Ein Soldat auf zehn Zivilisten

19.08.2004

Interview mit Shazia Mir aus Kaschmir

Shazia Mir kommt aus Kaschmir und lebt derzeit im Exil in London, wo sie sich aktiv an der Bewegung der "Kashmir-Centers" beteiligt, deren Ziel der Aufbau von Zentren vor allem in Europa ist, die mit allen beteiligten Gruppen in Verbindung stehen und die Problematik und Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir nach außen vermitteln wollen. Zu diesem Zweck nahm sie als Referentin am Antiimperialistischen Lager 2004 in Assisi teil. Das vorliegende Interview ist eines der Ergebnisse des Sommerlagers und auch des Prozesses der weltweiten Zusammenführung der verschiedensten Völker und Bewegungen, die sich in ihrem antiimperialistischen Kampf um die Frage des Selbstbestimmungsrechtes gruppieren. Dieses Interview ist aber auch sehr wichtig, weil es sich um eines der strittigen Themen der westlichen Linken handelt, die sich – wenn sie ihn überhaupt beachtet – nicht entschließen kann, im Kaschmir-Konflikt Seite zu beziehen und die kaschmirische Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Es war eines der Ziele des Antiimperialistischen Lagers, in diese Diskussion einzugreifen und die Bedeutung des Kampfes der Kaschmiri ebenso zu betonen wie die Notwendigkeit, ihn im Rahmen der antiimperialistischen Solidarität zu unterstützen und die politisch bewussten Kräfte für ihn zu sensibilisieren.

MV: Kaschmir ist eine Region, die in den Medien nur sehr wenig und nur stark vereinfacht über den indisch-pakistanischen Konflikt wahrgenommen wird. Was können Sie uns über Ihr Land erzählen?

SM: Jammu [südlicher Teil des Bundesstaates] und Kaschmir hat eine hohe strategische Bedeutung wegen der Grenzen nach Indien, Pakistan, China und seiner Wasservorräte. Deshalb haben auch alle diese Länder versucht, Kaschmir zu kontrollieren. Was aber zu wenig bekannt ist und oft auch nicht berichtet wird, ist die Tatsache, dass Kaschmir ein selbständiges Land, mit eigener Kultur, eigenen Traditionen und einer eigenen Geschichte ist und z.B. einer jahrhundertelangen Unabhängigkeit in politischen Fragen. 80 Prozent der Bevölkerung Kaschmirs sind muslimisch, gehören jedoch einer besonderen Richtung des Islam, der Sufi-Lehre, an, die im 14. Jh. von Persien zu uns kam und sich grundsätzlich von anderen Formen des Islam unterscheidet. Der sufistische Islam ermöglichte auch das friedliche Zusammenleben mit den anderen religiösen Gruppen in Kaschmir über Jahrhunderte, den 20 Prozent der Hindus, Buddhisten und Pandits. Auch letztere [indigene hinduistische Bevölkerung] praktizieren übrigens eine vom indischen Hinduismus verschiedene Religion. Ich sage das auch deshalb, weil die indische Regierung durch die erzwungene Umsiedelung gerade der Pandits nach Indien versucht hat, den Eindruck zu erzeugen, dass die Hindus in Kaschmir generell Verfolgungen ausgesetzt wären und flüchten müssten. So sollte sowohl die indische militärische Präsenz gerechtfertigt als auch der Kaschmir-Konflikt in einen religiösen Kontext gesetzt werden. Der Kaschmir-Konflikt ist aber politisch, nicht religiös motiviert.

MV: Sie treten für das Selbstbestimmungsrecht Kaschmirs ein?

