Arafat lässt auf Palästinenser schießen

08.02.2002

Am Montag, den 8. Oktober, gingen tausende Aktivisten und Sympathisanten von Hamas, an ihrer Spitze Studenten der Islamischen Universität von Gaza mit Bildern von Bin Laden, der in ihren Augen das Unglaubliche gewagt hatte, nämlich das Zentrum der US-Macht militärisch anzugreifen, mit Tafeln mit der Aufschrift "Hamas beglückwünscht Bin Laden zu seiner Tat", mit den grünen Fahnen des Islam und den gelben der Hizbollah auf die Straße.(1)
Die Kundgebung geschah ungeachtet eines Demonstrationsverbots, das die PNA erlassen hatte: Arafat hatte seiner Polizei schon im vornherein den Auftrag erteilt, sämtliche Sympathiekundgebungen für Bin Laden und gegen die Vereinigten Staaten gerichtete Demonstrationen aufzulösen (1, 2). Auch Fernsehinterviews über den US-Überfall auf Afghanistan waren von der palästinensischen Behörde verboten worden (3).
Die PNA hatte sich im Vorfeld bloß von Bin Laden distanziert, hatte aber zu dem Zeitpunkt - Arafat befand sich gerade in der US-Musterkolonie Ägypten - die Luftangriffe auf Afghanistan mit keinem Wort verurteilt (1). Die Stellungnahme Bin Ladens für die Palästinenser in den besetzten Gebieten aber hatte bei vielen Palästinensern wie eine Bombe eingeschlagen. Scharf waren die Reaktionen der Hamas. Die Bombardierung Afghanistans durch die Vereinigten Staaten sei "ein terroristischer Akt" (1) erklärten Hassan Yussef, Abdel-Aziz Rantisi und Ismail Hanyeh (4). Rantisi: "Das ist ein Krieg gegen den Islam und wir sind auf der Seite unserer afghanischen Brüder." (5)
Und sogar ein Aktivist von Al Fatah erklärte gegenüber Reuters: "Wir können die Waffen nicht niederlegen und die Intifada beenden, wenn dieser Mann (Bin Laden, A. d. R.) sagt, dass wir für Palästina kämpfen müssen." (1)
Es dürften mindestens fünftausend Demonstranten gewesen sein (1), die am 8. Oktober um etwa 11.30 Uhr vormittags vom Campus der Islamischen Universität bis zum Palestinian Legislative Council (6) zogen (7). Die Polizei - wohlgemerkt die palästinensische (8) - setzte sofort Schlagstöcke und Tränengas ein (1, 7). Einige der Demonstranten antworteten darauf mit Steinwürfen. Darauf schoss die Polizei in Mannshöhe auf die Körper der Menschen (1). Der 19-jährige Yousef Muhammad Aqel wurde in die Brust getroffen und starb, das zweite Todesopfer der Nationalbehörde war der 13-jährige Abdullah Al Ifranji, der einen Kopfschuss abbekam. Ebenso am Kopf getroffen wurde der 19-jährige Haitham Abu Shamaleh (7). Er starb im Krankenhaus. 40 weitere Personen wurden verletzt (1).
Der Polizei zufolge hätten einige Demonstranten zuerst geschossen, erst darauf hätte die Polizei das Feuer erwidert. Andere Zeugen berichten jedoch, dass tatsächlich einige Vermummte auf die Polizei geschossen hätten, aber erst nachdem die beiden Demonstranten getötet worden waren. (1)
Es waren dies die ersten Toten "unter Palästinensern" seit dem Beginn der Intifada.
Die Einschätzung der Behörden durch die Bevölkerung fand am Nachmittag desselben Tages ihren Ausdruck: Das Büro der Palästinensischen Fluglinie wurde in Brand gesetzt, ebenso zwei (palästinensische) Polizeiautos. Dann wurden Polizeiposten im Flüchtlingslager Shati und in der Nähe des Shifa-Spitals angegriffen (2).
Arafat erließ aus Kairo einen scharfen Befehl gegen sämtliche Versuche weiteren Widerstands: Alle Demonstrationen, "die dazu missbraucht werden können, den nationalen Interessen zu schaden", seien verboten. Und weiter heißt es: "Wer den mit Israel vereinbarten Waffenstillstand verletzt, ist sofort zu verhaften." (1)
Arafat hat nicht das erste Mal Leute aus dem palästinensischen Widerstand ermorden lassen. Im Jahre 1994 ließ er seine Polizei auf die Teilnehmer einer Demonstration schießen, die sich gegen die eben unterzeichneten Verträge mit Israel gerichtet hatte. Man weiß inzwischen, was diese Verträge wert sind. Dabei fanden 12 Menschen den Tod. Es seien "Feinde der Revolution" (1) gewesen, hetzte am Tag darauf Arafat.
