Bürgerkrieg in Palästina - hat Israel sein Ziel erreicht?

26.01.2007

Leitartikel, Intifada Nr. 23

Die bürgerkriegsähnliche Situation, die den palästinensischen Alltag in den letzten Wochen und Monaten prägt, hat es in dieser Form seit der Vertreibung der Palästinenser und der israelischen Staatsgründung im Jahr 1948 noch nie gegeben. Die nationale Einheit im Kampf gegen die israelische Besatzung über alle politische Differenzen hinweg hat das Rückgrat dieses seit sechzig Jahren im permanenten Widerstand lebenden Volkes ausgemacht. "Teile und herrsche" ist seit den Römern das größte Erfolgsrezept jeder imperialen und kolonialen Macht im Kampf gegen Widerstand - nun scheint auch Israel, mit tatkräftiger Unterstützung des Westens, in der Umsetzung dieses Leitspruchs einen Schritt weiter gekommen zu sein.

Die Kämpfe zwischen den beiden größten politischen Strömungen in Palästina, der Fatah und der Hamas, die in den letzten Wochen zur Tötung zahlreicher Personen, unter ihnen einiger Spitzenfunktionäre auf beiden Seiten, geführt haben, zeigen deutlich den Endpunkt einer politische Entwicklung, die vor Jahrzehnten begonnen hat. Die Fatah, einst wichtigste Strömung des palästinensischen Widerstands und der PLO, ist nun endgültig zum Handlanger der israelischen und US-amerikanischen Politik im Nahen Osten geworden. Die Führung des palästinensischen Widerstandes liegt dagegen zweifellos in den Händen der Hamas.

Rollentausch

War unter Arafat das Abrücken von den Prinzipien des nationalen Befreiungskampfes und die Annäherung an eine Linie des Kompromisses mit Israel schon deutlich sichtbar, so hat damals die Fatah durchaus noch in vielen Aspekten den Widerstand als grundlegendes Recht und politische Existenzsicherung des palästinensischen Volkes hochgehalten, zumindest rhetorisch und durch die zahlreichen Tendenzen, die innerhalb der Fatah koexistierten. Abbas hat hingegen sowohl als Premierminister und noch deutlicher als Präsident gezeigt, dass er der Wunschkandidat Israels und der USA an der Spitze des palästinensische Volkes ist. Wenn Arafat noch an den historischen Prozess gebunden war, der ihm seine Symbolik und seine Legitimität in der Führung verschafft hatte, ist Abbas der Sohn des Oslo-Prozesses, dessen "Ingenieur" er war. Seine Politik war von der grundlegenden Bereitschaft gekennzeichnet, die historischen Forderungen der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung, das Streben nach Souveränität in einem lebensfähigen und unabhängigen Palästina, aufzugeben und stattdessen einen Kompromiss zu akzeptieren, der letztendlich nur Israel und den geostrategischen Interessen der USA in diesem Raum nützt. Im Herbst 2005 schien es, als ob die zweite Intifada und mit ihr der Widerstandskampf des palästinensischen Volkes fürs erste beendet wäre.

Überraschend für alle, auch für die Hamas selbst, hat das palästinensische Volk im Januar 2006 jedoch an den Wahlurnen gezeigt, dass es nicht bereit war, Jahrzehnte der Besatzung, Gewalt und Entbehrungen umsonst durchlebt zu haben. Der Wahlsieg der Hamas war in erster Linie ein deutliches politisches Signal dafür, dass die Bevölkerung, wenn auch des Krieges auf niedriger Intensität müde, durchaus gewillt war, den Kampf auf politischer Ebene weiterzuführen. Es war daher durchaus nicht die religiöse Ausrichtung der Hamas, die ihr die Mehrheit der Stimmen einbrachte, sondern schlicht die Tatsache, dass sie bereit war, eine Linie des konsequenten Widerstands Widerstandslinie weiter zu verfolgen und die faulen Kompromisse, die der palästinensischen Führung von Israel und dem Westen aufgedrängt wurden, nicht anzunehmen.

Der demokratische Wille der Palästinenserinnen und Palästinenser wurde jedoch im Westen nicht anerkennt. Die Politik der USA und der EU legten den Grundstein für den Bürgerkrieg in Ansätzen, der Mitte des Jahres 2006 begann und sich seit dem deutlich zugespitzt hat.

