Massenvernichtungswaffen oder Öl: Was macht Irak so gefährlich?

22.05.2002

Interview mit Tariq Aziz, stellvertretender Premierminister des Irak

Irak ist seit elfeinhalb Jahren gravierenden UN-Sanktionen unterworfen und einer anhaltenden Aggression seitens der USA ausgesetzt. Gegenwärtig bereitet Washington einen neuerlichen Waffengang auf der arabischen Halbinsel vor. Wie bewertet der Irak das amerikanische Vorgehen?
Die USA suchen sich immer neue Vorwände, der wirkliche Grund für die Angriffe gegen den Irak wird nicht genannt. Er unterscheidet sich von dem, was die USA der internationalen Öffentlichkeit verkaufen. Der wirkliche Grund ist unsere Unabhängigkeit – der Irak ist ein unabhängiges Land, geführt von einer unabhängigen Regierung und einem unabhängigen Präsidenten. Irak ist ein reiches Land in einer reichen Region, zumindest was die Erölreserven angeht. Die USA als führendes imperialistisches Land wollen diese Region übernehmen und sie komplett unter ihren Einfluß stellen. Irak insisiert darauf, ein unabhängiger Staat zu sein, und dies ist für die Amerikaner nicht akzeptabel.
Die USA haben Ende der 80er Jahre realisiert, daß sich das internationale Mächtegleichgewicht zu ihren Gunsten zu verschieben beginnt. Wegen der allmählichen Schwäche der Sowjetunion in den 80er Jahren sahen die USA die Zeit gekommen, ihre Ambitionen zu entfalten und ihren Einfluß auszuweiten – weltweit und speziell in dieser Region mit ihren Ölreserven. 1990 war der amerikanische Traum, den Nahen Osten unter Kontrolle zu bringen, greifbarer denn je zuvor, als die Sowjetunion noch stark war und für eine Balance in den internationalen Beziehungen sorgte. Die Sowjetunion hatte enge Beziehungen zu zahlreichen Ländern in der Region und damit die amerikanischen Ambitionen beschränkt. Dies ist der wahre Grund für die Aggression 1991, die Verhängung von Sanktionen, die anhaltenden Angriffe sowie die neuerlichen Kriegsdrohungen.
Irak war im August 1990 immerhin in das Nachbarland Kuwait einmarschiert ...
Es ging schon damals nicht um Kuwait. Kuwait kommt in diesem Konflikt erst an zweiter, dritter oder vierter Stelle. Das Kuwait-Problem hätte im arabischen Kontext gelöst werden können. Der Irak hatte sich während des US-Krieges, noch vor dem Waffenstillstand, aus Kuwait zurückgezogen. Kuwait ist wieder eine proamerikanische Entität, während die Sanktionen sowie die Kriegsdrohungen gegen Irak weiter andauern. Es geht nicht um Kuwait, es geht um Öl.
Ich möchte Ihnen eine realistische Geschichte erzählen: 1996 war die Situation im Norden Iraks wirklich schwierig. Es gab eine umfassende iranische Intervention, und in Arbil war eine große Zahl amerikanischer Spione. Einer der beiden großen kurdischen Führer der Region, Masud Barzani, bat die irakische Führung um Hilfe, um jeden, der nicht Iraker war, aus dem Land hinauszuwerfen. Wir haben irakische Truppen, Einheiten der Republikanischen Garde, nach Arbil geschickt. Es war eine militärische Operation. All die von mir genannten Elemente mußten die Stadt schließlich verlassen. Nach Beendigung des Jobs kehrten unsere Truppen in ihre Stützpunkte zurück. Wir sind nicht dort geblieben. Wir haben dem kurdischen Führer Barzani die Kontrolle überlassen, obwohl er sich nicht der Regierung unterstellte und dies auch heute nicht tut.
Die Amerikaner haben eine Aggression gegen Irak im Süden gestartet. Nicht im Norden, wo sich die von mir geschilderten Ereignisse abgespielt haben. Wiederholt haben sie diesen Teil des Landes mit Raketen und Kampfflugzeugen angegriffen. Es war eine große Krise. Die Menschen haben diskutiert, was nun gut und was schlecht ist.