Die Universitäten (die Islamische Universität und die benachbarte Al-Azhar-Universität) sowie die Schulen von Gaza werden geschlossen, wie während der ersten Intifada, als sie von den israelischen Besatzern geschlossen worden waren, von denen sich Arafat kaum mehr unterscheidet. Ein enger Mitarbeiter des faschistischen Bluthundes Sharon, Raanan Gissin, beglückwünscht die palästinensische Polizei zum Erfolg ihres Vorgehens gegen die Demonstranten in Gaza (11).
Ausländischen Journalisten wird Montag und Dienstag der Zutritt in den Gazastreifen verwehrt. Am Mittwoch wird die Zugangssperre wieder aufgehoben, die beiden Universitäten bleiben aber geschlossen (10). Am Tag darauf finden im Gazastreifen (im Flüchtlingslager Nusseirat und in der Stadt Deir el-Balah) und im Westjordanland (auf den Unis von Nablus und Betlehem) weitere Kundgebungen für Afghanistan und gegen Arafat statt. Wie in Ägypten, so werden auch in den Universitätsstädten im besetzten Palästina die Studenten gezwungen, mit ihren Demonstrationen innerhalb des Campus zu bleiben. Der Militärgouvernuer von Nablus, Mohammed Al-Alul, teilt der Universitätsleitung mit, er werde keinesfalls Szenen wie die am Vortag dulden (11).
"Eine Periode der Ruhe ist jetzt im Interesse des palästinensischen Volkes." (11), meint Arafat. Es beginnen Verhaftungen durch die PNA. Vier leitende Vertreter des Islamischen Jihad werden verhaftet, ebenso ein Mitglied des bewaffneten Arms der Hamas. Weitere Hamas-Aktivisten werden in Nablus verhaftet. Mehrere Verhaftungen von Hamas- und Jihad-Aktivisten in einer Reihe von palästinensischen Städten sollten folgen (12). Am 9. Oktober ist in einem Gefängnis von Nablus ein Palästinenser unter nicht geklärten Umständen gestorben. Ihm wurde Kollaboration mit Israel zur Last gelegt. Einer palästinensischen NGO zufolge sei Imad el-Bezreh zu Tode gefoltert worden. Es ist der 27. Todesfall in einem palästinensischen Gefängnis, bei dem der Gefangene auf abrupte Weise und unter nicht geklärten Umständen zu Tode kam (11).
Am Montag, den 15. Oktober, fand unter der Teilnahme von Tausenden das Begräbnis des 19-jährigen Haitham Abu Shalameh im Flüchtlingslager Khan Younis im südlichen Gazastreifen statt. Das Begräbnis wurde zu einer eindeutigen Demonstration gegen die PNA. "Wir sagen allen verkommenen und korrupten Mitgliedern der Palästinensischen Nationalbehörde, ihr seid bald dran und werdet bestraft werden!" riefen die Leute mit geballten Fäusten (13).
Die Familie des Ermordeten gehört zu den größten Clans im Gaza-Streifen. Arafat hatte dieser Familie, nachdem er den Jungen ermordet hat, auch noch sein Beileid ausgedrückt. Die Familie hat die Beileidsbekundung zurückgewiesen: Zuerst sei der Polizeichef für die Morde zur Verantwortung zu ziehen. Der Gipfel der Provokation: Die israelischen Faschisten entblödeten sich nicht, aus einer etwa 500 Meter vom Friedhof entfernten Siedlungen auf die Trauernden zu schießen, von denen drei verletzt wurden. (13)
So wie die Palästinenser von zwei Seiten in die Zange genommen werden: von den zionistischen Kolonisten, "Siedler" genannt, und von der palästinensischen Polizei, ebenso gehen auch die Medien beider staatlicher Gebilde gleichermaßen mit Zensur vor: Wenn Arafat Interviews über Afghanistan im palästinensischen Fernsehen verbietet, so haben die Israelis kurze Zeit darauf Interviews mit Vertretern radikaler palästinensischer Gruppen im israelischen Rundfunk und Fernsehen verboten. "Wir werden Terroristen und Leuten, die gegen Israel sind oder gegen Israel kämpfen, keine Plattform bieten", meinte Raanan Cohen, der für Rundfunk und Fernsehen verantwortliche Minister. Die Zensur-Direktiven betreffen konkret leitende Exponenten von Hamas und Islamischem Jihad, sowie die PFLP. Auffallend, dass dies auch die Gegner Arafats sind. Arafats Gegner sind auch die der Zionisten.
