbewohnt! Die leeren Häuser warten alle noch auf ihre Bewohner, gebaut wird trotzdem immer weiter. Dies ist in ganz vielen Siedlungen in Palästina gängige Praxis. Nichts desto trotz werden die Dorfbewohner fast täglich übelst von Soldaten belästigt, diese legen Feuer, stören die Nachtruhe, verschrecken die Kinder auf deren Weg zur Schule. Diese ist überhaupt das traurigste Exemplar einer Bildungseinrichtung, welches ich je gesehen habe. Drei kleine Räume, in denen es auch keine Elekrizität gibt. Es ist düster innen drin und kalt. In jedem Klassenraum werden zwei Klassenstufen gemeinsam unterrichtet, ca. 10 SchülerInnen sitzen und frieren in einem Raum. Die Tür nach draussen muss offen bleiben, damit ein wenig Licht hereinkommt. Die Einrichtung ist spärlichst, die Lehrer sind seit Jahren nicht fortgebildet worden, das Dorf wird so gut wie nie von jemandem besucht, da die Konfrontationen mit der Armee zu zahlreich und zu abschreckend sind. Wann immer die Schule die palästinensische Flagge auf dem Dach des Gebäudes hisst, kommen Siedler oder Soldaten, schiessen sie entweder kaputt oder reissen sie nieder. Der Widerstandsgeist der Schule reichte für 14 Flaggen, dann reichte das Geld nicht mehr...

Das tägliche Schickanieren der Soldaten zielt klar in eine Richtung: Machen wir den Dorfbewohnern das Leben so schwer wie möglich, verlassen sie hoffentlich bald ihre Häuser. Dann bekommt die Siedlung endlich den Platz, den sie will...

Ich bewundere unendlich den Widerstandswillen der Leute hier. Was die aushalten und unter welchen Bedingungen sie ihre Kinder gross ziehen, ist sagenhaft. Sie sagen, ihnen hilft ihr Glaube. Er gibt ihnen die Kraft zur Resistenz und die Hoffnung auf Gerechtigkeit.

Ich möchte nicht vergessen zu erzählen, dass die Dorfbewohner selbst aus der Luft, die sie täglich atmen, den giftigen Atem der Besatzung riechen: es gibt hier in Sichtweite eine Chemiefabrik auf israelischem Land, die nur dann arbeitet, wenn der Wind so weht, dass er die giftigen Gase in Richtung des Dorfes trägt. Und ihr Wasser ist übrigens von einer Deponie verseucht, auf welcher die Israelis ihre medizinischen Abfälle entsorgen, bzw. eben nicht entsorgen. Diese ist in unmittelbarer Nähe der Häuser platziert. Die Siedlung hat ihre eigenen Leitungen.

