Noah Ibrahim und das palästinensische Volkslied

12.01.2003

Am 24. Oktober gedenken die Palästinenser des 64sten Todestages des palästinensischen Dichters und Sängers Noah Ibrahim, der zu Recht als Vater des palästinensischen sozialen und nationalen Liedes im 20sten Jahrhundert gilt. Ibrahim ist neben Abdulrahim Mahmoud eine der wichtigsten historischen Figuren der arabisch-palästinensischen Bewegung vor 1948, da die beiden Dichter das Wort mit der Tat kombinierten und selbst am Kampf gegen die englische Besatzung und die zionistische Invasion teilnahmen und sich nicht mit Agitation begnügten. Noah Ibrahim fiel am 24. Oktober 1938 einem englischen Luftangriff zum Opfer, während Abdulrahim Mahmoud im April 1948 bei der Verteidigung des Dorfes Schajara in Galiläa getötet wurde.

Ibrahim wurde im Jahr 1913 in Haifa geboren, wo er die Hauptschule besuchte. Er arbeitete danach in einer Druckerei, wo er seine ersten Lieder bei Festen, Arbeiterversammlungen und Pfadfinderklubs vorsang. Er schloss sich dem Club moslemischer Jugend in Haifa, der von Izzidin al-Qassam gegründet und geführt wurde, an. Al-Qassam selbst sollte einige Jahre danach die erste bewaffnete Widerstandsorganisation gründen und 1935 bei einem Gefecht mit der englischen Armee fallen. Al-Qassams Tod war der wichtigste Auslöser des ersten palästinensischen Aufstand (1936 – 1939). Der Kontakt mit al-Qassam führte zu einer raschen Politisierung des jungen Ibrahim. Er wurde zum Hauptmedium der Bewegung und zog von Dorf zu Dorf, sang bei Hochzeiten und Dorfversammlungen, die Massen zum Aufstand einladend. Seine Lieder erschienen auch als Schallplatten, die in den Kaffeehäuser der Städte vorgespielt wurden, bevor sie verboten wurden und Ibrahim auf der Liste der von den Engländern gesuchten Personen stand. Im Oktober 1938 wurde seine Gruppe beim Abzug von englischen Flugzeugen bombardiert. Er starb gemeinsam mit Izziddin Khalayleh und Mohammad Qabalawi (die ebenfalls als Hauptfiguren der Bewegung von 36 – 39 gelten) in der Nähe des Dorfes Tamra in Galiläa. Die englischen Soldaten brachten die Körper nachts zum Dorf und warfen sie in einen Brunnen. Sie wurden erst Tage danach durch einen Zufall von den Dorfbewohnern entdeckt und begraben.

Noah Ibrahim gilt als der Erneuerer des palästinensischen Volkslied und als der erste, der dem Volkslied einen neuen, dem Zeitgeist passenden Inhalt gab. Die Volksmusik in Palästina wird im Allgemeinen trotz ihrer spezifischen regionalen Elemente der Kategorie des syrischen Volkslieds zugerechnet, wobei das historische Syrien (al-Scham) das heutigen Syrien, den Libanon, Jordanien und Palästina umfasste. Es gibt keine genauen Angaben über die Entstehung dieser Musik, jedoch gilt sie als Produkt eines historischen Prozesses, der seinen Beginn bereits in den ersten Zivilisationen in der Region hat sich über die arabisch-islamischen Zivilisation, die türkischen Herrschaft hinaus bis hin zur heutigen Zeit erstreckt. Es wird in den regionalen Dialekten gesungen, jedoch gilt eine fast einheitliche Einteilung der Lieder in den jeweiligen Anlässen entsprechende Kategorien. Die Melodien blieben musikalisch einfach, da es mehr auf das Text ankommt. Die benützten Instrumente sind die Tabla (Trommel), Schabbaba (Hirtenflöte), Yargol (Doppelflöte), Rababa (eine altertümliche Form der Geige) und Oud (die arabische Laute). Nach der englischen Besatzung wurde auch der schottische Dudelsack in die Volksmusik der Region integriert. Die Themen der Texte beschrieben das Alltagleben der Bauer und Beduinen. So hatte jedes Dorf und jeder Beduinenstamm seinen Sänger/Dichter, der zu den verschiedenen Anlässen auftrat und die Gemeinschaft in Konkurrenz mit der Nachbarschaft vertrat. Das Volkslied und das Volksgedicht (Sadschal) galten als das Hauptmedium am Land und spielte eine wichtige Rolle in der Dokumentation und Übertragung des Alltagsleben und der Geschichte. In der Zeit der Widerstandsbewegung war das Volkslied das Hauptagitationsinstrument und hatte durch seine einfachen – jedoch inhaltsstarken - Wörter uneingeschränkten Einfluss.
Das älteste bekannte Lied von Ibrahim beschreibt die Hinrichtung und den heldenhafte Tod von drei Arabern, die nach den Zusammenstößen des Jahres 1929 von den Engländern zu Tode verurteilt wurden. Die im Gefängnis von Akko stattgefundene Hinrichtung war die erste seit Beginn der englischen Besatzung und hinterließ einen großen Schock in der Bevölkerung. Die Namen von Mohammad Jamjoum, Fuad Hidschazi und Atta el-Sier wurden in der palästinensischen Geschichte verewigt. Das Lied über die drei wird bis heute gesungen. Ihr heldenhafter Tod blieb für Generationen eine Inspiration und erhielt Vorbildfunktion. Ibrahim schrieb anlässlich der Gründung der Gewerkschaft der Arbeiter Palästinas auch das erste bekannte palästinensische Arbeiterlied. Es lautet:

Der arabisch palästinensische Arbeiter in Dorf und Stadt
Reißt die Dornen der Ausbeutung aus, pflanzt seine Herzen und schützt uns

Der Arbeiter gründete eine Gewerkschaft, eine arabische palästinensische,
Die die Interessen der Arbeiter schützt und das Joch der Sklaverei brechen wird

Später dokumentierte Ibrahim die Qassam-Bewegung und ihren Einfluss auf die arabische Öffentlichkeit in Palästina. Da die Qassam-Bewegung hauptsächlich eine Untergrundbewegung war und alle Studien auf Erzählungen seiner Mitgefährten und Augenzeugen beruhen, gelten Ibrahims Gedichte und Lieder als eine sehr wichtige Quelle der Dokumentation über die Bewegung. Ferner berichten die Lieder über den historischen Generalstreik (Mai bis November 1936) und den Aufstand (1936 – 1938). Sie zeichnen ein Bild von der Teilnahme der einfachen Bauer, die ihr Hab und Gut verkauften, um ein Gewehr kaufen zu können; von der englischen Repression, Folter und Hinrichtungen; dem Verrat der arabischen Könige. Der Tod Ibrahims im Kampf verlieh seinen Texte noch mehr Schärfe und Authentizität.
Seine Lieder wurden in den Flüchtlingslagern von der Generation der Vertriebenen zur nächsten Generation übertragen. Sie haben ihre Funktion bis heute erhalten.

Am bekanntesten sind das Trauerlied über Izziddin el-Qassam (am 20. November 1935 gesungen):

Izziddin, was für ein Verlust
Du starbst für deine Nation
Du opfertest dein Geld und Leben
Für die Unabhängigkeit deines Landes
Zum Paradies, oh Izziddin
Dein Tod ist eine Lehre für uns alle

Über den Aufstand von 1936:

Brenn weiter oh Feuer der Revolution und beleuchte das Haus
Eine Glut zündet die nächste und das Feuer wird höher
Wir kommen aus den Massen der Armen und dem Pflug des Bauers
Hoben das Banner der Freiheit und wurden zu Revolutionären

Über den Streik der Hafenarbeiter von Jaffa (19. April 1936):

Es leben die Männer der Marine
Ob Moslems oder Christen
Die tapferen Arbeiter von Jaffa
Mit dem starken Willen
Tapferkeit ist ihr einziges Kapital
Würde ist ihr Prinzip

Und ein modifiziertes Hochzeitslied:

Unsere Bräutigame sind die schönsten Männer
Die schönsten Männer sind unsere Bräutigame
Die erste Hochzeit ist für unsere Lieben
Und die zweite ist der Sieg unserer Heimat

Ali Nasser