Carmela Yisraeli, die Sprecherin der Rundfunk- und Fernsehbehörde, geht aber noch weiter und meint, jegliche gegen Israel gerichtete Position sei zu zensurieren: "Das betrifft einen jeden, der sich in unserem Rundfunk im Zusammenhang mit dem palästinensischen Widerstand gegen Israel äußert." Eine totalitärere Formel ist nicht leicht zu finden. Frau Yisraeli zufolge seien auch Vertreter offizieller Institutionen davon betroffen, etwa die humane und moderate Hanan Ashrawi, die nunmehrige Sprecherin der Arabischen Liga (14).
Der Chefredakteur von Al Istiqlal, Ala al-Saftawi, wurde am 11. Oktober von der palästinensischen Polizei verhaftet, da er die Polizeirepression gegen die Demonstration der islamischen Studenten am 8. Oktober kritisiert hatte. Der Leiter von Free Voice, einer Organisa-tion zur Unterstützung palästinensischer Journalisten, Mahir al-Alami, fordert in einem Schreiben an Arafat die Freilassung des Journalisten. Das berichtet die Stimme Israels in ihrem arabischen Programm. (15)
Aug und Ohr Gegeninformationsinitiative (redaktionell gekürzt)
Anmerkungen:
(1) Michele Giorgio: L´ANP spara, tre morti ("Die PNA schießt, drei Menschen sterben"), in: manifesto, 9. 10. 2001
(2) Lee Hockstader/Washington Post, in: The Plain Dealer: Bin Laden supports clash with police in Gaza "Bin Laden ist das Thema der Unruhen im Gazastreifen"), 9. 10. 2001
(3) Giancarlo Lannutti: Gaza, Hamas inneggia a Bin Laden ("Im Gazastreifen jubelt Hamas Bin Laden zu"), Liberazione, 9. 10. 2001

(4) Scheich Hassan Yussef: führender Exponent der Hamas, Hardliner der jüngeren Generation, großer Einfluss auf die Jugend; Dr. Abdel Aziz Rantisi: Mitbegründer der Hamas im Jahre 1987, zusammen mit dem 64-jährigen Scheich Ahmed Yassin, von 1988 bis 1990 in Haft, 1992 von den Israelis mit 400 anderen Hamas- und Jihad-Islami-Aktivisten an eine völlig isolierte Stelle im Südlibanon zwangsdeportiert. Von 1992 bis 1997 erneut in Haft. Sprecher des politischen Flügels im Gaza-Streifen; Ismail Hanyeh ist ein weiterer Sprecher der Hamas.
(5) Sangue a Gaza, morti: 2 manifestanti di Hamas, La Repubblica, 8. 10. 2001
(6) Volksvertretung, Parlament
(7) LAW: LAW condemns lethal force used by police against demonstrators in Gaza ("LAW verurteilt den tödlichen Einsatz von Waffen gegen Demonstranten in Gaza durch die Polizei"), 10. 10. 2001 (http://www.lawsociety.org)
(8) Diese "palästinensische" Polizei scheint eine ähnliche Funktion einzunehmen wie die Ertzaintza, die pseudobaskische, von der Madrider Zentralregierung im Rahmen des CIA-Sonderprogramm ZEN (Zona Especial Norte, "Sonderzone Nord") eingesetzte Aufstandsbekämpfungspolizei.
(9) Gassan al Khatib: Der bekannteste palästinensische Analyst, Direktor des Jerusalem Media Center. In der spanischen und italienischen Presse sehr präsent.
(10) Jamie Tarabya/AP: Palestinians angry over Arafats police force, 11.10. 2001
(11) Aldo Baquis: Arafat chiude l´università  di Gaza ("Arafat schließt die Universität von Gaza"), La Stampa, 10. 10. 2001 Die letzte bürgerliche Hardlinerzeitung eines Nachbarlandes bietet am einem Tag mehr Informationen als der Standard und ähnliche Informationsverknappungsorgane Österreichs in einem Monat.
(12) Das berichtet das hebräischsprachige Radio Israels, zitiert in Arabic News, 15. 10. 2001
(13) Wafa Amr: Thousand march against Palestinian Authority, Reuters, 15. 10. 2001
(14) Suzanne Goldenberg: Israel silences radical Palestinian voices ("Israel bringt radikale palästinensische Stimmen zum Schweigen"), The Guardian, 23. 10. 2001
(15) Radio Israel, zit. nach Voice of Israel, in Arabic, 14. 10. 2001, in: Palestine Times, 15. 10. 2001, http://www.palestinetimes.com