Wer sind hier die Terroristen?

08.02.2002

Editorial

Seit den jüngsten Bombenanschlägen Anfang Dezember 2001 durch palästinensische Selbstmordattentäter, die zahlreiche israelische Menschenleben gefordert haben, ist die Diskussion um Terrorismus in den westlichen Medien wieder voll entbrannt.
Dabei fällt dem scharfsichtigen Beobachter zweierlei auf: Erstens, die westlichen Medien messen, wie schon so oft, mit zweierlei Maß, bzw. ein Menschenleben ist nicht gleich ein Menschenleben, und zweitens, nur wenn die Ereignisse aus dem Zusammenhang gerissen werden, ist es möglich, die Mythen der westlichen politischen Werteskala aufrechtzuerhalten.
Gehen wir den Dingen auf den Grund. Seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000 haben 878* Palästinenser und 212 Israelis ihr Leben verloren. Von den Palästinensern waren 227 unter 18 Jahre alt, 752 Zivilisten und 480 hatten sich nicht an Demonstrationen oder anderen politischen Aktivitäten beteiligt. 423 wurden durch gezielte Schüsse in die obere Körperhälfte getötet. Sie sind also zweifellos als Opfer von terroristischen Anschlägen zu bezeichnen, oder möchte die israelische Armee behaupten, dass die gezielte Erschießung von Zivilisten tatsächlich notwendiger Bestandteil der regulären Aufstandsbekämpfung oder gar Selbstverteidigung sei?
Diese Zahlen werden in den westlichen Medien kaum oder nie erwähnt. Der Tod von fünf palästinensischen Schulkindern, der ganz offensichtlich einer der Anlässe für die Selbstmordanschläge in Israel war, wurde in den Berichterstattungen meistens mit einem Nebensatz abgehandelt. Die extrajudizialen Erschießungen von führenden Persönlichkeiten des palästinensischen Widerstandes durch die israelische Armee - wohl der Hauptgrund für die jüngsten Anschläge - werden meist kommentarlos erwähnt, ohne hinzuzufügen, dass es sich dabei um menschen- und völkerrechtswidrige Maßnahmen handelt. Und schließlich fühlt sich kaum einer der westlichen Berichterstatter bemüßigt, die Gründe der nicht enden wollenden Gewalt im Nahen Osten unter die Lupe zu nehmen. Dabei würde das doch einiges Licht in diesen angeblich so undurchsichtigen Konflikt bringen.
Ein Volk, das seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern und unter schwerster militärischer Besatzung zu leben gezwungen ist, ein Volk, das von seinem angestammten Grund und Boden vertrieben wurde und dem heute praktisch das Existenzrecht verweigert wird, ein Volk, das in größter Armut unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben hat, hat nicht nur die historische Tendenz, sondern auch das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich zu wehren. Dass diese Verteidigung, dieser Kampf um die eigene Existenz heute Formen annimmt, die nicht dazu angetan sind, unter den westlichen Beobachtern Verständnis und Sympathie zu wecken, hat damit zu tun, dass den Palästinensern offenbar kaum ein anderes Mittel mehr wirkungsvoll erscheint, um die Welt auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Nach den bitteren Erfahrungen mit der eigenen Führung, die die palästinensischen Hoffnungen in einem falschen Friedensprozess verraten und verkauft hat, nach der schmerzlichen Enttäuschung sehen zu müssen, dass sich nicht nur die westliche Welt, sondern letztlich auch die arabischen Staaten auf die Seite des Besatzers geschlagen haben, was liegt näher - und ist historisch leichter erklärbar - als zum Äußersten zu greifen und weder die eigenen Menschen, noch die Zivilbevölkerung des Gegners zu schonen.
In der gesamten Geschichte der Menschheit hat Unterdrückung immer die Tendenz aufgewiesen, Widerstand hervorzurufen. Das ist im Nahostkonflikt nicht anders. Welche Formen dieser Widerstand annimmt, hängt vor allen Dingen von den Formen und der Intensität der Unterdrückung ab. Insofern trägt die Hauptverantwortung für den Tod der israelischen Zivilisten der israelische Staat selbst.
Im Westen will das offensichtlich niemand begreifen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es ohne Gerechtigkeit niemals Frieden geben kann. Doch solange die Medien mit zweierlei Maß messen, solange ein israelischer Toter zehnmal mehr zählt als ein palästinensischer, solange die Unterdrückten als Terroristen bezeichnet werden, während die Unterdrücker von "ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen", solange wird wohl der Nahostkonflikt unverständlich und nicht enden wollend bleiben.

* Vgl. Palestine Monitor
www.palestinemonitor.org

(www.palestinemonitor.org). Die Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum vom 28. September 2000 bis 5. Dezember 2001