Gestern verbrachten wir den Nachmittag mit einem Farmer. Seine Ländereien sind durch den Bau des Zaunes in zwei Teile geteilt worden. Ein Teil liegt nun im "Westjordanland", der andere in dem Niemandsland zwischen der grünen Grenze und dem Zaun. Ich rede von Zaun, weil dieser Ausdruck mit seinen 4 Buchstaben der kürzeste ist, der das Gebilde beschreibt: der Zaun ist eine hundert Meter breite Schneise, welche sich aus Strassen, Schotterwegen, Elektrozäunen, Stacheldrahtrollen, Gräben, Erdwällen, Kamera-gespickten Masten etc. zusammensetzt. Und sich wie eine SCHLANGE durch die Landschaft zieht. Wie doppelt lächerlich ist das Gejammer der Israelis, wieviel Geld ihre Supersicherheitsmassnahme verschlingt, wenn man bedenkt, dass sie sie wesentlich billiger hätten haben können, wenn sie sie einfach schnurgerade entlang der grünen Grenze hätten verlaufen lassen. Dieser Farmer nun hat in vielerlei Hinsichgt unglaublich unter den Folgen des Zaun-Mauerbaus zu leiden. Auf den Ländereien, welche nach wie vor im Westjordanland liegen, darf er nichts hinbauen, keine Gebäude, kein Gewächshaus, gar nichts, welches die Sicht der Soldaten, die entlang des Zaunes patroullieren auf einer Breite von 300 Metern verwehren könnte. Was ihm jedoch mit den Feldern und Gewächshaeusern und Hainen auf der anderen Seite widerfährt ist noch viel schlimmer. Um zu diesen Ländereien zu gelangen, müssen er und all seine ca. 50 Arbeiter durch ein Tor in dem Zaun. Dieses Tor hat eine Nummer und jeder der Arbeiter braucht von den israelischen Behörden alle 1-3 Monate eine Genehmigung, dieses Tor passieren zu dürfen. Diese Genehmigungen zu bekommen ist aufwendig und umständlich und meistens der Willkür irgendwelcher Halbkinder ausgesetzt. Das Tor nun wiederrum wird offiziell, so steht es auf einem Schild, drei Mal am Tag für eine Stunde geöffnet. Tatsache ist, das es 2 mal am Tag für einige Minuten offen ist. Mal um halb 6, mal um 7 oder um 8 oder um 9 Uhr morgens...Die Arbeiter stehen sich also fast täglich die Füsse in den Bauch, bis irgendwann der Jeep vorfährt. Im besten Fall vergehen dann nur einige Minuten, bis das Tor geöffnet und die Arbeiter einzeln durchgelassen und abgezählt werden. Meistens rauchen aber die Soldaten erst einmal einige Zigaretten, frühstücken im Jeep oder lesen die Zeitung. Auch bei Regen, versteht sich. Irgendwann bequemen sie sich dann, öffnen das Tor, lassen die gezählten und gecheckten Männer durch. Wer 2 Minuten später kommt, hat Pech gehabt. War am Vortag das Tor vielleicht um 8 offen, öffnen die Soldaten es am nächsten Tag um 6.30. Wer dann noch nicht da ist, kommt nicht mehr durch.

Am Nachmittag dann die gleiche üble erniedrigende Prozedur. Früh, vor 14 Uhr, sammeln sich die Arbeiter - ihr Arbeitstag ist also recht kurz -, offiziell wird das Tor um 14 Uhr geöffnet. Doch oft stehen die Arbeiter dann bis um 17 Uhr. Die Frustration will ich jetzt nicht beschreiben, wieviel sinnvolle Arbeit hätte in dieser Zeit oftmals erledigt werden können! Wird dann das Tor geöffnet, wird erst einmal abgezählt. Fehlt jemand, müssen alle warten. Ist aus irgendeinem Grund jemand dazu gestossen, kann es sein, dass alle Arbeiter ihre Genehmigung verlieren. Durchgerissen vor ihren Augen zum Beispiel. Wiederfährt einem der Arbeiter beim Arbeiten etwas Schlimmes, gibt es einen Unfall oder ähnliches, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als bis zum Nachmittag zu warten, bis sich die Soldaten gnädig herablassen, das Tor zu öffnen. Vergisst einer ein Werkzeug oder etwas anderes mitzubringen, hat er Pech gehabt. Es muss kollektiv gewartet werden. Genauso muss der warten, der seine Arbeit vielleicht schon um 11 Uhr beendet hat. Das Mächteungleichgewicht in dieser täglich sich wiederholenden widerlichen Prozedur ist so greifbar, so demütigend, so frustrierend. Mich wundert ja schon lange nicht mehr, dass aus der palästinensischen Gesellschaft Selbstmordattentäter oder ähnliches hervorgehen. Aber nach den Erlebnissen der letzten 2 Tage überrascht mich gar nichts mehr.

Übrigens braucht der Farmer auch noch eine Genehmigung, um seine Olivenbäume abzuernten, die jenseits des Zaunes liegen. Doch viele darf er gar nicht bearbeiten, da sie zu nah am Zaun stehen...