Westen mitverantwortlich für den Bürgerkrieg

Die Nicht-Anerkennung der demokratisch gewählten Regierung durch die USA und EU, die völkerrechtlich widersinnige Forderung nach einer Anerkennung des Staates Israel und nach Einstellung der Gewalt (ohne dasselbe von Israel zu fordern) als Bedingung für die Auszahlung der vereinbarten Hilfsgelder, das Einfrieren palästinensischer Bankkonten bzw. das Sperren von Banken für die palästinensische Regierung und letztlich die offen ausgesprochene politische Unterstützung für Abbas legten die Basis für die Situation extremer interner Spannungen, die zum Bürgerkrieg tendieren. Ohne die versprochenen Geldmittel war es der Hamas-Regierung unmöglich einerseits das Reformprogramm umzusetzen, das sie der Bevölkerung in Aussicht gestellt hatte, andererseits die Gehälter der Beamten der unter der Fatah-Regierung aufgeblähten Palästinensischen Autonomiebehörde PNA auszubezahlen. Daneben wurden Geldmittel an der Regierung vorbeigeschleust. Die EU rühmt sich etwa die palästinensische Bevölkerung unter Umgehung der zentralen Verwaltung direkt über lokale Strukturen bzw. NGOs unterstützt zu haben. Die USA überwiesen immer wieder beträchtliche Summe direkt an die Fatah bzw. an Abbas zur Aufstockung und Aufrüstung der Präsidentengarde.

Die israelische Politik der Gewalteskalation - die Wiederbesetzung des Gazastreifens, die Luftangriffe, Häuserzerstörungen, Tötungen, die Situation der verschärften Notlage, Mangel an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Energie in den besetzten Gebieten, allen voran im Gazastreifen, die Verhaftung und Tötung zahlreicher Vertreter der Hamas - zermürbte die palästinensische Bevölkerung. In dieser Situation war es ein leichtes Spiel für die Fatah den ihrer eigenen Partei nahe stehenden Beamtenapparat der PNA sowie der Polizei gegen die Hamas-Regierung aufzuhetzen und die Situation zum Eskalieren zu bringen.

Widerstand und Kompromiss

Sprechen die westlichen Medien die Verantwortung für die Gewalt zwischen Fatah- und Hamas-Kämpfern im Grunde der Hamas zu, sieht die Realität anders aus. Während sich die Hamas seit Monaten um einen Ausgleich mit der Fatah und die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit bemüht, machte die Fatah der Hamas von Anfang an das Regieren so schwer wie möglich und benützte ihren Zugang zu finanziellen Ressourcen als Druckmittel. Die Kompetenzen, die Abbas in seiner Zeit als Premierminister für diese Funktion bzw. andere Regierungsmitglieder dem Präsidentenamt, das damals Arafat innehatte, abgetrotzt hatte, wurden, als der Wahlsieg der Hamas klar war, wieder dem Präsidenten übertragen. Beispielsweise fällt das palästinensische Fernsehen nicht in den Kompetenzbereich des Medienministeriums, sondern in den des Präsidenten. Der Grenzübergang Rafah fällt nicht in die Zuständigkeit des Innenministeriums, sondern in jene der Präsidentengarde.

Spätestens mit der Forderung nach Neuwahlen war jedoch deutlich erkennbar, wohin die Politik der Fatah führen sollte: Es ging nicht darum, ernsthaft an der Bildung der Regierung einer nationalen Einheit zu arbeiten, sondern vielmehr die Zermürbung der Bevölkerung dazu auszunützen, die Macht wieder an sich zu reißen und sie mit Unterstützung der USA und EU zu halten.

Demgegenüber versucht die Hamas eher, der Fatah alle Türen zu einer Einigung offen zu halten. Zu einer offenen Konfrontation scheint sie noch nicht bereit zu sein, sie reagiert jedoch auf die Eskalation der Gewalt ebenfalls mit Gewalt. Die Fatah-dominierten Sicherheitsapparate weigern sich, die Befehle des Inenministerium zu befolgen. Dies veranlasste die Regierung, eine eigene Truppe des Innenministeriums zu formieren, die weitgehend aus Hamas-Mitgliedern zusammengesetzt ist.

Es zeigt sich, dass die Hamas tatsächlich und nicht nur aus taktischen Überlegungen an einer Regierung der nationalen Einheit interessiert ist. Das lange Zögern, als es darum ging, alleine die Regierung zu stellen, hat mit dazu beigetragen, dass die Situation eskalieren konnte. Hier zeigt sich das Dilemma der Hamas, die einerseits aufgrund des Drucks ihrer Basis den Widerstand gegen Israel nicht aufgeben kann, andererseits jedoch unter den derzeitigen Kräfteverhältnissen nicht in der Lage ist, eine radikale Änderung in der politischen Konstellation herbeizuführen, was aber für ein tatsächliches Widerstandsprogramm notwendig wäre. Daraus erklärt sich das Interesse der Hamas an einer Regierung der nationalen Einheit, die es ihr ermöglichen würde, der Fatah die unrühmliche Rolle des Verhandlungspartners mit Israel und dem Westen zuzuschreiben, während sie selbst nach innen die verdienstvollere Aufgabe der Weiterführung des Widerstandes innehaben könnte. Eine so zusammengezimmerte Kompromissregierung hätte die Möglichkeit, einerseits die Isolation zu durchbrechen und wieder an Geldzahlungen heranzukommen, andererseits jedoch die palästinensischen Forderungen nicht vollkommen aufgeben zu müssen. Offen bleibt jedoch, ob eine solche Regierung keinen weiteren Erpressungen seitens Israels und der USA/EU ausgesetzt wäre.

