"Nachdem wir die Besatzer hinausgeworfen haben, wird das irakische Volk seine eigenen Wahlen machen

30.01.2005

Interview mit Scheich Jawad al-Khalisi


Scheich Jawad al-Khalisi ist einer der führenden schiitischen Würdenträger in Bagdad, Vorstand der "Nationalen Konferenz für einen Unhabhängigen und Freien Irak", sowie Sprecher einer Koalition von rund fünfzig Parteien, die zum Wahlboykott aufrufen.

jW: Warum nehmen Sie am Weltsozialforum teil?

Vor dem Krieg waren wir in Opposition zum Regime Saddam Husseins. Doch gleichzeitig stellten wir uns immer ganz entschieden gegen die Präsenz von amerikanischen Soldaten in unserem Land. Als nun die Mobilisierungen gegen den bevorstehenden Krieg begannen, sahen wir die Notwendigkeit mit der Bewegung Kontakt aufzunehmen. Als Iraker waren wir natürlich besonders an der Entwicklung der Bewegung interessiert, beteiligten uns und wurden Teil des internationalen Netzwerkes gegen den Krieg. Der Krieg führte zur heutigen Besatzung und die Bewegung muss weitergehen um der Besatzung ein Ende zu setzen. Darum rufen wir alle dazu auf am internationalen Aktionstag zum zweiten Jahrestag des Kriegs, am 19.-20.3., teilzunehmen. Auch wir werden im Irak Massenproteste durchführen.

jW: Gerade eben führen die Besatzer im Irak Wahlen durch. Die Parteienkoalition, der Sie vorstehen, hat zum Boykott aufgerufen. Warum?

Das sind nicht die Wahlen, die sich das irakische Volk wünscht. Es sind die Wahlen Bushs und seiner Gesellen. Es handelt sich um jene Demokratie amerikanischen Zuschnitts, mit Hilfe derer Bush seine Aggression rechtfertigt. Darum haben wir unser Volk dazu aufgerufen die Wahlfarce zu boykottieren und natürlich auch die Institutionen, denen sie Legitimität geben sollen.

jW: Wird die Mehrheit ihre Stimme nicht abgeben, einschließlich des schiitischen Bevölkerungsteils?

Selbst die Firma, die von der Besatzungsbehörde mit der Durchführung der Wahlen im Ausland beauftragt wurde, gab kürzlich zu, dass sich erst 22% der Wahlberechtigten registrieren ließen. In Wirklichkeit sind es noch weniger. Dabei muss man bedenken, dass der Druck im Ausland viel größer ist, dass heißt im Irak noch weniger zu den Urnen gehen werden.

Die Boykottkampagne umfasst die übergroße Mehrheit unseres Volkes, natürlich auch die Schiiten. Im Ausland ist der Anteil der Schiiten überproportional. Die extrem geringe Registrierungsquote kann also als Indikator für die Schiiten im Land selbst dienen.

jW: Und die Kurden?

Auch die Kurden wollen Wahlen unter Fremdherrschaft nicht. Doch sie leben unter der Diktatur zweier mit den USA verbündeter Parteien, die genauso schlimm sind wie Saddam war. Darum können sie ihre Opposition nicht äußern.

jW: Wie steht Ihre Koalition zum Widerstand einschließlich dem bewaffneten?

Der bewaffnete Widerstand ist etwas völlig normales und auch nach internationalem Recht legitim. Oder war etwa die französische Rà©sistance gegen die Nazi-Besatzung nicht legitim? Jedes Volk hat das Recht gegen Fremdherrschaft bewaffnet aufzustehen.

jW: Könnte die Boykottkampagne zur politischen Vereinigung der Widerstandskräfte führen?

Das ist unser Ziel. Alle politischen Parteien, die gegen die Besatzung sind, müssen sich vereinigen, denn das ist der Willen des irakischen Volkes.

jW: Einschließlich der Baathisten?

Ja, alle von Muqtada al-Sadr bis hin zu den Baathisten, allerdings ohne Saddam. Denn Saddam ist für die Diktatur verantwortlich, die indirekt zur US-Besatzung führte.

jW: Viele Befreiungskriege wurden mit dem Ziel einer demokratischen Konstituante geführt. Was halten Sie von der Idee?

Die Idee ist gut und auch für uns im Irak wichtig. Denn wir sind für Wahlen, doch nicht unter der Besatzung. Zuerst müssen die Okkupanten hinausgeworfen werden, dann wird das irakische Volk seine eigenen Wahlen durchführen.

jW: Was wissen Sie über die Situation Abduljabbar al-Kubaysis, der sich für eine politische Front des Widerstands einsetzte, von der US-Armee entführt wurde und bis heute verschwunden bleibt? Gibt es im Irak Solidarität mit ihm?

Wir haben gegenüber den Medien Protest eingelegt und die verschiedenen politischen Parteien zum Handeln aufgefordert. Aber es geht nicht nur um Abduljabbar, sondern auch um Zehntausende andere politische Gefangenen, unter ihnen auch viele wichtige Persönlichkeiten, beispielsweise der religiöse kurdische Würdenträger, Scheich Ali Babir oder ein wichtiger Führer der Dawa, Khadum al-Khalisi (der nicht mit mir verwandt ist). Er opponierte gegen das Saddam-Regime, so wie er heute gegen die Besatzung ist.

Willi Langthaler
Porto Alegre, Brasilien