Der Wille des Volkes auf der Terrorliste

10.02.2006

Zum Wahlsieg der Hamas

Der überwältigende Sieg der Hamas bei den
palästinensischen Parlamentswahlen kam, in dieser Deutlichkeit, für viele
überraschend. Er ist es indes nicht, wenn man bedenkt, dass das nach mehr als
fünf Jahren zermürbenden Widerstandskampfes ermüdete palästinensische Volk kaum
eine eindringlichere Form wählen konnte, um seinem Wunsch nach Fortsetzung der
Intifada Ausdruck zu verleihen.

Die Wahlergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: 74 von 132
Parlamentssitzen oder 56,06% gingen an Hamas, 45 Sitze oder 34,09% an Fatah.
Das zeigt zunächst, dass die historisch führende Kraft der palästinensischen
Befreiungsbewegung, die Fatah, ihr Prestige endgültig eingebüßt hat. Grund
dafür ist jedoch nicht so sehr die zweifellos existierende Korruption in ihren
Reihen, sondern hat vielmehr damit zu tun, dass die Fatah im Bewusstsein der
Bevölkerung mit den Oslo-Verträgen, der Road-Map und im Allgemeinen der
Ausverkaufspolitik des palästinensischen Befreiungskampfes verbunden ist. Das
palästinensische Volk hat schlicht den Glauben daran verloren, dass eine
Politik dieser Art jemals zu nationaler Souveränität in einem lebensfähigen
Staat führen wird.

Demgegenüber steht die Hamas, unabhängig von ihrem religiösen
Profil, für die Fortsetzung des palästinensischen Widerstandskampfes und für
die Aufrechterhaltung der historischen Forderungen der nationalen
Befreiungsbewegung. Das allein ist der Grund für ihren überwältigenden Sieg. Es
ging dem palästinensischen Volk darum, der Welt zu zeigen, dass es nicht bereit
ist, die Intifada zu begraben, auch wenn es kaum noch physische Kraft haben
mag, den bewaffneten Kampf weiterzuführen. Der Wahlsieg der Hamas ist als
politischer Akt der Bevölkerung zu deuten, die damit ihrem Wunsch nach
Fortsetzung des Aufstandes deutlich Ausdruck verleiht.

Der dritte Punkt ist das schlechte Abschneiden der Linken.
Insgesamt kamen die Unabhängigen (Unabhängige, Alternative Liste, Unabhängiges
Palästina, PFLP, der Dritte Weg) auf 13
Sitze bzw. 9,85%. Bei der Listenwahl erreichte die PFLP nur 3 Sitze bzw. 4,33
%, die Liste Mustafa Barghouti (angetreten als Liste Unabhängiges Palästina)
zwei Sitze bzw. 2,77% und das Wahlbündnis aus DFLP, PPP und FIDA 2 Sitze oder
2,98%. Es zeigt sich, dass die palästinensische Linke durch ihre
unentschlossene und uneindeutige Politik sowohl in Hinblick auf den
Oslo-Prozess, aber noch deutlicher angesichts der verschobenen
Kräfteverhältnisse innerhalb der palästinensischen Gesellschaft ihren Einfluss
als kämpfende Kraft weitgehend verspielt hat. Das Fehlen einer strategischen
Vision gegenüber dem politischen Islam, dessen Führungsrolle immer deutlicher
wurde; das Kokettieren mit einer Politik, die eher auf die israelische Linke
bzw. auf den Stil der europäischen Antiglobalisierungsbewegung ausgerichtet
war, hat die palästinensische Linke teuer bezahlt.

Nicht nach den Plänen des Westens

Der Wahlsieg der Hamas hat die Pläne des Westens, sowohl der
USA als auch Europas für eine Lösung
des Nahostkonfliktes nach ihrem Gutdünken durchkreuzt. Vorgesehen war eine
langfristige Befriedungspolitik unter einem entschlossen prowestlichen
Präsidenten, der im Wesentlichen bereit ist, im Austausch für ein paar Cent dem
politischen Druck Israels und der USA nachzugeben. Das hätte die Aufgabe der
historischen Forderungen der nationalen Befreiungsbewegung bedeutet, im
Konkreten die Aufgabe des Kampfes für einen lebensfähigen palästinensischen
Staat und eine nationale Führung an Stelle eines Marionettenregimes. Mahmoud
Abbas war der Wunschkandidat des Westens zur Durchführung dieses Plans, während
die Hamas, gemeinsam mit einer Reihe anderer palästinensischen
Befreiungsorganisationen seit Jahren auf den Listen terroristischer
Organisationen sowohl der USA als auch der EU geführt wird.