SM: Ja. Bereits 1948, nur ein Jahr nach der Teilung Kaschmirs, gab es eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, in der neben Waffenstillstandsverhandlungen eine Volksabstimmung in Kaschmir selbst gefordert wurde. Trotz dieser und Dutzenden weiterer Resolutionen tut Indien alles, um diesen Selbstbestimmungsentscheid des Volkes in Kaschmir zu verhindern. In der indischen Konstitution wird Kaschmir als integraler Bestandteil Indiens bezeichnet. Das ist eine Lüge mit propagandistischer Funktion. Indien hat z.B. versucht, auf dieser konstitutionellen Grundlage Wahlen durchzuführen, um sich den Anschein einer Legitimität zu geben, doch abgesehen von kollaborierenden Hindu-Gruppen haben die Bevölkerung Kaschmirs – und das meint nicht nur den muslimischen Teil - und die "Allparteienfreiheitskonferenz" es abgelehnt, sich an diesem Manöver zu beteiligen. Denn dadurch wurde Kaschmir seine eigene nationale Identität abgesprochen, die selbst der indische Ministerpräsident Nehru noch anerkennen musste.

MV: Wie ist die momentane Situation in Kaschmir?

SM: Furchtbar. Das indische Militär kontrolliert alles und auf 10 Zivilisten kommt ein Soldat. Die totale Militarisierung hat das Land, seine Wirtschaft, sein dörfliches Leben und seine Infrastruktur zerstört. Öffentliches Leben ist unmöglich, Leib und Leben sind ständig bedroht. Es gibt keine Schulbildung und sehr viele Flüchtlinge. In Pakistan-Kaschmir sind die Hänge bedeckt mit ihren Zelten. Indien hat über 700.000 militärische und paramilitärische Kräfte in Kaschmir eingesetzt, auf deren Konto immer wieder Gräueltaten gehen. Über das Land ist eine völlige Informationssperre verhängt, es dringen praktisch keine Informationen nach draußen, es sei denn durch Schmuggel. NGO´s wie z.B. amnesty international werden nur unter indischer Kontrolle ins Land gelassen. Die Kaschmiri verfügen wegen der restriktiven Visabestimmungen über keinerlei Bewegungsfreiheit.

MV: Wie beurteilen Sie die Entwicklung der letzten Zeit zwischen Indien und Pakistan sowie die Rolle der USA?

SM: Die indische Nationalitätenpolitik ist eine der permanenten Menschenrechtsverletzung nach innen, und nach außen der Anschein einer Normalisierung. Und dem Westen und besonders den USA ist es egal, was hinter dieser Fassade passiert, auch wenn es in den letzten Jahren zu einer Sensibilisierung in der Öffentlichkeit gekommen ist. Als sich die Lage zwischen Indien und Pakistan zuspitzte, kam es zu Verhandlungen auf Druck der USA, in den Medien konnte man plötzlich indisch-pakistanische Kriquetspiele sehen und Gespräche am Runden Tisch. Wo aber waren bei diesen Verhandlungen die Kaschmiri? Sie wurden bewusst ausgeschlossen.
Das Pakistan Musharrafs ist der traditionelle Bündnispartner der USA, sie üben viel Druck auf ihn aus, besonders seit dem 11.September, gegen den Islamismus, gegen Al Kaida und so weiter vorzugehen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Pakistan ein islamisches Land ist, dessen Bevölkerung die Kaschmirfrage mit großem Interesse verfolgt. Zahlreiche fundamentalistische Gruppen versuchen, nach Kaschmir zu kommen und dort zu operieren. Auf Druck der USA hat Pakistan nun in Kaschmir militärische Operationen durchgeführt und Zivilisten getötet, die den USA dann als islamistische Terroristen präsentiert wurden. Auch Musharrafs Verhalten während des Afghanistankrieges hat zu Unmut bei den kaschmirischen Muslimen geführt.
Die USA sehen, dass Pakistan ein schwacher Bündnispartner ist mit vielen Problemen. Indien hingegen, das eine Politik der unbedingten Unterdrückung aller Selbstbestimmungstendenzen betreibt, viele Ethnien verfolgt und dezimiert – denken Sie an die Hindutwa. Indien hat es in den letzten Jahren geschafft, sich als "größte Demokratie der Welt" zu präsentieren. Es hat sich dem Krieg gegen den Islam verschrieben und hat enge Beziehungen mit Israel. Das interessiert auch die USA. Deshalb drücken sie beide Augen in Bezug auf Kaschmir zu und verschwenden keinen Gedanken an die Kaschmiri. Wir haben aber ohnehin nie irgendein Vertrauen in die USA gesetzt.