Ich habe an einem der Abende CNN geschaut. Zwei Abgeordnete des US-Kongresses sprachen in dem Sender. Sie erklärten, UN-Resolutionen würden es den USA erlauben, in solch einer Situation im Irak zu intervenieren. Die irakische Regierung habe der Resolution 688 zufolge nicht das Recht, Truppen in den Norden des Landes zu entsenden. Natürlich war dies falsch. Ich habe mit dem CNN-Korrespondenten in Bagdad gesprochen und darum gebeten, mich an der Diskussion beteiligen zu dürfen. Innerhalb weniger Minuten hat er das auch arrangiert. Ich erklärte, daß diese Resolution es Amerika nicht erlaube, im Irak zu intervenieren. Auch verbiete diese Resolution es Irak nicht, Truppen in den Norden des Landes zu entsenden. Er ist immerhin Teil des Irak. Wir hätten vor dem Einsatz von Gewalt zurückgeschreckt und das Problem auf friedliche Art und Weise beilegen wollen. Doch wenn es eine Notwendigkeit auf Intervention gebe, dann hätten wir ein Recht, dies zu tun und die Bevölkerung im Norden unseres Landes zu schützen. Sie haben meiner Darstellung widersprochen und so sagte ich: Die Sache ist sehr einfach, Resolution 688 ist nur eine Seite lang. Wenn Sie kein Exemplar zur Hand haben, faxe ich Ihnen rasch eine Kopie. Lesen Sie den Text, CNN kann ihn auf dem Bildschirm zeigen. Er ist einfach gehalten und leicht verständlich. Jeder kann sehen, ob ich mit meiner Argumentation richtig liege oder nicht.
Dann schaltete CNN zur Pressekonferenz ins Pentagon. Dort sprach US-Verteidigungsminister William Cohen. Der CNN-Korrespondent im Pentagon fragte, haben Sie gehört, was Tariq Aziz sagte, daß die Resolution 688 die USA nicht zum Einsatz von Gewalt ermächtigt, aber Irak das Recht hat, Truppen nach Arbil zu schicken? Cohen antwortete: "Schauen Sie, es geht hier nicht um Arbil, es geht hier um Öl."
Von Anfang an bis heute ging es immer nur um Öl. Die Amerikaner wollen die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Rahmenbedingungen der gesamten Region ihren imperialistischen Interessen entsprechend diktieren. Die USA könnten Öl kaufen, auch vom Irak. Wir wären bereit, es ihnen zu verkaufen, so wie wir immer bereit waren, es auf den internationalen Märkten zu verkaufen. Amerika ist einer der großen Konsumenten in diesem Geschäft. Wir wollen die USA nicht daran hindern, Öl vom Irak oder von irgendeinem anderen Land zu kaufen, allerdings zu unseren, zu gerechten Bedingungen. Wir wollen unser Öl verkaufen und den Erlös in unserem Land unseren eigenen Entscheidungen entsprechend verwenden. Nicht nach amerikanischen Vorgaben. Das ist die ganze Geschichte.
Kernpunkt der Auseinandersetzungen im Nahen Osten und im Irak ist der Kampf gegen den Imperialismus – und gegen den Zionismus. Der Zionismus und Israel als zionistischer Staat sind hundertprozentige Verbündete des Imperialismus. Sie ermöglichen den anhaltenden Kolonialismus in unserer Region.
Weil Irak stärker wurde und unabhängig war, von der Würde und Freiheit und Einheit der arabischen Nation sprach, sah sich Israel bedroht. Israel will eine schwache arabische Region und Amerika die Kontrolle über die gesamte Ölregion. Das ist der Kernpunkt der ganzen Sache, nicht Kuwait.
Nichtsdestotrotz warnt Washington davor, Irak könnte Massenvernichtungswaffen besitzen oder produzieren.
Es geht nicht um sogenannte Massenvernichtungswaffen. Siebeneinhalb Jahre lang haben UN-Inspektoren im Irak gearbeitet. Sie unterstanden zwar den Vereinten Nationen, in Wirklichkeit waren die meisten von ihnen aber proamerikanische und probritische Spione. Sie haben jeden noch so kleinen Teil dieser Waffen zerstört, sowie Fabrikanlagen, die zu deren Herstellung geeignet waren. Als wir die Inspektoren am Ende dieser siebeneinhalb Jahre darum baten, für den UN-Sicherheitsrat einen Bericht zu verfassen und zu bestätigen, daß sie ihren Job getan haben, hieß es: Nein, sorry, wir brauchen weitere Verifikationen. In den siebeneinhalb Jahren hatte es Tausende von Inspektionen geben, Tausende Verhöre, Waffen, Fabriken und Anlagen waren komplett zerstört worden, und am Ende sagten sie, tut uns leid, wir brauchen weitere Überprüfungen. Das heißt nichts anderes, als daß sie hierbleiben und den Irak weiter ausspionieren wollen. Sie wollen im Irak jede technische und wissenschaftliche Entwicklung verhindern. Und weil die Waffeninspektoren dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen keinen Bericht über das Ende ihrer Mission vorlegten, bleiben die Sanktionen in Kraft.
Sehen Sie Möglichkeiten, die drohende US-Aggression zu stoppen?