Der Wahlsieg der Hamas hat den Plan des Westens zunichte
gemacht. Der Westen hat prompt reagiert und damit ein weiteres Mal bewiesen,
dass sein Demokratieverständnis dort aufhört, wo das politische Interesse
beginnt. Nachdem jahrelang das fehlende Demokratiebewusstsein des
palästinensischen Volkes den Diskurs der westlichen Medien beherrscht hat,
denkt nun der Westen keineswegs daran, den demokratischen Willen des
palästinensischen Volkes ohne Weiteres zu akzeptieren: Das "Quartett" der
Weltmächtigen stellt als Bedingung für diplomatische Zusammenarbeit mit einer
Hamas-Regierung sowie Fortsetzung der Hilfszahlungen Forderungen, die im Grunde
darauf hinauslaufen, dass die Hamas gerade das aufgeben soll, wofür das Volk
sie gewählt hat: die Fortsetzung des Widerstandes, und zwar nicht nur des
bewaffneten, sondern auch des politischen. Denn nichts anderes ist die
Forderung nach Anerkennung des Staates Israel und nach Einhaltung der
Rahmenvorgaben des Oslo-Prozesses und der Roadmap.

Dass die Hamas auf diese Forderungen nicht eingehen kann,
versteht sich von selbst, wenn sie ihre Massenbasis nicht verlieren will. Dass
allerdings die Hamas tatsächlich die führende Stellung in der palästinensischen
politischen Arena einnimmt, daher nicht durch einen westlichen Wunschkandidaten
ersetzt werden kann, ist ebenso eine Tatsache, die so schnell nicht rückgängig
gemacht werden. Intelligente Kommentatoren im Westen raten daher den
Regierungen, eine geschickte Politik einzuleiten, die es der Hamas ermöglicht,
Kompromisse einzugehen und es dem Westen ermöglicht, die Hamas, bzw. zumindest
Teile von ihr zu integrieren.

Inwieweit die Hamas auf eine solche angedeutete
Zuckerbrot-und-Peitschen-Linie einsteigen wird, ist heute noch nicht absehbar.
Man spricht von unterschiedlichen Tendenzen innerhalb der Partei, auch wenn die
Existenz dieser nach außen hin geleugnet wird. Was sich in jedem Fall
abzeichnet, ist der Versuch der Führung eine Politik des Doppelspiels zu
betreiben: einerseits durch gewisse verbale Zugeständnisse - etwa die Formel
von der Möglichkeit eines langfristigen Waffenstillstandes - eine
Gesprächsbasis mit Israel, vor allem aber mit Europa und den USA herzustellen,
andererseits jedoch nicht auf die grundlegenden Forderungen und die Legitimität
des bewaffneten Kampfes zu verzichten um die feste Verankerung der Hamas in den
palästinensischen Massen nicht aufs Spiel zu setzen.

Widerstand ist kein Terrorismus

Mit der Wahl der Hamas hat das palästinensische Volk
deutlich gezeigt, dass es dem Druck Israels, des Westens und der eigenen
Fatah-Regierung nicht nachgeben, sondern im Gegenteil die Intifada fortsetzen
will. Diese Botschaft wurde in aller Welt verstanden. Von diesem Gesichtspunkt
aus kann es keinen Zweifel geben - egal wie fern die Hamas mit ihrem religiös-politischen
Charakter der westlichen Linken und antiimperialistischen Bewegung stehen mag,
dass der Wahlsieg der größten Widerstandsfraktion für den Fortbestand der
palästinensischen Befreiungsbewegung ein positives Zeichen bedeutet, abgesehen
davon, dass die Legitimität des souveränen Volkswillen in jedem Fall
eingefordert werden muss. Der Widerstand eines unterdrückten und militärisch
besetzten Volkes ist kein Terrorismus - das gilt es heute mehr denn je zu
verteidigen.

Margarethe Berger

6. Februar 2006