MV: Kommt es zu einer Fundamentalisierung bei den kaschmirischen Muslimen?

SM: Die kaschmirischen Muslime sind traditionell tolerant. Es kam nie zu Gewalt gegenüber den buddhistischen und hinduistischen Minderheiten. In Indien aber werden sie als terroristische und fundamentalistische Hinduschlächter dargestellt und mit dieser Rechtfertigung kann die indische Armee in Kaschmir tun, was sie will. Seit dem 11. September gibt es noch schlimmere Repressionsgesetze, die Armee kann jedes Haus beliebig duchsuchen oder zerstören, ganze Dörfer wurden niedergemacht. Obwohl die indische Repression mit ihren Tausenden Opfern bestimmt zu einer Radikalisierung der kaschmirischen Muslime und besonders der Jugend beigetragen hat, so gibt es doch wichtige Differenzen, denn fundamentalistische und sufistische Sicht auf den Islam kommen nicht gut zurecht. In den Siebzigern hat der sufistische Islam viele aufgeschlossene und sogar marxistische Intellektuelle hervorgebracht. Ein anderes Beispiel ist auch die Stellung der Frauen, die in Kaschmir traditionell im akademischen und Bildungsbereich tätig sind, und die Männer beispielsweise im Kunsthandwerk.

MV: Erzählen Sie uns etwas über die Lösungsansätze innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung?

SM: Indien hat in den letzten 20 Jahren 90.000 Menschen, überwiegend junge Männer, getötet, 10.000 befinden sich in Kaschmir ohne jeden Prozess im Gefängnis. Wir sind eine Gesellschaft der Frauen und Kinder geworden. Ab den 90er Jahren erlebte die Unabhängigkeitsbewegung einen erneuten Aufschwung. Sie besteht aus sehr verschiedenen Gruppen, die verschiedenen Lösungen zugeneigt sind. Die "Muslimische Konferenz" ist aufgrund der Zwei-Nationen-Theorie eher für einen Anschluss an Pakistan, verschiedene Gruppen der Hindu und Pandits für einen Verbleib bei Indien unter Wahrung eines weitgefassten Autonomiestatus und die JKLF [Jammu and Kashmir Liberation Front] kämpft für die völlige Unabhängigkeit unter der Losung "Weder bei Indien noch bei Pakistan!". Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch, die Grenzen sind nicht durch religiöse Zugehörigkeit gezogen, denn nicht alle Muslime wollen nach Pakistan und viele Hindus sprechen sich gegen einen Verbleib bei Indien aus. Denn obwohl wir besonders unter dem indischen Imperialismus zu leiden haben, so ist den Kaschmiri doch auch klar, dass wir von Pakistan verschieden sind, dass Pakistan ebenso seine eigenen Interessen verfolgt und vor die unseren stellt. Einig sind wir Kaschmiri aber alle darin, dass die Entscheidung über die Zukunft Kaschmirs nur eine Entscheidung des kaschmirischen Volkes sein kann.

MV: Was ist das Ziel der "Kashmir-Centers"?

SM:Es ist unser Ziel, der Weltöffentlichkeit zu zeigen, welche ungeheuerlichen Verbrechen die indische Armee in Kaschmir begeht, indem wir alle kaschmirischen Intellektuellen und Gruppen auf einer Plattform zusammenbringen und über die "Kaschmir-Zentren" das Problem bekannt machen. Neben einer Besserung der Menschenrechtslage in Kaschmir wollen wir auch einen Volksentscheid herbeiführen.

MV: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

SM: Ich wünsche mir, dass die Weltöffentlichkeit wahrnimmt, dass es beim Kaschmir-Konflikt nicht nur um Geostrategie geht, um einen indisch-pakistanischen Konflikt, sondern um den Unabhängigkeitskampf und das Überleben eines Volkes, das seine eigene und unabhängige Identität hat und das unteilbare Recht, seine Zukunft auf der Basis des Selbstbestimmungsrechtes zu entscheiden. Ich wünsche mir, dass die Welt begreift, was mit dem kaschmirischen Volk geschieht und welche Verbrechen Indien an ihm begeht.

Das Interview führte Martin Vinomonte für die bruchlinien