Unrühmlich in diesem Spiel ist auch die Rolle der palästinensischen Linken, die seit dem Wahlsieg der Hamas nie klar Stellung bezogen hat. In den letzten Wochen der inner-palästinensischen Eskalation hat die PFLP sich auf einige wenige Demonstrationen gegen den Bürgerkrieg beschränkt um letztlich in der völligen Tatenlosigkeit zu versinken. Rhetorische Aufrufe zum nationalen Dialog können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verbindungen zur Fatah zu stark sind, um tatsächlich Seite zu beziehen und den offenen Verrat der Fatah am palästinensischen Befreiungskampf zu benennen.

Angesichts der Ausweglosigkeit macht sich unter der Bevölkerung Resignation breit. Die Forderung nach Neuwahlen bietet keine Perspektive, denn eine Fatah-Regierung würde die Rückkehr zum Status Quo bedeuten. Da jedoch auch die Hamas in der gegebenen Situation nicht zur Umsetzung der der versprochenen Reformen in der Lage ist, scheint für die Mehrheit der Bevölkerung die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit die einzige Lösung darzustellen.

Offene Konfrontation oder Rückzug der Hamas

Die zukünftige Entwicklung in Palästina scheint mehrere Szenarien möglich zu machen. Die Fatah-Elite wird kaum von ihrer Linie, die Macht auch über palästinensische Leichen hinweg wieder erlangen zu wollen, abrücken - so wollen es auch ihre Hintermänner in Washington. Eine Regierung der nationalen Einheit wird daher nur um den Preis einer politischen und militärischen Schwächung der Hamas möglich sein.

Falls die Hamas dazu nicht bereit ist, kann es sein, dass sich die derzeitige Situation eines noch relativ limitierten bzw. kontrollierten Konfliktes zwischen den beiden Strömungen fortsetzt, was vor allem den Interessen Israels nützen würde. Die dritte Möglichkeit wäre die einer offenen Konfrontation mit dem Ziel der Ausschaltung der anderen Konfliktpartei. Während die Fatah vor allem aus militärischen Gründen dazu nicht in der Lage scheint - ihre bezahlten Militanten verfügen über weit weniger Durchhaltevermögen und Kampfgeist als jene der Hamas - und zumindest im Gazastreifen der Ausgang zugunsten der Hamas gesichert wäre, ist für die Hamas sowohl das politische als auch militärische Risiko zu groß. Eine solche Konfrontation müsste auf politischer Ebene die Auflösung der PNA, die Durchsetzuung einer großangelegten Reform der PLO und die Umsetzung eines Programms des Widerstandes beinhalten, was unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen in Palästina und im gesamten arabischen Raum mehr als unwahrscheinlich erscheint.

Vor diesem Hintergrund bestätigt sich erneut die traurige Wahrheit, dass Palästina zwar das symbolische Herz des Widerstandes der arabischen und islamischen Völker ist, jedoch die Befreiungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen des palästinensischen Volkes in höchstem Maße von der politischen Konjunktur der es umgebenden Länder abhängig sind.

Die jüngsten Entwicklungen in Palästina verdeutlichen aus einer regionalen Perspektive die Polarisierung der politischen Kräfteverhältnisse mit einem Lager, das den Kompromiss mit Israel und den USA sucht, und einem anderen, das versucht, den Widerstand und die Prinzipien der nationalen Souveränität aufrechtzuerhalten. Zählen manche Staaten als solche zum einen oder anderen Lager (wie etwa Syrien und Iran zum Widerstandslager, während Ägypten, Jordanien oder Saudi Arabien wichtige Verbündete der USA sind), die Lage im Irak um einiges komplexer ist, zieht sich im Libanon und in Palästina die Polarisierung durch die innenpolitische Landschaft. Im Libanon zählt die Koalition der Kräfte rund um die Regierung von Siniora zum pro-westlichen Lager, während das Widerstandslager aus dem Bündnis von Hizbullah, der Strömung um Aoun und den Resten der Linken gebildet wird. In Palästina ist diese deutliche Polarisierung eine Entwicklung, die erst mit dem gegenwärtigen Bürgerkrieg ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Traurige Ironie der Geschichte, dass die ehemalige Führung des palästinensischen Widerstandes, die Fatah, die einst mit Gewalt von der pro-westlichen Elite 1970 aus Jordanien und 1982 aus dem Libanon vertrieben wurde, nun in Palästina das pro-westliche Lager, das eindeutig und unzweifelhaft mit der Perspektive des Widerstands gebrochen hat, bildet.

Margarethe Berger
13. Januar 2007

Margarete Berger ist Mitglied der Intifada-Redaktion.