Wir sind Optimisten. Die antiimperialistische und Antiglobalisierungsbewegung in Europa und weltweit wächst. Das ist ein sehr positives Zeichen. Nicht nur Irak ist Opfer einer Aggression. Auch die Menschen in den USA und in Europa sind Opfer der imperialistischen Politik ihrer Regierungen. Statt nach den Ursachen zu fragen, die zum 11. September geführt haben, hat die US-Administration eine militaristische Haltung eingenommen. Bush hat den Haushalt des Pentagons vergrößert, Milliarden über Milliarden Dollar fließen in die Rüstung. Gleichzeitig leiden die einfachen Menschen in den USA unter den Kürzungen und Streichungen im Gesundheitssektor, im Erziehungswesen und weiteren sozialen Bereichen. Statt den Überschuß des amerikanischen Budgets für die Schaffung neuer Jobs für die Arbeitslosen und den Bau von Häusern für die Obdachlosen zu verwenden, fließt das Geld ins Verteidigungsministerium. Der einfache amerikanische Bürger hat nichts von dieser Politik. Die einzigen, die davon profitieren, sind die Eigentümer des militärisch-industriellen Komplexes, die Millionäre und Milliardäre der USA, denen die Rüstungsfabriken gehören. Für teures Geld verkaufen sie ihre Waffen, die dann gegen uns, gegen die Menschen in Afghanistan, gegen die Menschen in Palästina und in anderen Ländern gerichtet werden.
Es ist notwendig, in den USA und in Europa eine Bildungskampagne zu starten. Man muß den Menschen klar machen, daß sich die Politik ihrer Regierungen gegenüber Irak, Palästina und Afghanistan in Wirklichkeit gegen sie selbst, gegen ihre Entwicklung und ihre Interessen richtet. Ich bin optimistisch, die gegenwärtige internationale Bewegung hat schon große Fortschritte gemacht. Ich weiß, es ist noch nicht ausreichend, aber die Demonstrationen in den verschiedenen europäischen Städten gegen die Treffen der Globalisierer waren ein wichtiges, ein wirklich wichtiges Signal: Selbst in den USA und in Europa sind die Menschen gegen die sogenannte Neue Weltordnung und die kriminelle Globalisierung. Ich hoffe, daß diese Bewegung ihre Ziele erreicht.
Irak wurde seit 1991 systematisch zwangsabgerüstet, zunächst während des US-Krieges, dann mittels der UN-Waffeninspektoren. Gleichzeitig wurden die Nachbarländer in der Region massiv aufgerüstet. Kann Ihr Land einer neuerlichen Aggression überhaupt noch widerstehen? Von wem unterhalten Sie Unterstützung?
Auf dem Gipfel der Arabischen Liga in Beirut wurde sehr deutlich: Die arabischen Länder lehnen einvernehmlich eine militärische Aggression gegen den Irak ab. Ebenso die Fortführung der Sanktionen. Dies ist die vorherrschende Stimmung in der arabischen Welt.
In der vergangenen Woche hatte ich ein Treffen mit Vertretern der russischen Kirche. Wir unterhielten uns darüber, wie Rußland Irak helfen kann. Meine Gesprächspartner versicherten mir, daß die russische Bevölkerung die Aggression gegen Irak sowie das Embargo ablehnt. In Europa haben zahlreiche Regierungen ihre Beunruhigung angesichts der amerikanischen Politik im allgemeinen sowie den Plänen neuerlicher Angriffe gegen den Irak zum Ausdruck gebracht.
Ich hatte die Erhöhung des Militärhaushaltes in den USA erwähnt. Früher oder später werden die europäischen Regierungen unter Druck gesetzt werden, mehr Geld für die sogenannte Verteidigung auszugeben. Dies wird zu ernsten sozialen Problemen auch in Europa führen. Geld ist Geld. Wenn ich den größten Teil in den Militärsektor stecke, fehlt es im Gesundheitssektor, im Erziehungsbereich und so weiter. Die europäischen Regierungen wissen das nur zu gut. Und sie wissen, am Ende müssen sie sich wieder den Wählern stellen.
Das macht es für eine Antikriegskampagne in Europa aber auch einfacher: Der Krieg gegen Irak ist nicht nur moralisch falsch und völkerrechtswidrig, er wird auch direkten Einfluß auf den einfachen Bürger haben, weil die Gelder, die für die Verteidigung – sprich: Offensive – ausgegeben werden, in anderen Bereichen fehlen werden. Demonstrationen und Proteste stoppen zwar nicht die proamerikanische Entscheidung der europäischen Regierungen, aber sie können es doch sehr schwer für sie machen.
Ich sage es wieder und wieder: Wir sind optimistisch. Der Imperialismus ist stark, doch am Ende unseres Kampfes werden wir einen Sieg davontragen.

Rüdiger Göbel, junge Welt, 2. April 2002